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nichtsdesto-TROTZ XXXIII

Tagesmail vom 21.06.2021

nichtsdesto-TROTZ XXXIII,

wäre Deutschland ein Mensch, müsste er wegen wahnhafter, nicht mehr ansprechbarer und sinnlos vor sich hin stammelnder Suizidgefährdung in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert und prophylaktisch ans Bett gefesselt werden.

Beginnen wir mit Kleinigkeiten. Wer zartfühlend keine Kakophonien mehr hören kann: Ohren schließen und nicht mehr weiter lesen.

Die Kleinigkeiten haben nur mit überflüssiger Moral zu tun.

„Die EU hätte die Mittel und die Möglichkeiten, die Flüchtlinge zu retten, die, zum Beispiel, der Hölle in Syrien oder Libyen entkommen sind; aber man lässt sie im Mittelmeer ertrinken. Der Tod der Flüchtlinge ist Teil der europäischen Abschreckungsstrategie. Europa schützt sich vor Flüchtlingen mit toten Flüchtlingen. Wenn es bei der Rettung des Euro so kläglich wenig Einsatz gegeben hätte wie bei der Rettung von Flüchtlingen – es gäbe den Euro schon längst nicht mehr.“ (Sueddeutsche.de)

Schonungslos beschreibt Heribert Prantl die katastrophale Flüchtlingsvernichtungspolitik der EU. Schonend verschweigt er die Namen der deutschen Verantwortlichen, unter ihnen seine hochgeschätzte Kanzlerin – die anzuklagen seine verdammte journalistische Pflicht und Schuldigkeit wäre.

Die Alibi-Agape der Kirchen muss – natürlich – leuchtend hervorgehoben, das christliche Ethos der moralfreien Regierung schamhaft verschwiegen werden. Doppelte Buchführung im deutschen Lazarett.

„Wenn Hilfsorganisationen – finanziert unter anderem von der evangelischen Kirche – mit Rettungsschiffen Flüchtlinge aus dem Mittelmeer ziehen, haben diese Schiffe Mühe, dass ihnen die Einfahrt in einen Hafen erlaubt wird. Pontius Pilatus wusch sich die Hände in Unschuld. Europas Politiker waschen sie in dem Wasser, in dem Flüchtlinge ertrinken.“

Was müsste getan werden?

„Handeln wir, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären. Die Konsequenz aus dieser Regel war und ist die Genfer Flüchtlingskonvention, die im Juli 70 Jahre alt wird. Die Konsequenz aus dieser Regel sind die Charta der Menschenrechte und die Europäische Grundrechte-Charta.“

Prantl weiß, was zu tun wäre. Beim Wissen lässt er‘s bewenden. Er wird sich doch mit keiner Anklage gegen Schuldige gemein machen.

Die nicht verhandelbaren Grundregeln des Zusammenlebens wären der Orientierungsrahmen aller Probleme der Menschheit. Warum wurden sie in der überlangen Amtszeit Merkels aus dem Bewusstsein verdrängt – nachdem die Kanzlerin ihren samaritanischen Gnadenakt („Wir schaffen das“) für die Geschichtsbücher gesichert hatte?

Almosen zur Sicherung der eigenen Seligkeit, keine verlässliche, auf universellen Prinzipien ruhende politische Lösung unserer Probleme im deutschen Lazarett.

Wer ist für Kleinigkeiten zuständig?

„Wenn sich ein Hartz-IV-Empfänger 10 000 Euro an Hilfen erschleicht, droht ihm Gefängnis – wer 10 000 Euro an Steuern hinterzieht, kommt gegen ein paar Euro Strafe davon. Dabei schaden beide der Gesellschaft in gleichem Maß. Über eine obszöne Diskrepanz.“ (Sueddeutsche.de)

Gibt es zurzeit eine einzige Partei, die in den Mittelpunkt ihres Programms den Begriff „Gerechtigkeit“ gestellt hätte? Wer nicht weiß, was dieses seltsame, überholte Wort der Vergangenheit bedeutet, sollte sich die Definition des Gegenteils anhören.

Also sprach Thrasymachos:

„… dass die Gerechtigkeit im hergebrachten Sinn „eine ganz anständige Einfalt“, die Ungerechtigkeit aber „Wohlberatenheit“ sei. „Vollendete Ungerechtigkeit sei nützlicher als vollendete Gerechtigkeit.“ Dabei dürfe man nicht an kleine Ganoven und Beutelschneider denken, sondern an Männer, die fähig sind, Unrecht im großen Stil zu begehen und Städte und Völker sich zu unterwerfen.“

Welch hellsichtiger alter Grieche, der den Kern des modernen Neoliberalismus voraussah.

Da schauen wir doch glatt bei Hayek nach – und siehe, er erweist sich als Wiedergeburt des ollen Thrasymachos:

„… so sind Forderungen, dass diese („spontanen und selbstordnenden Wirtschafts-) Prozesse gerecht vor sich gehen oder andere moralische Qualitäten aufweisen mögen, offensichtlich die Frucht eines naiven Anthropomorphismus. Entscheidend ist der Erfolg, nicht die Billigung durch Kriterien individueller Würdigkeit. Belohnt wird nicht für die Einhaltung von Moralgeboten. Der fruchtlose Versuch, einen Prozess gerecht zu gestalten, dessen Endergebnis sich naturgemäß nicht dadurch bestimmen lässt, was irgendjemand tut oder wissen kann, beeinträchtigt nur den Ablauf. Gerechtigkeitsforderungen sind im Zusammenhang mit naturgegebenen Entwicklungsprozessen schlicht und einfach unangebracht. Die Evolution lässt sich von Menschen nicht lenken und wird oft auch nicht das produzieren, was Menschen verlangen. Evolution kann nicht gerecht sein. Wollte man auf der Gerechtigkeit jeder zukünftigen Veränderung bestehen, so hieße das nachgerade, den Stillstand der Evolution zu fordern. Die Evolution bringt uns genau dadurch vorwärts, dass sie vieles bewirkt, was wir nicht beabsichtigen oder vorhersehen, geschweige denn seine moralischen Qualitäten beurteilen könnten.“ („Die verhängnisvolle Anmaßung. Die Irrtümer des Sozialismus.“)

Wenn es nichts mehr Gerechtes gibt, was ist dann mit der „sozialen Marktwirtschaft“ der Deutschen? Nicht verzagen, Hayek fragen. Er spricht, im Gegensatz zu seinen rechnenden Nachfolgern, die keinen klaren Satz mehr zustande bringen, ein klares Deutsch:

„Obwohl der Missbrauch des Wortes „sozial“ weltweit nachweisbar ist, nahm er seine extremste Form vielleicht doch in Westdeutschland an, wo die Verfassung des Jahres 1949 vom „sozialen Rechtsstaat“ spricht und von wo aus sich die Vorstellung einer Sozialen Marktwirtschaft verbreitete. (Erhard versicherte mir einmal in einem Gespräch, für ihn müsse die Marktwirtschaft nicht erst sozial gemacht werden, sie sei es bereits von ihrem Ursprung her). Die bei weitem schlimmste Verwendung findet das Wort „sozial“ – das ohnehin jedem Wort, dem es vorangestellt wird, ganz und gar seinen Sinn raubt – in der fast weltweit gebrauchten „sozialen Gerechtigkeit“. Die Wendung „soziale Gerechtigkeit“ ist – wie ein hochangesehener Mann mit mehr Mut als ich schon vor langer Zeit rundheraus sagte, nichts weiter als „semantischer Betrug aus demselben Stall wie die Volksdemokratie. Sozial wird hier gleichbedeutend mit dem Ruf nach „Verteilungsgerechtigkeit.“ Dieser verträgt sich freilich nicht mit einer Wettbewerbsordnung und dem Wachstum oder der Erhaltung von Bevölkerungszahl und Wohlstand. Durch solche Irrtümer sind die Menschen so weit gekommen, das als „sozial“ zu bezeichnen, was schlechthin das Haupthindernis für die Erhaltung der Gesellschaft ist. Statt „sozial“ sollte es in Wirklichkeit „antisozial“ heißen.
Die ganze Vorstellung einer Verteilungsgerechtigkeit – dass jeder einzelne das bekommen sollte, was er moralisch verdient – ist … sinnlos. Aus schon erörterten Gründen lässt sich moralischer Verdienst nicht objektiv bestimmen. Die Forderung, es sollten nur Veränderungen mit gerechtem Ergebnis stattfinden, ist lächerlich. Leistung wird die Chancen des einzelnen natürlich verbessern, kann allein jedoch keine Ergebnisse sichern. Der Neid derjenigen, die sich genauso bemüht haben, ist zwar durchaus verständlich, wirkt sich aber gegen das Allgemeininteresse aus. Wir müssen dem Marktmechanismus die Bestimmung der Belohnung überlassen. Ohne Ungleichheit – die weder durch moralische Bewertungen beeinflusst wird noch mit solchen vereinbar wäre – hätte die Menschheit weder jemals ihre gegenwärtige Größe erreichen können noch könnte sie diese heute bewahren. Wir dürfen nicht dem Allgemeinmenschlichen nachgeben, sondern müssen den Marktmechanismen die Bestimmung der Belohnung überlassen. Indem sie sich der Illusion hingeben, ihre Vernunft könne ihnen sagen, wie menschliche Leistung eingesetzt werden müsse, um ihren angeborenen Wünschen besser zu dienen, sind sie zu einer schweren Bedrohung der Zivilisation geworden.“ (ebenda)

Das war ein Sturmangriff gegen jedwede Vernunft, Gerechtigkeit, Aufklärung, universelle Moral und soziale Marktwirtschaft, eine Generalattacke gegen Humanität und Demokratie , eine Verhöhnung der Gerechtigkeitsvorstellungen des „gesunden Menschenverstandes“, der von den Eliten in Regierung und Wissenschaft unverfroren hinters Licht geführt wird.

Alle wissen – oder könnten wissen –, was die „normale“ Gesellschaft über Gerechtigkeit denkt. Kein Mensch aber hält es für nötig, die Kluft zwischen der schonungslosen Ideologie der zufällig Erfolgreichen und der durch menschliche Moral regulierten „sozialen Marktwirtschaft“ der per Zufall Abgehängten anzusprechen und zu klären.

Seit Jahr und Tag keine öffentlichen Diskussionen, Talkshows, Bundestagsdebatten, keine einzige Frage von Anne Will an die Kanzlerin: was sie denn von Hayek hielte. Ökonomen reden nur in ihrem Jargon, vergleichbar dem mittelalterlichen Kirchenlatein: ein gigantischer Selbstbetrug der deutschen Gesellschaft – auf Kosten derer, die sich nicht trauen, ihre Einwände und unguten Gefühle ins Spiel zu bringen. Bei so viel erzwungener Unmündigkeit wundert man sich dann noch über den Shitstorm, der den Überdruck des Kessels ventilieren muss!

Fassen wir zusammen:

Der Neoliberalismus – ein verschärfter Kapitalismus – gehört in die Tradition der Gegenaufklärung, die in Deutschland mit dem Theologen Hamann und in England mit der Entwicklung des Kapitalismus begann. Vorausgegangen war auf der Insel die Misstrauenserklärung Humes an Vernunft und autonome Moral. Hayek zitiert David Hume:

„Die Regeln der Vernunft sind nicht Ergebnisse unserer Vernunft.“

Bertrand Russell zeigt seinem Landsmann unmissverständlich die rote Karte:

„Hume lähmt jedes Bemühen um Beweise dafür, dass eine bestimmte Handlung besser sei als eine andere. Unweigerlich musste eine derartige Selbstwiderlegung des vernünftigen Denkens von einem heftigen Ausbruch irrationalen Glaubens abgelöst werden. Rousseau und seine Jünger glaubten auch nicht an die Vernunft, sie glaubten, das Herz stünde über der Vernunft. Die zunehmende Unvernunft des 19. und bisher vergangenen 20. Jahrhunderts ergab sich zwangsläufig aus der Vernichtung des Empirismus durch Hume.“ (Philosophie des Abendlandes)

Die Gegenaufklärung hatte in Frankreich und Deutschland religiöse Wurzeln, in England berief sie sich auf Galilei und Newton, deren Entdeckung der Naturgesetze jede andere Erkenntnisart – Argumentieren, Philosophieren, moralisch Erörtern – ad absurdum führte. Die europäischen Gegenaufklärer verachteten die heidnische Vernunft aus religiösen Gründen, die englische Gegenaufklärung hielt sie für überflüssig und irreführend. In diesem Klima einer allesregulierenden Unsichtbaren Hand erblickte der kapitalistische Sprössling das Licht der Welt.

Auch die Ökonomie hielt sich für eine Naturwissenschaft und hatte alle Hände voll zu tun, die Ist-Gesetze der Natur zu erkennen. Wer streng wissenschaftlich bleiben wolle, müsse auf schwadronierendes Sollen verzichten. Gesetze der Natur seien Imperative für den Menschen, denen er sich durch keinen „Geist“ entziehen könne.

Damit war die Vernunft durch zwei feindliche Attacken außer Kraft gesetzt: a) durch die Offenbarung der Schrift und b) durch die „Offenbarung“ der Natur, die alles determinieren würde, was die Menschen und ihre Welt beträfe.

Das aber war eine Grenzüberschreitung der exakten Wissenschaften auf das Gebiet des unexakten Lebens, welchem sie – ganz und gar unwissenschaftlich – verboten, sich eine eigene Meinung über das menschliche Sein und Sollen zu bilden.

In Deutschland weiß niemand, was Religion ist, ergo auch nicht, was ihre Angriffe gegen die Vernunft bedeuten. Auch über exakte Wissenschaften gibt’s keine klaren Erkenntnisse, ergo wissen sie nicht, dass es eine unbefugte Grenzüberschreitung der Naturwissenschaften ist, dem Menschen ein eigenes Denken und Fühlen zu verbieten.

Obwohl Religion und Naturwissenschaften einst erbitterte Gegner waren, wurden sie ungewollt zu Partnern durch gemeinsamen Affront gegen die ethische Vernunft des Menschen, der sein Schicksal selbst in die Hand nehmen wollte.

Der Mensch sollte erkennen, a) was Gott und b) was die Natur will: danach sollte er sich gehorsam krümmen, sein eigenständiges Denken einstellen und den Autoritäten Gott und mechanischer Natur wortlos folgen.

Gegenaufklärung ist Bankrotterklärung der Vernunft, die von sich aus weder die Wahrheit des Himmels noch die des moralischen Verhaltens in der Natur erkennen könne. Entweder ist der Mensch auf die Offenbarung der Schrift oder auf die „Offenbarung“ der Naturgesetze angewiesen, sodass er weiß, welchen außengeleiteten Imperativen er folgen muss.

Zwar ist wissenschaftliche Erkenntnis der Naturgesetze keine Offenbarung im engeren Sinne; sie wird aber zu einer Unterform der Offenbarung, indem sie von mechanischen Naturgesetzen auf das moralische Verhalten der Menschen schließt.

Wie muss geschlossen werden? Der Mensch hat den Naturgesetzen sklavisch zu folgen. Er ist unfähig, sie durch eigene Normen zu seinem Nutzen zu gestalten.

Das führt zu folgenden Konsequenzen: in der Tat ist der Mensch fähig, objektive Naturgesetze zu erkennen. Doch jetzt das Problem: was anfangen mit diesen Erkenntnissen? Militante Atombomben bauen oder friedliche Atomkraftwerke – oder keine von beiden Alternativen, weil jede technische Anwendung unkontrollierbare Nebenfolgen nach sich zöge? Wissenschaft kann sich mit der Erkenntnis an sich begnügen und jede Nutzanwendung ablehnen.

Hier stehen die Naturwissenschaftler ratlos und allein vor ihrer Ignoranz, doch bislang wollten sie ihre moralische Inkompetenz als Wissenschaftler nicht akzeptieren. Erst seit Beginn der Klimakatastrophe beginnen sie, über ihre politische und moralische Verantwortung nachzudenken – als normale BürgerInnen wie Du und Ich.

Noch schlimmer in der Ökonomie, die sich anmaßt, eine Naturwissenschaft zu sein, doch Gott sei‘s geklagt, eine solche, die das Objekt ihrer Erkenntnisbegierde nicht im Geringsten durchschauen kann. Die Naturvorgänge des Marktes bleiben ihr verschlossen.

Jetzt läge der Schluss nahe: okay, Vernunft, du verstehst das natürliche Wesen des Marktes nicht, also lass es sein und mach dir deinen eigenen Reim, wie du mit dem Markt umgehen willst. Potz Blitz, nein, bellt Hayek und verbietet der Vernunft, ihren unfähigen Kopf einzuschalten. Sie habe sich gefälligst daran zu halten, dass sie die Natur nicht versteht: der Markt sei unergründlich für Vernunftanbeter. Er sei nur fähig, dem Menschen Orientierungshilfen zu geben, indem er auf den Erfolg seines wirtschaftlichen Tuns verweist. Was Zaster und Erfolg bringt: das allein könne nicht falsch gewesen sein.

Es geht um blinden Nützlichkeitsglauben. Was Umsatz und Profit bringt: das muss per Zufall richtig gewesen sein. Der Katholik Hayek glaubt fest daran, dass Zufall und Unberechenbarkeit des Marktes von wem gelenkt wird? Von Gott, wem sonst?

Und an dieser Stelle vereinigt sich die Spur der angeblichen Naturwissenschaft mit der der Religion. Beide attackieren gemeinsam a) die unwissenschaftliche oder b) die gottlose Aufklärung: der Glaube und die Wissenschaft, die sich imperial übernimmt, kämpfen mit vereinter Kraft gegen die Vernunft.

Vernunft sei unfähig, sich selbst zu leiten. Sie müsse hinnehmen, was Gott oder die Natur ihr vorschreiben. Gott mit Hilfe eines Buches, Natur mit Hilfe ihrer verlässlich gleichbleibenden und erkennbaren Naturgesetze.

Das hat die merkwürdige Folge, dass Hayek und Marx, die als unvereinbare Denker gelten, sich plötzlich als wesensverwandte Feinde der Aufklärung entlarven. Beide hassen die autonome Vernunft, beide gebieten dem Menschen, Gesetzen blind zu folgen, die sie entweder nicht verstehen oder sie zwar verstehen, ihnen aber willenlos gehorchen müssen. Die Proleten verstehen gar nichts, ihren Parteiführern müssen sie blind vertrauen, dass sie den Zeitplan der marxistischen Heilsgeschichte durchschauen.

In beiden Fällen entlarven sich Neoliberalismus und Marxismus (die angeblich unversöhnlichen Gegner) als Bestandteile – der Deutschen Bewegung. Gründe:

„Die Sittlichkeit wurde in die objektive Entwicklung verlegt, und so dem individuellen Subjekt die sittliche Selbstbestimmung genommen. Am deutlichsten zeigt sich das im historischen Materialismus, der selbst den Revolutionären jegliche selbstbestimmte Aktivität verbietet zugunsten des Prozesses, der alles von selbst bringt, dem gegenüber nur noch passives Abwarten nötig ist.“ (Herman Nohl)

Nicht anders bei Hayek. Hier können die Spieler zwar beliebig ihre Einsätze machen; doch wer gewinnt, entscheidet nicht der Tüchtigere, Intelligentere, Verantwortungsbewusstere, sondern allein der Glückliche, der per Zufall die passenden Karten hatte.

Im Neoliberalismus ist der Pokerspieler auf Zufallsergebnisse angewiesen, im Marxismus der Prolet auf eine Heilsgeschichte, die ganz allein entscheidet, was die Glock geschlagen hat. Wer zufälligerweise auf der richtigen Seite der futurisch siegreichen Proleten – und eben nicht auf der Seite der untergehenden finalen Ausbeuter – stand, der hatte Glück gehabt. Jenes Glück, das die Frommen noch Gnade nannten.

In beiden Ideologien gibt es weder Schuld noch Verdienst, weder Autonomie noch Verantwortung. Von unsichtbaren Mächten getrieben, müssen Menschen tun, was anonyme, geschichtliche Automatismen von ihnen fordern. Einspruch ausgeschlossen.

Die Deutsche Bewegung war eine vernunftfeindliche Reaktion gegen die westliche Aufklärung, in der – nicht bei allen, aber den meisten Aufklärern – der freie moralische Wille das Tun des Menschen bestimmen sollte – trotz aller objektiven Naturgesetze. Deterministische Naturgesetze und moralische Selbstbestimmung des Menschen schlossen sich nicht aus. Der Geist des Menschen ist fähig, die Naturgesetze zu seinem Nutzen oder seinem Schaden zu handhaben. Zwischen Freiheit des Menschen und Gesetzen der Natur gibt es keinen Widerspruch.

Die Deutsche Bewegung verendete im positivistischen Tod der Moral und in einer amoralischen Eruption deutscher Herrenmenschen, die nur den Willen zur Macht kannten.

Die deutschen Medien sitzen in einer ähnlichen Falle wie die Deutsche Bewegung. Indem sie nur dem Ist folgen und sich jedem moralischen Sollen verweigern, tun sie freiwillig, wozu Neoliberale und Marxisten gezwungen werden: freiwillig wollen sie weder einen eigenen Willen haben noch eine eigene moralische Entscheidung fällen. Ergo berichten sie nur neutral und objektiv über politische Ereignisse und denken nicht daran, eine eigene Position zu beziehen.

Im Dritten Reich hätten sie weder pro noch contra Hitler Stellung beziehen dürfen. Heute, wo es in der Klimafrage um Sein oder Nichtsein geht, halten sie sich von allen Positionen gleichweit entfernt, als ginge das drohende Unheil sie nichts an.

Beispiel: darf die ARD kurz vor acht statt Börsennachrichten die Erkenntnisse der Naturwissenschaften über Klimaveränderungen bringen, um die Menschen aufzurütteln, den Suizid der Menschheit mit allen Kräften zu verhindern – oder muss sie sich all dieser Fragen enthalten, um ihre politische Jungfräulichkeit nicht zu verlieren?

„Seit einiger Zeit erklären die Wettermoderatoren im Fernsehen immer öfter ausführlich die Temperaturkurven der letzten Jahre und den Klimawandel. Fakt ist: „Je stärker das Thema Klimaschutz im Bewusstsein der Bevölkerung ist, desto eher werden die Grünen von der Kompetenz, die man ihnen hier zuspricht, profitieren“, sagt INSA-Chef Hermann Binkert. ZDF-Intendant Thomas Bellut (66) wandte sich erst kürzlich bei den Medientagen Mitteldeutschland ausdrücklich gegen politische Missionierung beim Thema Klimaschutz. Er rate davon ab, regelmäßig vor der „Tagesschau“, eine Sendung „Klima vor acht“ zu bringen. „Ich würde es nicht machen. Klima ist wichtig, aber danach kommt das nächste Thema. Themen ändern sich ständig. Ich finde es falsch, so etwas vorzugeben, denn damit macht man Politik. Ist das unsere Aufgabe? Nein.“ (BILD.de)

Obwohl es keinen Menschen geben wird, der sich dem Klimaverhängnis entziehen kann, fühlt sich Bellut als engelgleiche Ausnahmefigur, die aus ätherischer Unberührbarkeit das Todesspektakel beobachten kann. Gibt es etwas Abgehobeneres und Untergangssüchtigeres als diese illusionäre Scheinsicherheit vor dem Schicksal der ganzen Gattung?

Gibt es:

„Da fordert eine Kanzlerkandidatin die leichte Erhöhung des Benzinpreises. Worauf sich aus den Reihen der „Volksparteien“ ein Sturm der Entrüstung erhebt. Die „Argumente“ lohnen einer näheren Betrachtung: „Solche Manöver führen womöglich dazu, dass sich die Bürgerinnen und Bürger vom gemeinsamen Engagement für unser Klima abwenden“, warnt SPD-Chefin Saskia Esken. „Das wäre ein Bärendienst für unsere Umwelt.“ Schäuble, ein gläubiger Christ, verkündet zudem zuversichtlich, „dass wir auch klimaneutral Wachstum und Wohlstand schaffen können“. Nun, der Heilige Geist möge sich anstrengen; in dieser Welt, also in der Welt von Coltan, Glyphosat und Kohlendioxid, ist klimaneutrales Wachstum weniger wahrscheinlich als die zweite Wiederauferstehung. Wer solche Phantasmagorien verbreitet, verabreicht Schlaftabletten: Lehnt euch zurück, alles wird gut. Letztlich zeigen solche Diskussionen, dass der Ökozid weiterhin als Kavaliersdelikt angesehen wird. Wer einem einzigen Menschen die Lebensgrundlage wegnimmt (etwa durch Diebstahl), wird streng bestraft. Wer die Lebensgrundlagen aller zerstört, wird ermahnt oder verwarnt, worauf sich gleich ein Sturm der Entrüstung aufbauscht, man solle doch nicht die Moralkeule schwingen.“ (TAZ.de)

Im Vertrauen auf den Heiligen Geist ihrer Nation marschieren die Deutschen in kapitalistischer Ergebung und lärmender Ausgelassenheit dem Inferno ihres Erdendaseins entgegen.

Wäre die Nation ein Patient, müsste man ihn stante pede in der geschlossenen Psychiatrie an ein Bett fesseln lassen. Aus Rebellion gegen ökologische Gesetze, die sie als erziehungs-diktatorische Maßnahmen verstehen, warten die Deutschen lieber, bis eine echte Ökodiktatur über sie kommen und mit eisernem Griff am Kragen packen wird.

Dann – werden sie nicht mehr gefragt.

Fortsetzung folgt.