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nichtsdesto-TROTZ XXXV

Tagesmail vom 25.06.2021

nichtsdesto-TROTZ XXXV,

Deutschland ist – nehmt alles in allem – eine Einser-Nation.

Mit Eins hat die Nation ihre Vergangenheit überwältigt,

mit Eins die Welt wirtschaftlich erobert – nachdem ihr die militärische Eroberung nur knapp misslang,

mit Eins wurde sie führende Macht Europas,

mit Eins die moralischste Macht Europas und vollbrachte die vorbildlichste Flüchtlingsrettungsmaßnahme des Abendlands,

mit Eins harmonisierte sie Bergpredigt und Machiavelli, indem sie nach der Almosentat die Hilfesuchenden ins Meer schütten lässt,

mit Eins machte sie das eigene Land zum Paradies, an dem es – bis gestern – nichts mehr zu mäkeln gab,

mit Eins baute sie eine garantiert pazifistische Armee auf, die sich fast jedem Kriegseinsatz verweigert und eher ihre Flugzeuge und Panzer verrotten lässt, als sie im Ernstfall einzusetzen,

mit Eins wurde sie die führende Klimanation der Welt, wenngleich sie inzwischen in der Notenskala ziemlich abgerutscht ist,

mit Eins wurde sie die beste Freundin jener Weltmacht, die sie vom Tyrannen befreit hat,

mit Eins streckte sie der Sowjetunion die Friedenshand entgegen und vollbrachte die Wiedervereinigung von Ost und West,

mit Eins hat sie die Synthese aus Aufklärung und Religion zustande gebracht, indem sie weder weiß, was Aufklärung noch was Religion ist,

mit Eins kann sie die klaffendsten Widersprüche überbrücken, indem sie alles Störrische durch dialektische Kompromisse zur Harmonie zwingt,

mit Eins hat sie Medien geschaffen, die mustergültig neutral und objektiv beobachten und dennoch eine wortgewaltige Vierte Gewalt spielen können,

mit Eins hat sie viele alte Spießerzöpfe abgeschnitten, indem sie auf den Höhen der Macht alle individuelle Schuld und Verantwortung abschaffte. Theatralische Rücktritte und Versagensgeständnisse gibt es seitdem nicht mehr. Politik wurde zur perfekt schnurrenden, garantiert moralfreien Interessenmaschine,

mit Eins hat sie weltläufige Eliten erschaffen, die in „überkomplexen Zeiten des Umbruchs“ coolen Überblick behalten, das Gleichheitsgetue der Neidischen zurückweisen und den Ansprüchen wahrer Gerechtigkeit zur vollen Geltung verhelfen: wer die beste Leistung bringt, kassiert die Welt,

mit Eins schauen sie voraus in die Zukunft und niemals zurück,

mit Eins haben sie sich dem omnipotenten Fortschritt unterworfen – und nicht zuletzt:

mit Eins haben sie sich eine Kanzlerin gekürt, die in allen Fächern eine Eins verdient: in Frömmigkeit und Wissenschaft, in demütiger Macht und esoterischer Verschwiegenheit, in schlichter Einfalt und nimmermüdem Fleiß, welcher auf eigene, eitle Gedanken verzichtet und ergeben der Hand Gottes folgt.

In liebenden Worten zusammengefasst:

„Liebe Bundeskanzlerin, Sie sind die tolle Einser-Schülerin aus dem Osten geblieben. Sie sind wissensstark. Renten, Corona, Mieten, sogar über die Regenbogendebatte konnte man Sie fragen, Sie wussten auf alles eine Antwort. Ich bewundere Ihr Gehirn, was haben Sie alles darin gespeichert. Afghanistan, Bundeswehr. Alles haben Sie parat. Ohne Spickzettel, einfach in Ihrem Kopf.“ (BILD.de)

Mit Eins hat sich Deutschland eine perfekte Symbiose aus Oben und Unten, Obrigkeit und Untertanen geschmiedet. Wer die Kanzlerin attackiert, attackiert Deutschland. Wer die Kanzlerin lobt, lobt ihr Land, das sich in ihrer Kanzlerin ebenso spiegelt, wie die Kanzlerin sich in ihrem Land. Gab es je eine erfreulichere Einheit aus Volk und Staat, Demokratie und Theokratie?

Die Welt staunt über diese noch nie erlebte beglückende Einheit aller Gegensätze. Was kann dieser organischen und spirituellen Ganzheit schon widerfahren – selbst wenn Natur und Mensch in Gefahr wären?

Und wenn die Welt voll Teufel wär
und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr,
es soll uns doch gelingen.
Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib:
lass fahren dahin,
sie haben’s kein’ Gewinn,
die Kanzlerin muss uns doch bleiben.

Das ist die Siegesgewissheit eines gläubigen Volkes, das auf überholte Rituale verzichten kann. Es folgt der gefühlten Einheit seiner Welt mit Gott, des Unvollkommenen mit dem Heiligen, der Verworfenheit mit der Auserwählung. Hier bedarf es keines Kirchgangs und keiner vermittelnden Popen mehr. Wo sie sind, da ist Gott.

Die niederen Gegensätze demokratischer Streitigkeiten, die abstoßenden Grabenkämpfe des Neids um Macht und Geld haben sie überwunden. Was andere großspurig Politik nennen, haben sie hinter sich gelassen:

„Wenn ich auf den folgenden Blättern die Meinung vertrat, dass Demokratie, dass Politik selbst dem deutschen Wesen fremd und giftig sei; wenn ich Deutschlands Berufenheit zur Politik bezweifelte oder bestritt, so geschah es nicht in der lächerlichen Absicht, meinem Volk den Willen zur Realität zu verleiden, es im Glauben an die Gerechtigkeit seiner Weltansprüche wankend zu machen. Ich bekenne mich tief überzeugt, dass das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und dass der vielverschrieene „Obrigkeitsstaat“ die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt. Geist ist nicht Politik. Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur. Der Unterschied von Geist und Politik ist der von kosmopolitisch und international. Jener Begriff entstammt der kulturellen Sphäre und ist deutsch; dieser entstammt der Sphäre der Zivilisation und Demokratie und ist – etwas ganz anderes. International ist der demokratische Bourgeois; der Bürger ist kosmopolitisch, denn er ist deutsch: dieser Mensch der geographischen, sozialen und seelischen Mitte war immer und bleibt der Träger deutscher Geistigkeit, Menschlichkeit und Anti-Politik.“ (Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen)

Nur in der Mitte der Welt ist Geist. Nur das Volk der Mitte kann ein Volk des Geistes sein. Das gilt bis heute: nur in der Mitte der Gesellschaft herrschen Kompetenz und Verständnis für die Dinge, die da kommen sollen, Flügel und Ränder der Gesellschaft sind kontaminiert durch Schreihälse und Gesindel. Nur ein Volk der Mitte kann sich als Mittelpunkt der Welt fühlen. Der Mittelpunkt bestimmt den Lauf der Geschichte.

Das gilt für alle Bereiche des Weltlichen, nicht zuletzt für die Kunst:

„So gesehen wäre die Störung, die wir als „Verlust der Mitte“ gekennzeichnet haben, eben in der wesensunmöglichen Trennung des Göttlichen und Menschlichen im Menschen zu suchen, in dem Auseinanderreißen von Gott und Mensch und im Verlust des Mittlers zwischen Mensch und Gott, dem Gottmenschen. Die verlorene Mitte des Menschen ist eben Gott; der innerste Kern der Krankheit ist das gestörte Gottesverhältnis (Görres).“ (Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte)

„Denn es ist ein Gott, es ist auch ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus.“

Wenn die Mitte der Welt verloren geht, geht die Welt verloren. 
„Mitte bedeutet von jeher das Vollkommene oder Absolute.“

Wahre Tugend ist die Mitte zweier Übel, hatte Aristoteles geschrieben. Die Mitte der Zeit war das Jetzt zwischen Anfang und Ende. Da war die begrenzte Welt noch in Ordnung.
„Die Griechen lebten in der glücklichen Mitte der selbstbewussten subjektiven Freiheit.“ (Hegel)

Die Moderne sprengte alle Begrenzungen. Wo blieb, zwischen Unendlichkeiten, die sichere Mitte des Menschen? Das wurde für Pascal zum unlösbaren Problem.

Als Kopernikus die Erde aus der Mitte des Universums zugunsten der Sonne vertrieben hatte, kam die mittelalterliche Welt in nervöses Flattern. Nach Freud war dies die erste narzisstische Kränkung der Abendländer.

Für Pascal wurde die Mitte zum Punkt zwischen dem Unendlichen und dem Nichts. Wenn man weder das Unendliche noch das Nichts definieren kann: wo soll man dann die Mitte ansetzen? Die Mitte wurde bei Pascal zum unendlichen Kern, der keine Grenze kennt und kein Maß setzt.

Das wird zu einem Zentralproblem der gesamten Moderne. Kennt der Mensch nicht das Maß seiner endlichen Bedürfnisse? Kann er endliche Bedürfnisse besitzen, wenn er Teil einer unendlichen Welt wurde? Muss in einer grenzenlosen Welt nicht alles ins Maßlose wuchern?

Der Kapitalismus kennt kein endliches Maß, er strebt in allen Dingen ins Grenzen- und Maßlose. Wenn aber die Erdennatur eine begrenzte ist, muss menschliches Streben nach Unendlichkeit die Natur sprengen.

Heute ist alles getrieben vom Bedürfnis nach dem Unendlichen, dem nur ein Fortschritt ins Endlose entsprechen könnte.

In der Antike ruhte der Mensch in der Mitte der Welt. Seine Geborgenheit war Einheit mit der Natur. Wer Natur erkennen wollte, musste Maß und Mitte der menschlichen Einheit mit der Natur anerkennen.

„Erkennen des Wahren ist erst durch das Zerreißen der Einheit von Mensch und Natur möglich geworden.“

Das war ein Hieb Hegels gegen die Griechen, um die Maßlosigkeit der christlichen Moderne zu rechtfertigen. Für Fortschrittsfreunde gibt sich das Erkennen der Wahrheit nicht mit endlichen Peanuts ab.

Hegels Weltgeist bedeutete stetiges Fortschreiten, ein ungeheurer Bruch mit der alten Welt. Die Zerstörung der Natur ist nur möglich, wenn die Linie unendlicher Bedürfnisse zusammenstößt mit den Grenzen einer endlichen Natur.

Das bedeutet? Die Menschheit wird die Klimagefahren durch Zerstören der Natur nicht in den Griff kriegen, wenn sie ihre angemaßten Unendlichkeiten nicht aufgibt und zurückkehrt zur Endlichkeit der Natur und des Menschen.

In den Naturreligionen der archaischen Welt gab es nur Begrenztes. Ergo gab es genau definierte Mittelpunkte, die von den Menschen als heilige Mitte der Welt angebetet wurden.

„Die Architektur-Symbolik des Mittelpunktes kann folgendermaßen formuliert werden:
a) Der heilige Berg – wo sich Himmel und Erde begegnen – befindet sich im Mittelpunkt der Welt;
b) Jeder Tempel oder Palast – später jede heilige Stadt oder königliche Residenz – ist ein „heiliger Berg“ und wird so zu einem Mittelpunkt;
c) Die heilige Stadt oder der heilige Tempel ist Axis Mundi (Weltachse) und wird als Treffpunkt von Himmel, Erde und Hölle angesehen.“
(Eliade, Kosmos und Geschichte)

Das hebräische Judentum, ja selbst die Anfänge des Christentums waren noch gekennzeichnet durch Restvorstellungen der Mitte:

„Der Berg Garizim in der Mitte Palästinas wurde als „Nabel der Erde“ gekennzeichnet. Für Christen war Golgatha der Mittelpunkt der Welt, Gipfel des kosmischen Berges und zugleich der Ort, an dem Adam geschaffen und begraben worden war. Der Mittelpunkt ist die Heilige Zone par excellence, das Gebiet absoluter Wirklichkeit. Der Weg zum Mittelpunkt muss steil und voller Gefahren sein.“ (ebenda)   

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch die Reinhold Messners der Gegenwart Sucher des Heiligen Bergs sind, welcher nur unter lebensbedrohlichen Gefahren erklommen werden kann.  Suchen des Perfekten, Heiligen und Erfolgreichen unter elementaren Risiken wurde zum Credo jedes Menschen, der den Sinn des Lebens im Erklimmen des „heiligen Bergs“ sieht. Dort wird er den goldenen Schatz seines Lebens finden. So wurde die Börse zur Axis mundi der Welt.       

Auch Nietzsches „Großer Mittag“ steuert die Mitte der Welt an. Nietzsche destruierte die christliche Religion, doch erlösungssüchtig war auch er. Erlösung wollte er finden durch ewige Wiederkehr des Gleichen. Die lineare Heilslinie der Christen bog er zurück zum kosmischen Kreis der griechischen Zeit. Dort konnte jeder Zeitmoment zum Mittelpunkt der Gegenwart werden.

Es handelte sich um eine Welt, in der „alles wieder Gegenwart geworden, wo in jedem Nu das Sein beginnt und die Mitte überall ist. … Still, still, die Welt ist vollkommen … wenig macht die Art des besten Glücks; Mittag schläft auf Raum und Zeit –, nur dein Auge – ungeheuer blickts mich an; Unendlichkeit. Hier saß ich, wartend, wartend, doch auf Nichts, jenseits von Gut und Böse, ganz nur Spiel, ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit, ohne Ziel.“ (zit. bei Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland)

Wie konnte es geschehen, dass Nietzsche sein geplantes Buch vom Großen Mittag nicht schrieb? Hing es mit der unlösbaren Aufgabe zusammen, dass er den endlichen Kreis mit der Unendlichkeit verkuppeln wollte?

Mohler kommentiert das Dilemma der Moderne:

„Unsere Zeit bietet ein seltsames Schauspiel. Auf der einen Seite rast die lineare Welt des Fortschritts mit der Entfesselung der Atomkraft dem Höhepunkt zu und sucht den letzten freien Fleck der Erde mit ihrem Netz von Schloten, Schienensträngen und Kabeln zu überdecken. Auf der anderen Seite aber stehen Sprecher, die von einer Welt mittäglicher Stille zeugen. Es ist vor allem die Wildnis, die zu einem Leitbild der Dichtung in der Nachfolge Nietzsches wird, Wildnis nicht als lineare Zerstörung, sondern als wunden-heilender Schlaf. Wo in der Dichtung von Wildnis die Rede ist, steht das Bild des „Großen Mittags“ dahinter. Wildnis ist das Unbezeichnete, Unbenannte. Sie ist dem Menschen nicht unterworfen, steht in keines Menschen Eigentum, ist unvermessen und ohne Wegmarken. Sie ist unnützes Land, denn in ihr gelten die Gesetze der Ökonomie nicht. Sie hat keine Geschichte.“ (ebenda)

Diese Zeilen wurden 1949 geschrieben. Inzwischen sind wir klüger und illusionsloser geworden. Auch die Natur hat eine Geschichte, die Geschichte ihrer Zerstörung durch den Menschen. Unberührte Wildnis gibt es nirgendwo mehr, längst haben Ökonomen den Wert des noch unberührten Landes in Augenschein genommen, um seinen zukünftigen Geldwert in die Höhe zu treiben. Der Mensch hat die Natur zu seinem Machwerk degradiert. Er erträgt es nicht, dass es draußen etwas geben soll, das sich seiner Kontrolle entzieht. 

Womit wir unvermutet zur Deutschen Bewegung zurückgekehrt sind. Die war es, die Deutschland zur Mitte der Welt erklärt hatte. Wer über die Mitte der Welt gebietet, der muss der Welt das messianische Maß des Seins vorschreiben.

Der Natur die Unabhängigkeit rauben: das war der Sinn der Kritik der reinen Vernunft. In diesem Werk wurde Kant zum erkenntnistheoretischen Vater der Deutschen Bewegung.

Kant ertrug den Empirismus der Engländer nicht, die mit Hilfe der Sinne eine unabhängige Natur erkennen wollten. Hermann Cohen, der Neukantianer, erklärt den Unterschied zwischen deutscher und englischer Philosophie:

„Das von Cohen klargestellte deutsche Denken wahrt die Selbständigkeit der Vernunft, die ihre Gegenstände erst im Grundlegen erzeugt, und nicht als gegebene Objekte aus der Außenwelt entgegennimmt.“ (Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung)

Das deutsche Ich wurde bei Kant so gigantisch, bei Fichte schließlich so gottähnlich, dass es die Schöpfungsgewalt des Gottes imitierte. Nach dieser Theorie blieb nur noch ein kleiner Schritt zur Praxis, der Welt da draußen die deutschen Erlösungsgedanken einzubläuen. Deutschland wurde nicht nur zur Mitte der Welt, sondern zum heiligen Berg Golgatha, wo die Welt gemartert, gekreuzigt und getötet werden muss, damit sie durch die schöpferischen Fähigkeiten des deutschen Ichs wieder in neuer Gestalt auferstehen kann:

„Aus Deutschlands politischer und kultureller Mittellage zwischen Ost und West lässt sich sogar ein universaler Anspruch  ableiten. Weil sich in Deutschland die „Diagonalen des Weltalls“ schneiden, ist es zur bestimmenden geistigen und politischen Macht Europas berufen. „Denn wir Deutschen vertreten nach unserem ganzen Wesen gegenüber der Partikularität der Einzelnationen die Universalität der Gedanken und Interessen … Deutsche Kultur ist universell europäisch, und alles europäische findet sich in Deutschland beisammen.“ (Kurt Sontheimer, Deutschlands politische Kultur)

Die Diagonalen des Weltalles sind – die archaische Axis Mundi. So hat uns die unbewältigte Vergangenheit im Griff. Jene Fesseln werden wir nicht los, wenn wir das Problem ignorieren und uns einbilden, jeden Tag könnten wir uns neu erfinden. 

Adolf Lasson, Philosoph der wilhelminischen Zeit, formulierte bei Beginn des Ersten Weltkriegs gehässig gegen die Westmächte, vor allem gegen England:

„Deutschland ist das Land der Mitte, deutsche Kultur nimmt eine zentrale Stellung ein. Die ganze europäische Kultur … sammelt sich wie in einem Brennpunkt auf diesem deutschen Boden und im Herzen des deutschen Volkes. Es wäre töricht, über diesen Punkt sich mit Bescheidenheit und Zurückhaltung äußern zu wollen. Wir Deutschen repräsentieren das Letzte und Höchste, was europäische Kultur überhaupt hervorgebracht hat; darauf beruht die Stärke und Fülle unseres Selbstgefühls.“ (ebenda)

So wurde Deutschland, die Mitte der Welt, „zum Schöpfer und Garant einer autoritären politischen Ordnung.  Der deutsche Geist ist Kernstück einer nationalistischen Ideologie, die auch in der Weimarer Zeit ihre Wirkung entfaltete und im Dritten Reich kulminierte, bevor sie mit diesem für immer zu Fall kam.“ (Sontheimer)

Sie kam nicht für immer zu Fall. Noch heute sind ihre Nachwirkungen als atmosphärische Strömungen fast in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu bemerken.

Wie sich fast alle Parteien beim Abschied in harmonischer Geschlossenheit um die Kanzlerin scharten, wie sie an der Geschlossenheit der Gesellschaft keinen Zweifel aufkommen ließen, wie sie in neckischer Familienatmosphäre mit Frage- und Antwortspielchen kokettierten: das zeigte eine führende Nation noch immer als Mitte der Welt, eine (fast) geschlossene Gesellschaft mit einer souveränen Mutter der Nation. 

Kaum ein Beobachter, der es gewagt hätte, das Spektakel schonungslos zu kritisieren.

„Wie gewohnt war Merkel zu jedem Thema sprechfähig, kannte Details, verlor sich notfalls im Ungefähren oder wich aus, Nachfragen zwecklos. Jedenfalls war die CDU-Politikerin so da, so präsent, als könnte sie noch 16 Jahre weiterregieren.“ (SPIEGEL.de)

Kam eine kritischere Frage, schaltete Merkel automatisch um in das Wir, den Modus deutscher Geschlossenheit. Hatte sie allein versagt? Nein, wir alle waren kleine Sünderlein.

„»Wenn ich mir die Situation anschaue, kann kein Mensch sagen, dass wir genug getan haben«, sagt sie und fügt hinzu, »das ist doch ganz klar.«“ (Berliner-Zeitung.de)

Womit sie Recht hat. Dennoch verschweigt sie, dass wir alle – nicht die mächtigste Frau der Welt sind. Ihre Macht und Verantwortung ist mit der von Krethi und Plethi nicht zu vergleichen. Das Wir ist die Kategorie genereller Schuld-Verallgemeinerung als spezielle Schuld-Zurückweisung:

„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

Die bevorstehenden Abschiede werden zu tränenreichen Hochämtern einer lutherischen Gesellschaft, deren Glauben an die eigene Sündenvergebung zum militanten Hochmut der deutschen Bewegung führte.

Fortsetzung folgt.