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Nihilismus

Hello, Freunde des Neinismus,

oder des Nihilismus. 1733 bezeichnete Friedrich Lebrecht Goetz den Nihilismus als Neinismus. Einen Ja-ismus haben wir bis heute nicht. Sag Ja zum Leben, ist die Erkenntnis von Psychotherapeuten, die fürs Jasagen von ihren Patienten bezahlt werden. Vornehm ist das nicht. Vornehm ist das sensible, heroische, tragische Neinsagen.

Der Nihilismus sagt Nein: a) zur erkennbaren Wirklichkeit, b) zur Wahrheit, c) zum Sinn des Lebens, d) zur Moral. Die Postmoderne ist nur eine Variante des Nihilismus, wir könnten auch von einem allgemeinen Bankrott sprechen. Wenn schon die Welt untergeht, müssen wir‘s vorweggenommen haben, damit nicht auffällt, wie duldsam wir alles über uns ergehen ließen.

Fortschritt? Immer. Fortschritt in den Untergang? Noch lieber. Die Denker bereiten den Untergang vor und sprechen uns nicht-schuldig. Schuld am drohenden Untergang? Niemals. Sind wir nicht wehrlos? Sind wir nicht unmündige Subjekte? Jauchzen die Intellektuellen und Edelschreiber nicht auf, wenn ein Tiefendenker bestätigt: wir? der Mensch? Was ist das?

Fragt mich nicht, wer ich bin, sagte Neinist Foucault im Interview. Da jubiliert das deutsche Feuilleton. Nein, wir sind nicht Herren unseres Geschicks, wir sind gehirn- und gottgesteuert. Wenn das noch nicht reicht, haben wir Instinkte, Gene, wirtschaftliche Verhältnisse, Spähmaschinen und sonstige Freiheitsräuber, die uns lenken, wohin wir nicht wollen.

Wie hoch ist der nach oben offene Nihilismusfaktor der Gegenwart? Mit Optimismus und Pessimismus hängt er nicht proportional zusammen. Amerikaner sind

 optimistisch, dennoch glauben sie ans Ende der Welt zu ihren Lebzeiten. Ihr Optimismus betrifft nur ihre eigenen auserwählten Persönlichkeiten, die den Himmel erbeuten werden, der Rest der Welt mag zugrunde gehen.

Der Ursprung des Neinismus ist das Nein Gottes zur Welt, deren Halbwertszeit abläuft. Alle Nihilisten – Nietzsche nicht ausgenommen – sind Erben des christlichen Neins zur Welt. Der Sieg des christlichen Neins zur Welt hat die Vitalität der heidnischen Völker in 2000 Jahren zur Strecke gebracht. Nun haben wir den Salat.

Oswald Spengler hat mit seinem Untergang des Abendlandes – ein Lieblingsbuch amerikanischer Intellektueller, auch Adorno war dem Untergangsprediger nicht abgeneigt, warum wohl? – nur das offizielle Fazit gezogen. Seit Karl dem Großen warten die frisch missionierten Germanen auf den Untergang der Welt. Wäre es nach den Schreibern des Evangeliums gegangen, müsste die Menschheit schon seit zwei Jahrtausenden vom Erdboden verschwunden sein.

Das emotionale Geschichtsverständnis des Westens ist: wir gehen auf dünnem Eis. Wir gehen immer dem Ende entgegen. Das Warten auf Godot ist das Warten auf Gott und sein apokalyptisches Geschenk, das Ende in mehreren Akten.

Das Ärgerliche ist: warum gibt es überhaupt noch dieses lästige Leben? Müsste es nicht längst „im Säurebad verätzt“ sein, wo so viele diplomierte und habilitierte, mediale, digitale und algorithmische Verätzer rund um den Globus tätig sind?

Spricht in den folgenden Versen Faust – oder Neinsager Mephisto?

„Und freilich ist nicht viel damit getan.
Was sich dem Nichts entgegenstellt,
Das Etwas, diese plumpe Welt
So viel als ich schon unternommen
Ich wußte nicht ihr beizukommen
Mit Wellen, Stürmen, Schütteln, Brand –
Geruhig bleibt am Ende Meer und Land!
Und dem verdammten Zeug, der Tier- und Menschenbrut,
Dem ist nun gar nichts anzuhaben:
Wie viele hab ich schon begraben!
Und immer zirkuliert ein neues, frisches Blut.
So geht es fort, man möchte rasend werden!
Der Luft, dem Wasser wie der Erden.“
Entwinden tausend Keime sich,
Im Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten!
Hätt ich mir nicht die Flamme vorbehalten,
Ich hätte nichts Aparts für mich.“

Und von wem ist hier die Rede? Man beachte das Fettgedruckte:

„Weh! weh!
Du hast sie zerstört
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmer ins Nichts hinüber.“

Die Deutschen sind versierte Neinisten – oder Weltbankrotteure. Nein zur Welt zu sagen oder fromm zu sein, das ist dasselbe, mein grüner Freund.

Warum ist Faust das Maskottchen der Deutschen? Weil er so großzügig ist, stellvertretend für sie die Welt zu zertrümmern. Mit der Faust direkt ins Gemächte der Welt.

Das wollte auch Nietzsche, obgleich er immer aufrief: bleibet der Erde treu. Sein Nihilismus begnügte sich nicht mit Neinsagen. Er wollte einen, „der nicht bloß Nein sagt, Nein will, sondern Nein tut.“ Wenn die amerikanischen Apokalyptiker nicht den deutschen Apokalyptikern das Handwerk gelegt hätten, hätten die Deutschen den Weltmeistertitel im Neinsagen und Neintun errungen.

Es gibt einen unerbittlichen Wettbewerb unter den Gläubigen, wer die Welt zum Einsturz bringen darf. Das dürfen nur wissenschaftlich beglaubigte Auserwählte. Die anderen sollen ihr dumpfes Treiben, das sie sich erkühnen, Leben zu nennen, nur so weiter dümpeln lassen, sie werden schon sehen, wo sie mit ihrer mangelnden Risokobereitschaft enden werden.

Nietzsche hat das Kommen des Nihilismus in seiner Glaskugel gesehen und willkommen geheißen:

„Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Nothwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der an’s Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“

Nietzsche hat punktgenau unsere Gegenwart beschrieben, die von Furcht zerfressen ist, sich zu besinnen und zu sich zu kommen. Um die panische Furcht zu verdrängen, haben ökonomische Nietzschekenner den Neoliberalismus erfunden, damit die Menschen sich in ihrer 24-Stunden-Arbeit so wohlfühlen, dass ihnen das entfremdete Leben in Haus und Familie Angst einjagt.

Im privaten Leben gibt’s zu wenig Regeln. Dem Fluch, sich immer frei entscheiden zu müssen, sind die Menschen nicht gewachsen. In Denkfabriken menschheitsliebender Tycoons wird schon die nächste Stufe der Evolution vorbereitet: die Abschaffung des Privaten.

Quengeln zu Hause nicht penetrant die Kinder? Nerven nicht ständig die Nachbarn? Muss man die Fernbedienung nicht immer mit dieser fremden Frau, der Mutter der Kinder, teilen?

Die neoliberale Wirtschaft steht vor ihrem größten Triumph: der baldigen Abschaffung des Lebens zugunsten der Arbeitsplätze und der Übererfüllung des Wirtschaftswachstumsbeschleunigungsgesetzes.

(Die Japaner haben es schon vorgemacht. Den ganzen Tag arbeiten sie, danach gehen sie mit ihren Arbeitskollegen ins abendliche Vergnügen, anschließend zwängen sie sich in isolierte Schlafröhren, bis der neue glückliche Arbeitstag heraufdämmert. Die Sexrate in Japan geht gegen Null. Die Gesellschaft vergreist, Kinder sind ein Luxus, den sich nur Millionäre leisten können.)

Der deutsche Nihilismus wollte das drohende Verhängnis nicht aufhalten. Stopp, stimmt nicht. Er wollte es aufhalten, indem er es – beschleunigt zur kathartischen Katastrophe führt. „Der rasende Ablauf, in den sich die Neuzeit mehr und mehr gestürzt hat, kann nach der Meinung des Nihilisten nicht durch Ausweichen oder Bremsen überwunden werden, sondern nur durch seine Steigerung und Übersteigerung – die Übersteigerung eben, die zum Umschlagen führt.“ (Armin Mohler, „Die Konservative Revolution in Deutschland“)

Erlösung durch Selbstvernichtung. Das ist der Clou aller Heilsgeschichten, auch der marxistischen. Das Elend des Kapitalismus muss so groß werden, dass die revoltierenden Proleten außer ihren Ketten nichts mehr zu verlieren haben. Rettende, reinigende Katastrophe. Das Kreuz muss die Welt zum Tode verurteilt haben, dann rollt die Kugel der linearen Geschichte vom Elend ins Licht der Erlösung.

Maximales Unheil, maximales Heil. Wer das nicht verstanden hat, hat deutsche Geschichte nicht verstanden. Erst das Massengrab der Glaubens- und Rassenfeinde wird zum Triumphbogen ins 1000-jährige Reich.

Vielleicht, meine Brüder und Schwestern, verstehen wir jetzt den Gang der deutschen Politik besser: ihr merkwürdiges, auf den ersten Blick völlig unverständliches Nichtstun gegen die drohenden planetarischen Katastrophen. Es ist der deutsche Nihilismus, der das regellos scheinende Zwangsimprovisieren der deutschen Politik, die scheinbare Gefasstheit und Unberührbarkeit unsrer Alphatiere mitten in den größten Elendswachstumsbeschleunigungsszenerien erklären könnte.

Das Malheur ist noch nicht groß genug. Prima facie geht doch alles seinen Gang. Die Deutschen sind zufrieden, sie gehen shoppen, dass die Schwarte kracht. Da können es nur von Russen bezahlte Unheilspropheten sein, die den Deutschen in die Dreisternesuppe spucken.

Wir glauben nur an den Crash, der sich blutrot am Horizont zeigt. Es ist der äußerste, der grenzüberschreitende Kitzel, der maximale Kick, den wir benötigen, um zu glauben, was wir in Summa angerichtet haben.

Wir glauben nur, was wir taten, wenn wir blind und taub an die Wand donnern, wenn die Summe unserer Taten über uns kommt und uns den Schädel einschlägt. Wir fahren nur auf Gehör, auf kollektiven Schmerz, auf irreversible Apokalypse. Wir wollen wieder vereint sein – in der sozialisierten Misere.

Mag das Glück individuell sein, die reinigende Katastrophe muss uns vergemeinschaften. Glück macht einsam, in Trümmern und Elend fahren wir den Karren gemeinsam aus dem Dreck. Gab es je schönere Zeiten als den Wiederaufbau der zerstörten Städte, reich und arm, oben und unten, Seit an Seit?

Die Ökokatastrophen nehmen überhand – weit draußen in der Welt. Was geht uns Somalia an, was der Kongo und Bangladesh? Was gehen uns Flüchtlinge an, die von dorther zu uns kommen, weil das von uns veränderte Klima ihre Erde, Luft und Wasser verdorben hat? Was geht uns die allwissende NSA an? Tut Überwachtwerden weh? Sind wir schädlichen Strahlen ausgesetzt? Wo also ist das Problem?

Der Große Bruder ist diskret und hält sich unsichtbar. Überkommt uns nicht sogar das beruhigende Gefühl, nie allein zu sein? „Das trage ich mit Fassung“, kommentiert Christ Lammert gravitätisch die Tatsache, dass er rund um die Uhr von der NSA ausgespäht wird. Gibt es nicht schlimmere Prüfungen des Himmels, die wir zu bestehen haben – als dieses bisschen Überwachtwerden?

Ein Bankrott wird in Deutschland in eine vorbildliche Haltung umdefiniert. Lammert will ironisch und souverän gewesen sein, als er im Bundestag unfreiwillig sein politisches Versagen entlarvte. (SPIEGEL Online)

Auch das Nahostproblem gehört zu den Kernkonflikten der Weltpolitik. Je menschenrechtsfeindlicher die Auseinandersetzung, je mehr wird sie von Deutschland verdrängt. In fast keiner deutschen Gazette wird der unerklärte Krieg angesprochen. Weil die Deutschen sich von Jerusalem einreden lassen, Kritik an der israelischen Politik sei Antisemitismus, ducken sie sich unter das Sprechdiktat israelischer Machteliten.

Zur völlig überzogenen Reaktion der Besatzer auf die angebliche Entführung dreier Jugendlicher reagiert Deutschland in beschämender Stummheit. Das ganze palästinensische Volk wird in Geiselhaft genommen, um ein ominöses Verbrechen zu rächen.

Überraschend hat ein führender deutscher Kommentator sich nun des Themas angenommen. „Es sind nur die Hardliner auf beiden Seiten – palästinensische und israelische – die vom Verschwinden der drei Jugendlichen profitieren werden. Und der Nahe Osten kommt einem Frieden wieder einmal keinen Schritt näher,“ schreibt Jakob Augstein in SPIEGEL Online.

Wie nimmt der im Zweifel linke Journalist Stellung zu dem Nahost-Konflikt? Er bezieht Stellung, indem er sich strikt weigert, Stellung zu beziehen. Er kneift und idealisiert seinen Kniefall vor Jerusalem zur optimalen Hilfe für beide Seiten:

„Das Drama um die mögliche Entführung dieser drei Jungen und was die israelische Regierung daraus macht, ist ein neuerliches Zeichen: Es ist Zeit zum Rückzug. Wer Israel und Palästina helfen will, sollte sich abwenden.“

Augsteins Beurteilungs- und Denkverweigerung, sein Unwillen zur Kritik an Netanjahus menschenrechtsfeindlicher Politik entspricht einem moralischen Totalbankrott. Er, der Merkel prinzipienloses Lavieren vorwirft, laviert selbst, indem er die unschuldigen Opfer des Konflikts im Stiche lässt.

Links sein: bedeutete das nicht einst, auf der Seite der Schwachen zu sein und sich für die Rechte der Menschen einzusetzen? Augstein gesellt sich zu jenen SPD-Granden, die Menschenrechte für eine Erfindung der Europäer halten, die für nicht-demokratische Länder ungeeignet seien. Ist Israel nicht stolz, die vorbildlichste Demokratie im Nahen Osten zu sein?

Augsteins Nein zur Stellungnahme ist ein Akt im Ungeist des deutschen Nihilismus. (Linkssein schützt nicht vor Nihilismus. In Russland gab es Anarchisten und Sozialrevolutionäre, die sich als Nihilisten deklarierten und alle moralischen Grundwerte ablehnten.)

Die Katastrophe muss noch größer werden. Völlig sinnlos, sie im jetzigen Stadium bremsen zu wollen. Abwarten und zuschauen, bis der Bürgerkrieg zum offenen Waffengang wird, das ist das Motto eines Scheinlinken, der seine moralische Reinheit durch Berühren eines diffizilen Problems nicht beflecken will. Seine passive Makellosigkeit ist ihm wichtiger als die Parteinahme für die Unschuldigen.

Vor Monaten hatte Augstein sich den Vorwurf des Antisemitismus eingehandelt, weil er es gewagt hatte, die Politik Netanjahus anzugreifen. Der Vorwurf scheint die erwünschte Wirkung erzielt zu haben. Augstein mischt sich ein, indem er sich feige raushält.

Deutschlands politische und mediale Eliten orientieren sich nicht an Moral, humanen Zielen und Menschenrechten, sondern am nihilistischen Grundprinzip des 19. Jahrhunderts: alles schleifen lassen, nirgendwo eingreifen, korrigieren und reformieren, keine Inhumanität attackieren, sondern die Katastrophe steigern und beschleunigen, bis das apokalyptische Desaster unrettbar über die Menschheit komme.

Der Mensch ist böse. Seine Bosheit kann nur durch himmlische Intervention ausgebrannt werden. Das ist eine Kriegserklärung an das Grundgesetz: die Würde des Menschen ist unantastbar. Zur Würde gehört die Autonomie, das Schicksal der menschlichen Gattung selbst zu gestalten.