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Der lernfähige Mensch

Hello, Freunde des Lernens,

können wir aus der Geschichte lernen, fragte die Historikerzunft im pastellfarbenen Amtssitz des Bundespräsidenten und antwortete: im Prinzip nein.

Historiker Clark, der ein Riesenbuch über die schlafwandelnden Bellizisten des Ersten Weltkrieges geschrieben hat, wird nicht müde, uns erneut in Schlafwandler zu verwandeln: „«Die Geschichte schenkt uns keine Lehren», meinte Clark – jedenfalls nicht im Sinne von Handlungsanweisungen.“ Berichtet uns kommentarlos Kurt Kister, seines Zeichens Chefredakteur der SZ, der erfreut war, in Bellevue „gesittet“ über die Grundfragen des Seienden und Gewesenen nachzudenken.

(Beginnt der Bereich des Ungesitteten beim natostacheldrahtzaunbewehrten Übergang von Bellevue ins ordinäre Berlin? Wir ahnen, warum deutsche Studenten zu sittenloser Verblödung neigen: ihre schäbigen Uni-Seminare sind nicht ausgelegt mit pastellfarbenen Teppichen. Nur geladene Gäste – früher hätte man von Aristokraten gesprochen – beim schlichten Pastor Gauck: der Ruf der Geschichte ist nichts für den sittenlosen Pöbel. Gottlob haben wir professionelle Vermittler, die uns hin und wieder einen winzigen Blick ins Nähkästchen der Macht gestatten.)

Clarks Kollege Karl Schlögel setzt dem vor Intelligenz strotzenden Nonsens noch eins drauf und zeigt sich „irritiert über die gegenwärtige Form des Interesses an 14/18. «Sind wir gefangen in den Zyklen der Erinnerung», fragte Schlögel, handele es sich bei dem Jubiläumsgetöse gar um eine Flucht vor der Gegenwart?“ (Kurt Kister in der SZ)

Entschuldigt, liebe Historiker, dass es Menschen gibt, die sich für eure teuren Schinken interessieren. Ihr macht Reklame für eure Gelehrsamkeit mit der

 bewundernswerten Zusatzbemerkung: aber lernen könnt ihr aus unsren Büchern nichts. Solch ehrliche Antiwerbung – wenn sie denn keine listige paradoxe Intervention ist – hört man heutzutage selten.

Sollen wir eure Bücher erst gar nicht kaufen – oder zwar schon kaufen (mit einem Professoren-Mindestlohn kommt man schließlich nicht weit), aber dann gleich in die Altpapiertonne werfen, damit wir nicht Gefahr laufen, aus ihnen zu lernen?

Vorsicht, meine Damen und Herren, vor verdächtigen Subjekten, die immerzu lernen wollen. Die herzlich verbundenen Spähkonzerne NSA & BND sollten die Lernsüchtigen in einem gesonderten Gefahren-Register führen. Wer lernt, führt etwas im Schilde.

(Huiuiui, sacradi und heiligs Blechle, wer hat hier zeitgleich mitgelesen? Schon nähert sich meinem Fensterchen eine fette Drohne, schon rattert sie in algorithmischem Sperrfeuer: rattata, rattata, tschüss, meine Geschwister, es war schön mit euch.)

Okay, wieder da, ich schreibe angelologisch weiter. Hat die Geschichte Sprechwerkzeuge? Spricht sie mitternächtlich im tiefen Tann, aus drohenden Vulkanen und grollenden Gewittern? Ähnelt sie dem Orakel von Delphi? Spricht sie Esperanto?

Interessant, dass die Frage nach dem lernenden Menschen ausgerechnet von jenen gestellt wird, die dich beiseite nehmen und dir zuraunen, vom lernfähigen Menschen hielten sie gar nichts.

Wie kann der Mensch aus der Geschichte lernen, wenn er überhaupt nicht lernen kann? Wenn er aber lernen kann, warum sollte er nicht aus der Geschichte lernen? Der lernende Mensch kann aus allem lernen und hat aus allem gelernt.

Sokrates stand die ganze Nacht unbeweglich auf einer Stelle und sann über Gott und die Welt. Newton fiel ein Apfel auf den Kopf und – erfand die Gravitation. Kekulé schlief – und sah die Benzol-Formel im Traum. Archimedes saß in der Badewanne, entdeckte das Archimedische Prinzip, rannte als Flitzer durch Syrakus und rief: Heureka – ich hab‘s. In einer Jagdhütte bei Ilmenau überkam Goethe der poetische Furor und er schrieb an die Holzwand: Über allen Gipfeln ist Ruh.

Historiker wissen nicht mehr, was Lernen ist. Das kann nur eine déformation professionelle der lehrenden Zunft sein, die ihren studiosi den Stoff mit der glühenden Zange einbrennen oder sie mit dem Nürnberger Trichter abfüllen will. Lernen ist kein Füllen hohler Gefäße. Auch kein Abkupfern, Nachplappern, Imitieren oder blindes Übernehmen.

Was und wie der Mensch lernt, dafür ist er selbst verantwortlich. Kein Gott, kein Dozent, keine Geschichte kann ihn etwas lehren, wenn er verstockt ist und nichts lernen will. Die Geschichte, die Natur, die Wirklichkeit belehren uns, kann nur bedeuten: wir lernen selbst – anhand der Geschichte, anhand der Natur, anhand der Wirklichkeit.

Lernen ist ein aktiver und selbstbestimmter Vorgang und kein Inhalieren und Plagiieren von Inhalten, die wir von außen importieren müssen. Die Anstöße zwar kommen von außen durch Sinneseindrücke und Erlebnisse. Selbst beim Lesen eines historischen Schmökers können wir nicht ausschließen, dass der Denkapparat des Lesenden in Bewegung gesetzt wird. Das eigentliche Lernen aber ist das selbständige Durchdenken dessen, was mir meine Sinne angeliefert haben.

Ein Erlebnis wird zur Erfahrung, wenn ich verstanden habe, was mir widerfahren ist. Erfahrung ist das durchdachte und überprüfte Ergebnis sinnlicher und intellektueller Anregungen. Das Kind lernt nicht, indem es den Eltern nachplappert: eins und eins ist zwei, sondern indem es den logischen Vorgang des Summierens in seinem eigenen Kopf nachvollzogen hat und selbständig weiter entwickeln kann. Wissen leibhaftige Professoren diese Trivialitäten nicht mehr?

Weil wir allen äußeren Lernstoff mit dem eigenen Kopf durchdenken und überprüfen müssen, kam Platon auf die Idee, dem Menschen eine unsterbliche Seele zuzusprechen, die bereits vor der Geburt im Reich der zeitlosen Ideen alle Wahrheiten gesehen hatte. Das zeugt von eindrucksvoller Imagination, doch so weit müssen wir nicht gehen, um die erstaunliche Tatsache festzuhalten: alles, was wir lernen, haben wir bereits in uns.

Alles, was wir außen feststellen, können wir überprüfen, als ob Lernen nichts anderes sei als Erinnern. Die ganze Welt, die wir lernend erwerben, haben wir schon komplett in uns. Nichts kann uns von außen überraschen, was nicht schon immer in uns gewesen wäre.

Die ganze Natur: das sind wir. Die ganze Welt: das sind wir. Alle Menschen, alle Tiere, Pflanzen, Steine: nichts ist uns völlig fremd. Anfänglich sieht vieles fremd aus, vielleicht bizarr und anstößig – bis wir das Fremde verstanden haben.

Verstehen ist Verwandeln des Fremden ins Uralte und Eigene. Der Heureka-Effekt ist das plötzliche Aufleuchten des Bekannten im Unbekannten, des Eigenen im Fremden. Es ist wie beim Kennenlernen eines Fremden. Am Anfang fremdele ich, das Tun des Fremden verstehe ich nicht, ich fühle mich unwohl – oder aber bin neugierig und versuche zu erkunden, was uns beide verbindet, um zu verstehen, was uns trennt.

Ist mir der Fremde vertraut geworden, kann ich mich in ihm wiedererkennen. Ich habe so viel Gemeinsames entdeckt, dass das Fremde nicht beunruhigen kann, sondern die Fülle des Menschseins darstellt.

Lernen ist Erkennen, Erkennen die Umwandlung des Unbekannten ins Bekannte. Der Chemiker hat die fremden Stoffe vom Mond erkannt, wenn er sie als Variationen bekannter Erdelemente identifiziert.

Der Mensch lernt, wenn er erkennt, dass er ein Teil der Natur ist, die, wenn auch unbewusst, komplett in ihm vorhanden ist. Gäbe es etwas total Fremdes, könnte der Mensch es nicht erkennen. Gott ist das total Fremde, deshalb kann er nicht erkannt werden. Alles, was von Gott erkannt werden kann, kann nicht Gott sein – sagen Theologen über ihren Gott, den sie dennoch lebenslang erkennen wollen.

Im Lernen zeigt sich die Einheit des Menschen mit dem Kosmos. Das war die Meinung aller griechischen Philosophenschulen. Lernend kann ich ein Leben lang an Weisheit und Erkenntnis zunehmen und dennoch immer ich selbst bleiben.

Selbstbestimmung ist nicht das Gegenteil von Geprägtwerden, Ich-Autonomie nicht das Gegenteil von Offenheit für alles Nicht-Ich. Wäre ich nur passives Produkt meiner Umgebung, wäre ich ein totes Plagiat.

Die modernen Motivations- und Umweltlehren haben das Individuum zum Abklatsch totalitärer Gesellschaften und autoritärer Konsumwelten erniedrigt. Der Neoliberalismus betont die Freiheit des wirtschaftlichen Menschen, den er zum Fußabdruck seiner Despotie gemacht hat. Die omnipotente Ökonomie hat den selbständig lernenden Menschen abgeschafft.

Der homo oeconomicus ist zur passiven Blaupause seiner Umgebung geworden. Je individueller die Menschen sein wollen, je uniformer kommen sie daher. Sie denken und fühlen, wie Eliten, Medien und Wirtschaftsmächte es ihnen vorschreiben.

Weiß ein Historiker nichts mehr von Freud? Dass unbearbeitete Erfahrungen unter Wiederholungszwang stehen? „Sind wir gefangen in den Zyklen unserer Erinnerung“, fragt ernsthaft ein ausgewachsener Historiker? Ja, sind wir, solange wir nicht verstanden haben, was wir erlebten.

Bis vor kurzem war die Hauptlosung aller Gedenktage an den Holocaust die jüdische Weisheit: Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung. Nur durch Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten werden wir begreifen, was die Täter den Opfern antaten. Die Vergangenheit wird nicht vergehen, wenn wir ihr keine Gelegenheit dazu geben durch Lernen und Verstehen.

Warum hat der Neoliberalismus die Vergangenheit abgeschafft und das erinnerungslose Starren in die Zukunft zur despotischen Pflicht erklärt? Weil Menschen die Sklaven ihrer Geschichte bleiben sollen, die sie in die Zukunft projizieren. Entgegen ihrer Rede von der ständigen Neuerfindung sollen wir für alle Zeiten malochende und konsumierende Tierchen bleiben, immer abhängig von dominanten Tycoons und untertan der Allmacht des Geldes in den Händen weniger.

Nichts soll sich an der Vorherrschaft der Ökonomie ändern, niemand soll sich autonom definieren und sein eigenes Leben führen. Seine wirkliche Lage soll er nicht erkennen, soll nicht lernen, sich den Umschlingungen weniger Weltenherrscher zu entziehen. Dynamisch soll der Mensch nur sein, um den Profit der Eliten zu steigern, ansonsten soll er passiv und hilflos bleiben, um nicht gegen die Dominanz der EINPROZENT zu rebellieren.

Hätte der Zeitgenosse das stolze Bewusstsein, ein lernfähiges Wesen zu sein, hätte er längst seine Irrtümer unter die Lupe genommen, um einen neuen Versuch zu starten, die Erde in einen irdischen Garten zu verwandeln. Lernen durch Versuch und Irrtum? Schnee von gestern.

Wenn wir nicht mehr aus der Geschichte lernen, können wir aus gar nichts mehr lernen. Der Patient auf der Couch lernt aus der Geschichte seiner Biografie. Die Verhaltenstherapeuten unternehmen alles, um diesen „unwissenschaftlichen Unsinn“ ad acta zu legen. Die Historiker werden es ihnen danken.

Warum sollten wir noch die Bücher der Historiker lesen? Um uns auf jeder Seite zu sagen: das war mal und geht mich nichts mehr an? Das wird sich nie mehr wiederholen?

War das nicht die Ansicht vieler Epochen in der Geschichte – und über Nacht trat ihnen die unbearbeitete Geschichte krachend die Türe ein? Geht es noch fahrlässiger und verbohrter? Die Geschichte schenke uns keine Lehren, wie Clark verbissen zur Dummheit aufruft, um gleich sinnfrei hinzufügen: wenigstens nicht im Sinne von Handlungsanweisungen“.

Wie wäre es mit folgenden trivialen Handlungsanweisungen, die jedem Kind einfielen, wenn man ihm die Geschichte der europäischen Kriege erzählen würde?

a) Wer Kriege vermeiden will, rüste – zum Frieden. Was heißt das? Der Frieden soll so gestaltet werden, dass Hass und Zerwürfnisse keine Chancen haben, zu akkumulieren und zum Waffengang auszuarten.

b) Wer Krieg vermeiden will, hat die Normalität friedlich zu gestalten. Wirtschaftliche Beschädigungskonkurrenz ist ein unerklärter Krieg um die Vorherrschaft in der Welt.

c) Wer Kriege vermeiden will, hat die verdammte Pflicht, seine Nachbarn kennen und verstehen zu lernen.

d) Wer Kriege vermeiden will, hat Streitigkeiten so auszutragen, dass Verständigung zwischen den Streitparteien möglich ist.

e) Wer Kriege vermeiden will, hat das Streben nach Dominanz über andere Völker zu unterlassen.

f) Wer Kriege vermeiden will, hat andere Nationen als gleichberechtigte anzuerkennen und darf sich religiös, kulturell oder wirtschaftlich nicht über sie stellen.

Sind das keine Lehren aus dem Ersten, dem Zweiten Weltkrieg und allen sonstigen Kriegen der Welt? In der Tat, Madame Geschichte selbst sagt uns nichts, denn sie kann nicht reden, ja, sie gibt es nicht. Wir sind es, die uns diese Lehren zu sagen haben – angesichts der Geschichte.

Wer wagt es, von trivialen Sprüchen aus dem Poesiealbum schwärmerischer Utopisten zu sprechen? Dann sage er zu syrischen Kindern, die ihre Eltern, zu ukrainischen Müttern, die Kinder und Männer verloren haben, dass das Friedensgeschnatter ihm auf den Geist geht.

Wie viele Fehler müssen gemacht worden sein, wenn Krieg die einzige Möglichkeit scheint, sich seiner Haut zu wehren?

Nach dem Zweiten Weltkrieg schien es, als hätte die Menschheit gelernt, aus Fehlern der Vergangenheit die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Die UNO wurde zum friedensstiftenden Mittelpunkt der Völker. Die Vision schien wahr geworden zu sein, dass die Völker per Debatte und Auseinandersetzung ihre Differenzen lösen könnten.

Diese Vorbildphase dauerte fünf oder sechs Jahrzehnte, dann kam der Ungeist der friedlosen und unbearbeiteten Vergangenheit wieder zurück. Seitdem gehen wir nicht mehr vorwärts in Richtung einer einigen Menschheit, sondern rückwärts in eine friedlose Konkurrenz: welche Nation ist die stärkste, schönste, reichste und kann die weniger starken an die Leine legen?

Mit Waffen, Wirtschaft und Überwachungsmaschinen stecken die Weltmächte ihre Einflussbereiche ab und rüsten zum finalen Kladderadatsch, den man bereits für unvermeidbar hält. Welche Nation soll die Nummer Eins der Welt werden und alle anderen ihrem Regiment unterwerfen?

Was bezwecken die desolaten Historiker mit dem lächerlichen Motto, der Mensch lerne nicht aus der Geschichte?

Wollen sie der Öffentlichkeit das beruhigende Gefühl soufflieren, die Welt befinde sich schon jenseits von Krieg und Unfrieden? Dass wir gar nichts mehr lernen müssen, um friedlich beieinander zu wohnen? Dass wir – mit Kant zu sprechen – schon auf dem Weg zum ewigen Frieden wären?

Nein, das wollen sie nicht, das weisen sie von sich – sind sie denn blinde Schwärmer? Was wollen sie dann? Wollen sie uns mitteilen, der Mensch ist ohnehin kein lernfähiges Wesen, warum soll er gerade aus der Geschichte lernen?

Wollen sie die Menschen ermutigen, ihre Probleme mit frischer Energie anzugehen? Oder spielen sie die uralte Rolle gelehrter Elfenbeinturmbewohner, Erkennen und Lernen, Wissenschaft und Weisheit seien nichts für ungebildete Massen?

Lasst fahren dahin, ihr werdet es niemals schaffen, auf Erden eine rationale Heimat für alle Menschen zu errichten.

Die Historiker sind zu willfährigen Knechten der Gottesgelehrten geworden.