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Politik und Moral

Hello, Freunde des Bankrotts,

Zeit, offiziellen Bankrott anzumelden. Damit wir den unterirdisch schleichenden, lang hinziehenden, unaufrichtigen Bankrott beenden, dem wir uns schon lange mit wachsender Leidenschaft hingeben. Wir müssen von vorne beginnen – obwohl wir nicht wirklich von vorne beginnen können.

Wir sind keine unbeschriebenen Blätter. Erst müssen wir die vielen, verworrenen Schriften entziffern, mit denen wir unsere Biografien imprägniert haben. Von vorne beginnen, heißt, Abstand zu uns gewinnen und uns betrachten, als seien wir Fremde. Wir müssen unsere Biografien lesen lernen.

Dem totalen Bankrott können wir nur entgehen, wenn wir geregelte Insolvenz anmelden. Haben wir versagt? Ja. Sind wir geborene, ewig zum Bankrott verurteilte Versager? Nein. Wir können lernen. Das müssen wir auch.

Lernen ist ein Akt des Unterscheidens: was haben wir richtig gemacht und was falsch? Am Richtigen müssen wir festhalten, das Falsche müssen wir korrigieren. Lernen durch Versuch und Irrtum – dieser Ausdruck ist spurlos verschwunden. Wenn es nichts Richtiges und Falsches gibt, kann das Richtige nicht festgehalten, das Falsche nicht gemieden werden.

Das Elend beginnt dort, wo die Unterscheidung zwischen richtig und falsch als intolerante Dogmatik verurteilt wird: das ist der Sitz der Fäulnis.

Woher kommt die Abscheu vor der Wahrheit? Es ist noch immer die Rebellion gegen das Göttliche, das sich als untrügliche Wahrheit in Furcht und Schrecken darstellt. Die Abendländer, die keine Probleme haben, sich

Gläubige einer Erlösungsreligion zu nennen, hassen in ihrer tiefsten Seele das Gute und Wahre als göttliches Gebot, gegen das aufzulehnen sie die ewige Seligkeit kosten soll.

Die Leugner der Moral und der Wahrheit wollen selbstbewusste Menschen sein, die sich von keiner autoritären Institution bestimmen lassen. Das ist eine löbliche, aber unvollendete, in der Mitte eingeknickte Zuversicht in die menschliche Selbstbestimmung. Sie schütten das Kind mit dem Bade aus. Ihre Abneigung gegen Denk- und Moralvorschriften ist so gigantisch, dass sie gegen Moral und Denken überhaupt rebellieren.

Bei Kant könnten sie nachlesen, dass sie mit dem eigenen Kopf denken, nicht das Denken aus Widerwillen gegen Bevormundung einstellen sollten. Sie sollen sich nicht nur ihres eigenen Verstandes bedienen, sie können es auch. Indem sie lernen.

In ihren klerikalen Kitas haben sie es nicht gelernt, in ihren von Beamten regierten Schulen haben sie es nicht gelernt. Nicht bei ihren Eltern, nicht im Sportverein, nicht in ihren Universitäten, schon gar nicht in ihren Berufen und überhaupt nicht beim Hochklettern auf der Karriereleiter.

Die Eliten wollen immer die Besten, das sind die Unterwürfigsten, die problemlos funktionieren und am wenigsten ihr Großhirn einschalten. Alle sind geschädigt von der diktatorischen Fremdbestimmung, die sie mit raumgreifender Handbewegung vom Tisch wischen – dass nicht die kleinste Moral, nicht der Hauch der Wahrheit übrigbleiben.

Philosophen, die andere Menschen von ihrer Meinung überzeugen wollen, sind für einen Schweizer Philosophen ein Gräuel. Zu den guten Philosophen, die niemanden überzeugen wollten, zählt er ausgerechnet Sokrates, der nichts lieber tat, als sich auf dem Marktplatz herumzutreiben und alle Leute anzumachen, ob sie wüssten, was sie tun und wenn sie es wissen, ob es rechtens sei. Von dieser Überprüfungsmethode wollte er alle Menschen überzeugen. Besonders diejenigen, die gute Demokraten sein wollten.

Ohne streitbare und nachdenkliche Demokraten könne es keine gute Demokratie geben, davon war Sokrates felsenfest überzeugt. Seine Philosophie war kein Geschwätz zum Lobe Gottes, sondern sollte den Verfall der Demokratie stoppen. Die Menschen wollte er überzeugen, nicht, indem er ihnen – wie gewisse Kleriker – das Richtige mit der Macht allwissender und allmächtiger Autoritäten einreiben wollte, sondern so, dass jeder im streitenden Nachdenken zu seiner Meinung komme.

Warum gibt es heute keine sinnvollen Streitgespräche, weder im Privaten noch im Öffentlichen? Weder im Presseclub, noch in Phönix, weder im Radio, geschweige in den Gazetten. Es kann keine „machtfreien Diskurse“ geben, weil alle ModeratorInnen der Medien sich als Peitschenschwinger empfinden, die selbstherrlich ihren autoritären Kurs steuern.

Noch nie gab es eine Szenerie, in der ein „Gast“ die Popanzenhaltung selbsternannter Gesprächsfürsten in Zweifel gezogen hätte. Täte er dies, wäre er zum letzten Mal bei den Öffentlich-Rechtlichen gewesen.

(Habermas‘ „kommunikative Diskurstheorie“ ist da, wo sie richtig ist, nichts anderes als eine blutleere Erinnerung an Sokrates, doch mit einem riesigen Aufwand an Sätzen, die sich wissenschaftlich geben – ohne den Athener mit einer einzigen Silbe zu erwähnen.)

Wissenschaft ist keine gespreizte Originalitätssucht, sondern die Fähigkeit, sich an das anzuschließen, was an Sinnvollem in der Tradition gedacht wurde und mit Argumenten zu bestreiten, was man für falsch hält.

Habermas will die Öffentlichkeit aufrütteln, indem er die Geheimsprache seiner esoterischen Unikaste benutzt. Geht’s noch lächerlicher? Kein Satireabend wäre unterhaltsamer, als wenn man Peter Sloterdijks Buch „Sphären und Blasen“ Satz für Satz feierlich deklamierte.

Die deutschen Intellektuellen der Nachkriegszeit von der Frankfurter Schule über Heidegger bis zu den Riesendenkern des deutschen Feuilletons lassen sich an Gespreiztheit nicht mehr überbieten – ganz im Gegenteil zu den Gelehrten des 19. Jahrhunderts, die nicht nur ihr Gebiet in bewundernswerter Weise beherrschten, sondern auch Deutsch schreiben konnten. Was nicht bedeutet, dass man ihren Meinungen zustimmen muss.

Debattieren kann man nur, wenn klare Meinungen vorliegen. Wer sich in postmoderner Feigheit vor jeder eindeutigen Position hütet, der ist päpstlicher als der Papst: er ist unwiderlegbar.

Die Ursachen der Seinsverdüsterung liegen auf der Hand. Noch immer sind die Deutschen von den Verbrechen ihrer Vorväter und -mütter posttraumatisiert. Es gibt nicht nur Opfer-, sondern auch Tätertraumata. Wenn Verbrecher ihre Taten weder verstehen, noch bereuen, werden sie von den Spätfolgen ihrer Untaten heimgesucht: Was haben sie getan? Warum haben sie es getan?

Sind sie in der Lage, ihre Verbrechen nicht nur ritualistisch und pathetisch zu gestehen, sondern können sie „Empathie“ mit ihren schreckenerregenden Vorfahren empfinden – wie Thomas Mann, der über „Bruder Hitler“ schrieb? Können sie Empathie mit ihren Opfern aufbringen? Können sie Opfer-Empathie mit Täter-Empathie verbinden, um sich ein komplettes Bild der Geschehnisse zu machen?

Wer sich in bloße „Schutzbetroffenheit“ flüchtet, ohne mit seiner gesamten Persönlichkeit die Entstehung der Verbrechen nachzuvollziehen, der verharrt in posttraumatischer Immunisierung.

Es gibt nur ein einziges Kriterium, an dem man überprüfen kann, ob man trotz aller Ungeheuerlichkeiten seinen Verstand und sein Mitgefühl wiedergewonnen hat: dass Opfer und Täter die Vergangenheit in keinem Aspekt verleugnen und dennoch in der Gegenwart auf gleicher Augenhöhe zusammenarbeiten können. Wenn‘s hoch kommt, in Freundschaft – die vor keiner Wahrheit zurückscheut und Freunden zumutet, was man Freunden zumuten muss: die ungeschönte Wahrheit, die einzige Schlussfolgerung aus entsetzlichen Verbrechen, die einzige Garantin vertrauensbildender Normalität.

Von dieser erinnerten und durchgearbeiteten Normalität sind die Deutschen himmelweit entfernt. Ihre untergründig vor sich hin eiternden posttraumatischen Denk- und Erinnerungsverbote, ihr Hang zur Verfälschung und Verharmlosung der deutschen Kollektivbiografie haben sie im spezifischen Sinne des Wortes dumm gemacht.

Ihre Gebildeten schimpfen gern auf die Legasthenie der unteren Schichten, ihre eigene Hoch-Legasthenie kann keinen Gedanken festhalten, keinen Begriff definieren, keinen Widerspruch erkennen, keinen argumentativen Streit führen. Was sie im Hauptsatz behaupten, bestreiten sie im Nebensatz. Ihren Wirrwarr halten sie für den Ausweis des eigentlich Wahren, – das sie im nächsten Satz beerdigen.

Die Devise vieler Edelschreiber scheint zu sein: je weniger ich von der Sache verstehe, umso unbefangener bin ich, umso genialer kann ich daherschwadronieren. Habe ich es nötig, den Unterschied zwischen ecclesia patiens und ecclesia militans zu kennen?

Als Alfred Grosser in einem PHOENIX-Gespräch das Grundprinzip seiner Vorträge erklärte: seinem jeweiligen Publikum würde er immer unliebsame Wahrheiten zumuten, einem christlichen Auditorium etwa von der theologischen Verstrickung der Kirchen mit den NS-Schergen erzählen, hörte man einen Satz, den man in Deutschland nirgendwo zu hören bekommt. Deutschlands posttraumatische Wunden erkennt man am Maß seiner Selbstverblendungen.

Zeit für Remedur. Auf welchen Gebieten müssen wir unseren Bankrott anmelden? Im Moralischen und Politischen, im Denken und Handeln.

Ab der Romantik gilt Moral in Deutschland als Diktat des demokratischen Westens. Jede Nation sei ein Individuum und müsse ihre eigene Moral erfinden – die in den Augen anderer Nationen durchaus unmoralisch erscheinen könnte. Die Spießermoral in der Familie verstehe sich von selbst. Moral in der Politik sei ein Ammenmärchen. Privater Tugendstolz, öffentliche Lasterhaftigkeit.

Seit Hegel den Deutschen die Ideen des Machiavell als realpolitische Grundsätze eingebläut hat, weiß jeder Kommentator, dass Politik von Interessen bestimmt wird und nicht von wohlwollenden Absichtserklärungen.

Moral und Interesse sind unvereinbar. Interesse ist zum Lieblingsbegriff politischer Analytiker geworden. Wer in der Politik Moralität predigt, ist bereits ein Heuchler.

Dennoch und trotz alledem: ertappen die Deutschen einen Politiker auf unmoralischer Tat, ist‘s um seine Karriere geschehen. Unmoralisch können die Mächtigen sein, sie dürfen sich nur nicht erwischen lassen. Im Dienst deutscher Interessen sollen sie sogar unmoralisch sein, dann schnalzt der Bayer anerkennend mit der Zunge: Hund samma.

Hohe Moralisten verschwenden keine politischen Gedanken an die Politik, die ein System von Systemen und durch subjektive Moral nicht veränderbar sei. Wie bei Augustin ist der Staat eine unverbesserliche Räuberhorde, die unsichtbare Kirche der Gläubigen kann die Welt nicht verändern und muss ausharren bis ans Ende.

Da jedes System von teuflischer Beharrlichkeit ist, ist an Reform und stetige Veränderung nicht zu denken. Moral und Politik sind einander so fern wie civitas dei von der civitas terrena (das Reich Gottes vom irdischen Reich des Satans).

Warum gelingt die Eingliederung von Flüchtlingen so schwer? Weil Flüchtlinge Individuen sind und mit persönlicher Moral zu behandeln wären.

Nehmen wir das Flüchtlingsdrama in Berlin Kreuzberg, einem Bezirk, in dem viele linke und grüne Privatmoralisten wohnen. Ursprünglich wollten sie ihre Flüchtlinge besser behandeln als die bürgerlichen Parteien, fühlten sich aber im Verlauf der Ereignisse überfordert, weil sie die Flüchtlinge als unmoralische Zeitgenossen kennen lernten. Dann schlug alles um ins Gegenteil, die Objekte der hohen Moral wurden zu Opfern eines umgekippten Überdrusses. Am Ende stehen die Flüchtlinge auf dem Dach einer verwahrlosten Schule und drohen, sich in die Tiefe zu stürzen.

Moral wollte die Politik komplettieren und versagte, weil sie nicht an sich glaubte und die Flüchtlinge an die Politik zurückdelegierte – die vollends überfordert war. Politik und Moral fanden nicht zusammen. (Ines Kappert in der TAZ)

Nehmen wir die Grünen, die versucht haben, ihre ökologische Politik durch persönliche Vorbildmoral voranzutreiben. Sie machen den Vorschlag, einen fleischfreien Tag einzuführen, um die CO2-Bilanz zu verbessern. Kommen die Gegner und verballhornen den Vorschlag zu moralischem Terror – schon rudern sie zurück und behaupten das Gegenteil.

Der grüne Politiker Habeck geht noch weiter und will, um jeden Schein eines moralischen Hochmuts zu vermeiden, auch bei Aldi einkaufen. Die wenig betuchten Aldi-Käufer sollen sich nicht diskriminiert fühlen durch gut verdienende Grüne, die ihre Biohühnchen in teuren Bioläden einkaufen.

Wer Politik durch private Moral glaubwürdig machen will, stößt auf Ablehnung potentieller Wähler – und fühlt sich genötigt, seine politischen Forderungen und seine Privatmoral nach unten zu nivellieren. Um Wähler zu gewinnen, verstoßen Grüne gegen ihre eigenen Grundsätze. Für sie ist Moral unvereinbar mit anspruchsvoller Politik. Der Politiker hat kein Vorbild zu sein, sein Reden und Handeln müssen nicht übereinstimmen.

So übersehen sie, dass die Unterschichten nicht aus Protest gegen biologische Produkte bei Aldi einkaufen, sondern weil ihnen das nötige Kleingeld fehlt. Die Unterschichten empfinden sich nicht als vorbildliche Konsumenten, allein, sie müssen sich nach der Decke strecken.

Hier erweist sich die mangelnde Kompetenz der Grünen in sozialen Fragen. Wer die FDP mit leichten Veränderungen beerben will, darf sich nicht wundern, dass die Schwächsten sich von den arroganten Weltverbesserern abgehängt fühlen.

Just an dieser Stelle ist ein Satz zu hören, der sonstigen kapitalistischen Regeln ins Gesicht schlägt: das gute Produkt muss etwas kosten. Was nichts kostet, kann nur Ramsch sein.

Sonst bestimmen Angebot und Nachfrage den jeweiligen Preis. Nur hier, im Bezirk grüner Idylle, soll das Gute auch das Teure sein – damit man seine gutbetuchten Pappenheimer beim Betreten des politisch korrekten Lebensmittelladens erkennen kann. Kein Wunder, dass sich die Schlechtbetuchten entlarvt fühlen, weil sie nicht mithalten können und sich von den Grünen düpiert fühlen. Schon aus trotziger Selbstachtung müssen sie jetzt zu Aldi. Auch hier ist Moral und Politik unvereinbar.

Moral und Politik entstammen demselben Ursprung. Demokratie in Griechenland wurde erst möglich, als sich eine Moral der solidarischen Gemeinschaft durchgesetzt hatte. Wenn viele Menschen dieser Moral folgen, kann sich kein „undemokratisches oder unmoralisches System“ bilden. Eine überzeugende Moral der Mehrheit fegt die Unmoral mächtiger Minderheiten beiseite.

Ökologische Politik kann sich nur weiterentwickeln, wenn ökologische Moral sich zur Mehrheitsmoral weiterentwickelt und somit politisches Gewicht erhält. Wenn die Grünen sich aus Wahlkampfkalkül der unökologischen Moral bestimmter Wählerschichten anpassen, erklären sie ihren moralischen – und politischen Bankrott. Steinbrück wurde als unglaubwürdig empfunden, als er die Reichen kritisierte, aber mit teuren Honorarforderungen auftrat, als sei er ein Spezi der Reichen.

Demokratie lebt von der Authentizität der Demokraten: der Übereinstimmung von Reden und Handeln. (Der Artikel von Peter Unfried in der TAZ wird dem Thema nicht gerecht.)

Nehmen wir das deutsch-israelische Verhältnis. Weil die Deutschen unfähig sind, ihren Freunden die Meinung zu sagen, deklarieren sie ihre Feigheit als Philosemitismus. Das Gegenteil ist der Fall. Hinter der grandiosen Fassade blinder nibelungenhafter Treue verbirgt sich ein neurotischer Komplex antisemitischer Ressentiments, denen es gleichgültig ist, ob Israel mit seiner Hasspolitik gegen die Palästinenser bei den Völkern der Welt Ansehen und Vertrauen gewinnen kann oder ob die Zukunftsaussichten des jungen Staates immer schlechter werden.

Man lese die folgenden Zeilen von Uri Avnery und vergleiche sie mit der Stellungnahme von Jakob Augstein, der im SPIEGEL die schroffe Forderung stellt, sich künftig aus dem „unlösbaren“ Problem rauszuhalten und die verfeindeten Völker ihrem Schicksal zu überlassen.

Augsteins Forderung kommt einem totalen moralischen Bankrott gleich. Was unlösbar scheint, davon sollen wir die Finger lassen. Dass die Unlösbarkeit des Nahostproblems auch von der Feigheit der Völker herrührt, sich politisch und moralisch nicht in den Konflikt einzumischen, scheint Augstein zu ignorieren. Der linke Moralist opfert seine Moral auf dem Altar einer scheinbaren politischen Aussichtslosigkeit.

Moral untersteht aber nicht dem Maßstab des Erfolgs, sondern des unbedingten Rechttuns. „Der eine fragt: Was kommt danach. Der andere fragt nur: Ist es recht? Und also unterscheidet sich der Freie von dem Knecht.“

Thomas Schmid warnt die „aufgeklärten“ Europäer vor dem Hochmut, eine Wiederholung des Ersten Weltkrieges sei heute nicht mehr möglich. „Das könnte ein Irrtum sein. Ein derart kompliziertes, historisch völlig neues und in keiner Staatslehre vorgesehenes Gebilde wie die EU kann gewiss nicht nach Prinzipien gestaltet werden, die einst im kleinen Athen – vermutlich – ein gutes Regiment der Bürger begründeten. Die EU als höchst komplexes, austariertes und dem direkten Volkswillen entzogenes Gebilde zu erhalten und sie zugleich verständlicher, effektiver und geschmeidiger im Korrigieren von Fehlern zu machen: Das ist 100 Jahre nach den Schüssen von Sarajevo alle Anstrengung von Staatsmännern, Dichtern, Philosophen und anderen Bürgern wert.“ (Thomas Schmid in der WELT)

Doch was meint Schmid? Aufgeklärte Nationen, die Kriege entfachen, sind nicht aufgeklärt. Sie wären nur scheinbar aufgeklärt. Was wäre der Unterschied zwischen echter und scheinbarer Aufklärung? Kein deutscher Schreiber weiß, was Aufklärung ist. Auch Schmid bleibt im Vagen. Er weiß nur, dass Alt-Athen kein Vorbild für heutige Demokratien sein kann. Weil heute alles viel zu kompliziert sei im Vergleich zur überschaubaren Urpolis.

Haben die Athener ihre Demokratie nicht durch Befolgen demokratischer Werte lange Zeit vor dem Verfall bewahren können? Gibt es heute keine demokratischen Grundwerte, deren Einhaltung die EU vor dem Verfall retten könnte?

Die Gegenwart will so ungeheuer komplex sein, dass einfache Moral sie nicht stabilisieren kann. Die Moderne ist ach so modern, dass sie Tertullians Spruch: ich glaube, weil es absurd ist, noch immer für richtig hält. Nur ersetzt sie „absurd“ mit „komplex“ und schon ist der Einzelne unfähig, das große Ganze zu verstehen.

Haltet euch, ruft Schmid den Vielzuvielen zu, aus den Komplexitäten der Politik heraus, euer beschränkter Untertanenverstand kommt hier nicht mit. Moralische Grundwerte von politischer Relevanz scheint es in modernen Demokratien nicht zu geben. Schmid lässt seine Leser im Dunkeln, welches Verhalten dem gefährdeten Europa weiterhelfen könnte. Wir sollen an Europa glauben, weil wir von Europa nichts verstehen und Wesentliches zu seiner Fortentwicklung nicht beitragen können.

Von den großen Umweltproblemen haben wir noch gar nicht gesprochen, bei denen sich inzwischen die Meinung durchgesetzt hat: die Ökologie übersteigt vollends unseren Horizont. Unsere moralischen Kapazitäten reichen nicht, um die überkomplexen Schwierigkeiten auch nur theoretisch zu lösen. Nervös und bewusstseinslos erklärt Deutschland seinen moralischen Totalbankrott, ohne zu realisieren, dass dieser identisch ist mit dem politischen Bankrott.

Politik ist nichts anderes als die Ausdehnung und Übersetzung privater Moral in die Moral der Gemeinschaft. Wenn die Moral versagt, versagt der Mensch. Es schlägt die Stunde der Religion.