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nichtsdesto-TROTZ XXXII

Tagesmail vom 18.06.2021

nichtsdesto-TROTZ XXXII,

Nation erschöpft, Kanzlerin sakrosankt, Gespräche tot. Lautlos rasen die Weltmaschinen in die Zukunft, unbehelligt vom nichtigen Lärm der Agora.

Mittlerweilen haben die meisten Deutschen Angst, ihre Meinung zu sagen. Sagten sie denn zuvor ihre Meinung? Sind ihnen die Ängste (oder sollen wir von Feigheit reden?) erst jetzt bewusst geworden? Waren sie denn in früheren Zeiten eine Gesellschaft der Parrhesia?

„Parrhesia bedeutet Redefreiheit oder über alles sprechen. Der Begriff wurde … verwendet, um das Konzept eines Diskurses zu beschreiben, in dem man offen und wahrhaftig seine eigene Meinung und seine Ideen ohne rhetorische Elemente und manipulative Rede ausspricht.“

Wie viel Prozent der öffentlichen Reden sind heute manipulativ oder rhetorisch? Sind Shit-Stürme die notwendigen Begleiterscheinungen einer nicht vorhandenen Parrhesia?

Wer in anonymer Dunkelheit seine sumpfige Seele lüftet, kann kein Vorbild für Offenheit und Wahrhaftigkeit sein. Doch wer kann heute noch wahrhaftig sein, wenn alle Wahrheiten am Horizont verschwunden sind?

Jahrhundertelang war es europäischen Völkern verboten, ihre Meinung gegen den Klerus zu sagen. Als sie endlich Redefreiheit erhielten, waren sie unfähig, den neuen Gebildeten (als Nachfolgern der unfehlbaren Gottesmänner) Paroli zu bieten. Als sie endlich die Regeln der Demokratie verstanden, blieben ihnen bis heute die Formeln der Ökonomie und des Fortschritts verschlossen.

Die Mächtigen sorgten dafür, dass die Untertanen gerade so viel verstanden, dass sie die Maschinen reibungslos bedienen konnten, gleichzeitig so wenig, dass niemand das Reich der Fortschrittsführer gefährdete.

Eine reglementierte Schule sorgte für das geeignete Menschenmaterial, um den Wettlauf der Nationen ins Universum, die Zerstörung der Natur und das apokalyptische Ende von 99% aller Menschen permanent zu beschleunigen.

Was müssten wir tun, um die Himmelfahrt für Wenige und die Höllenfahrt für die Meisten zu stoppen?

Wir müssten den Wettbewerb der Völker um den Preis der genialsten, tüchtigsten und gierbesessensten Nation beenden. Heute noch.

Gäbe es nicht den Zwang, sich als begabtestes und ehrgeizigstes Land der Welt zu erweisen, hätten wir beim Umbau der Wirtschaft zur Lösung der Klimafrage schon längst keine Probleme mehr.

Es geht nicht um die Sicherung unserer Existenzgrundlagen, dazu wäre homo sapiens schon lange fähig. Im Wettbewerb geht es nur um die eitle, anmaßende und verderbliche Frage, welche Nation die cleverste, technisch pfiffigste, maß- und rücksichtsloseste ist.

Kommt ein grundehrlich-verschlagener Politiker wie Trump an die Macht, reden sie verzückt und angewidert: schaut, welch ein Narzisst. An diesem Maß gemessen, wäre die gesamte Geschichte des Abendlandes nichts als religiös-narzisstisch. Das Auge der Vorsehung soll wohlwollend auf ihnen ruhen: Seht, das sind meine geliebten Söhne, an denen ich Wohlgefallen habe. Und die Töchter?

„Naomi Klein hat den Begriff „Desaster-Kapitalismus“ oder „Katastrophen-Kapitalismus“ geprägt. Gemeint ist ein Szenario, in dem Kapitalisten eine Katastrophe zur Profitmaximierung nutzen, indem sie Maßnahmen umzusetzen, mit denen sie unter normalen Umständen niemals durchkommen würden. Das Katastrophen-Patriarchat ist ein paralleler und komplementärer Prozess, bei dem Männer eine Krise ausnutzen, um ihre Kontrolle und Vorherrschaft zu bekräftigen und hart erkämpfte Frauenrechte wieder zunichte zu machen. Überall auf der Welt hat das Patriarchat das Virus ausgenutzt, um Macht zurückzugewinnen. Einerseits verstärkte das Patriarchat die Gewalt gegen Frauen, andererseits trat es als Kontrolleur und angeblicher Beschützer auf. Im Katastrophen-Patriarchat verlieren Frauen ihre Sicherheit, ihre wirtschaftliche Macht, ihre Autonomie, ihre Bildung – und sie werden ungeschützt an die Front geschickt. Das heißt, man ist bereit, sie zu opfern.“ (der-Freitag.de)

Wenn es an‘s Eingemachte geht, haben Frauen und Kinder fertig. Im Endreich der Titanen haben sie nichts mehr zu suchen. Sie werden nicht mehr gebraucht. Für Sex gibt’s künstliche Alexas mit Körpern und Gesichtern nach Belieben. Kinder aus Fleisch und Blut werden ersetzt von maschinenfabrizierten Intelligenzbestien.

Diese faschistische Ideologie ist längst keine Phantasmagorie mehr für perverse Spezialbegabungen. Vor aller Augen, in der Mitte der Welt, ist sie zur Beherrscherin derselben aufgestiegen. Nichts hat die Genieschmiede von Silicon Valley verschwiegen. Alle Karten hat sie in triumphierender Dreistigkeit auf den Tisch geknallt. Von Anfang an ließ sie keinen Zweifel an ihrer obszönen Maßlosigkeit – und wurde von all jenen stürmisch und jubelnd empfangen, die sonst jede humane Utopie in die Hölle verfluchen.

Wieder einmal stand am Anfang ein vergifteter Traum, nein, nicht einer besseren, sondern einer allmächtigen Welt. Diese beiden Zielvorstellungen auseinanderzuhalten, sind fanatische Futurologen nicht in der Lage.

Die supertechnische Orgie ist das Produkt der Macht, die nie den Rachen voll kriegen wird.

Humane Utopie ist das Reich des naturverträglichen Menschen, der weder ein Sündenkrüppel, noch ein Hobbes‘ scher oder machiavellistischer Menschenfeind ist, sondern Humanität in mühsamen Schritten erlernt hat.

„Am Anfang stand der Traum von einem grenzenlosen neuen Reich des Geistes, das Freiheit und Selbstverwirklichung versprach. Das Internet war in seinen Anfangsjahren ein neuartiges Menschheitsversprechen, geeignet, endlich Wissen für alle zugänglich zu machen und alle Menschen direkt miteinander zu verbinden. Voraussetzung für ein neues Zeitalter, in dem Krieg, Ausbeutung und Ungleichheit endlich der Vergangenheit angehören und eine universale Verständigung an ihre Stelle treten sollte.“ (WELT.de)

Es waren Hippies mit „religiösen heilsgeschichtlichen Erlösungsversprechen“, die sie nicht mit vorbildlichem Lebenswandel und demokratischen Methoden realisieren wollten, sondern mit technischen Instrumenten, die sich aus faszinierenden Erlösungsverheißungen längst in furchterregende Repressionswerkzeuge für die gesamte Gattung transformiert haben.

Barlow, ein früherer Hippieprophet, machte keinen Hehl aus seiner Verachtung für die Demokratie:

„Barlow macht die technische Infrastruktur selbst zum letztlich bestimmenden Ordnungsprinzip. Das Recht als demokratisch legitimiertes Prinzip des Zusammenlebens lehnt er radikal ab.“

Immer dasselbe Sirenen-Betrugs-Spiel mit dem Fortschritt. Am Anfang steht das Wort: folget uns nach, wir werden euch zu Göttern machen. Ist das nicht euer uralter religiöser Traum? Wir sind gekommen, um den Traum in technische Wirklichkeit zu verwandeln.

Danach der Absturz in die drohende Perspektive, die Erde in Staub und Asche zu zermörsern. Plötzlich zuckten die Erfinder mit den Schultern: sorry, wir haben unsere Schuldigkeit getan. Nun seid ihr dran, ihr Moralapostel. Macht was draus aus unseren genialen Früchtchen. Wenn nicht, seid ihr selber schuld, wenn ihr mit unseren Atombomben die Welt umpflügt.

Ergo, was müssen wir tun, um die Sirenengesänge des Fortschritts im Keim zu ersticken?

Wir müssen den Mythos von Genie und Wahnsinn – bislang nur eine private Neurose – als Verhängnis der ganzen Menschheitsgeschichte betrachten und für immer ad acta legen. Nicht das Genie adelt den Menschen, sondern seine humane Empathie. Wer das für langweilig hält: der sollte zum Arzt.

Seitdem der Begriff Gesundheit rassistisch geschändet wurde, wird angeraten, solche verräterischen Begriffe in der Schublade zu lassen. Wir tun das Gegenteil: wir säubern sie vom Schmutz der Vergangenheit und definieren sie als notwendige Begriffe seelischer Gesundheit – denen wir zusteuern müssen. Nur eine gesunde Menschheit wird zum Frieden mit Mensch und Natur fähig sein. Dürfen wir unsere Sprache dem Missbrauch von Kranken überlassen? Wie wir regelmäßig unsere Vergangenheit bearbeiten müssen, so müssen wir die geschundenen Wörter vom Makel ihres Missbrauchs klinisch säubern.

Oh doch, es gibt bereits mannigfache Formen der Exkulpierung der Vergangenheit. Aber nicht in schonungsloser Anerkennung der Schuld, sondern in deren Verleugnung.

In Safranskis Biografien deutscher Dichter und Denker findet man kaum einen Hinweis auf deren kontaminiertes Erbe, das bis heute sichtbar ist. In Verleugnung der Freud’schen Seelenforschung darf deutsche Gegenwart nichts anderes sein – als deutsche Gegenwart. Vergangenheit ist nur dazu da, um sich in verherrlichender Erbaulichkeit zu ergehen.

Oder die unfassbare Hegel-Euphorie, die einen Urvater des Verhängnisses zu einem Freiheitsapostel verklären will.

Oder die Weißwaschung des nationalen Reformators, dessen Judenhass, Vernunftfeindschaft und Glorifizierung jeder Obrigkeit mit schwülstigen Worten abgesegnet wird. Alles nicht so schlimm im Pfuhl der Sünde, wenn nur Gottes Gnade regelmäßig alle Schuld abwischt – um neue Schuld zuzulassen.

Oder die Leugnung des Sonderwegs, die uns weismachen will: alles okay in deutschen Landen, nichts hat uns von unseren westlichen Nachbarn getrennt. Nur am Ende, ja, da kam es zum Verhängnis – doch nur, weil ein ausländischer Verführer die ökonomische Notlage der Deutschen ausnutzte, um die Fieber-Phantasien eines Versagers mit raffinierten Verführungsmethoden in die Tat umzusetzen.

Schauen wir mal genauer hin. Wann entstand der deutsche Sonderweg? Mit der deutschen Bewegung, die Herder als Ablösung von der westlichen Aufklärung und ihre Umwandlung ins Gegenteil verstand.

Am Anfang stand der richtige Gedanke: universelle Humanität ist kein Privileg einzelner Staaten. Jedes Volk mit seinen Eigenheiten ist der Anerkennung wert. Doch hier liegt der Hase begraben. Nicht alles, was ist, ist lobenswert. Alles müssen wir prüfen, aber nur das Beste behalten.

„Was Kant, Goethe, Schiller und Humboldt noch als Allgemeines meinten, wurde ab Fichte und den Romantikern als spezifische Schöpfung der Deutschen erkannt. Diese ganze Bewegung auf ein höheres Leben, auf Ursprünglichkeit, Totalität, Leben in der geistigen Welt ist eine deutsche Bewegung – in Zusammenhang mit der Reformation. Wir sahen, dass der Gegensatz die Aufklärung war. Als Vertreter der Aufklärung erscheinen die französischen und englischen Aufklärer mit ihrem Positivismus und Utilitarismus, alles, was man heute westliche Zivilisation nennt. Die Engländer würden nichts anerkennen, was über die Sinne und ihren Nutzen hinausginge; die Franzosen seien dem Universum gegenüber frivol.“ (Herman Nohl)

Inzwischen gehört es zum täglichen Einerlei, das Verhängnis der Vergangenheit und die Sünden unserer Väter zu verharmlosen oder zu verleugnen. Hier ein Beispiel aus Bayern:

„Während Aigner darauf hinweist, dass man die CSU, „deren Gründungsväter teilweise selbst in Konzentrationslagern einsaßen“, nicht „in die Nähe von Nazis rücken“ dürfe, argumentiert SPD-Generalsekretär Arif Taşdelen damit, dass Brunn nur historische Fakten beschrieben habe. „Die Bayerische Volkspartei und die Zentrumspartei waren die Vorgänger der Unionsparteien. Sie haben beide dem Ermächtigungsgesetz der Nazis zugestimmt“, twitterte Taşdelen.“ (Sueddeutsche.de)

Gewiss gab es rühmliche Ausnahmen. Die man aber auf keinen Fall zur Entsühnung der ganzen Vergangenheit missbrauchen darf.

Ein unfasslicher Vorschlag zur Verharmlosung der Nationalsozialisten kommt justament von einem französischen Historiker. Hat die deutsche Persil-Wäsche inzwischen schon unsere Nachbarn angesteckt?

„Es wird immer wieder überliefert, die Nationalsozialisten seien totalitär gewesen – die Nationalsozialisten hätten einen starken Staat gehabt. Das trifft aber überhaupt nicht zu. Die Nationalsozialisten sprachen vielmehr davon, den Staat zerstören zu wollen. Sie begriffen den Staat als „rassefremd“. Die Nationalsozialisten wollten letztlich so viel in so kurzer Zeit erreichen, dass es nur chaotisch sein konnte. Sie wussten, dass den Deutschen so viel nicht abzuverlangen war, wenn man autoritär über sie bestimmt. Deshalb haben die Nationalsozialisten zumindest vorgegeben, dass jene Menschen, die ihre Ideen umgesetzt haben, in ihrer Arbeit frei waren. Auch hier sehen wir wieder das Bild, das für die NS-Ideologie wesentlich ist: „Wir Germanen sind frei. Drüben im Osten, in der UDSSR – das ist Asien – leben Untermenschen. Die werden von Juden mit der Peitsche geführt. Wir Germanen sind anders, wir sind frei.“ Auch Unterorganisationen der „Deutschen Arbeitsfront“ wie „Kraft durch Freude“ reichen da rein. Freude an der Arbeit bedeutet auch hier: Initiative von unten. Wir haben ein Ziel, aber die Untergeordneten haben die Freiheit der Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Sie haben aber auch die Verantwortung, wenn es nicht klappt. Die Natur ist bei Descartes unendliche Fläche, mit der wir Menschen etwas machen können. Das ist eine abendländische Logik, die man gedruckt insbesondere im 19. Jahrhundert viel findet – im Kolonialismus, im Darwinismus. Da wird eine restlose und rücksichtslose Ausbeutung von Frauen, Kindern, Bäumen, Tieren – ja, im Grunde von allem als Quelle von Energie propagiert. Quellen, die wortwörtlich „erschöpft“ werden sollen. Die Nationalsozialisten haben diesen Gedanken konsequent mit Menschen in Konzentrationslagern weitergedacht und die deutsche Industrie hat damit unendlich viel Geld verdient.“ (Berliner-Zeitung.de)

Deutsche Historiker verharmlosen die Deutschen, indem diese zu Opfern einer raffinierten Betrügerbande erklärt werden. Der französische Historiker – der justament für „sein Buch „Das Gesetz des Blutes“ den Yad Vashem International Book Prize for Holocaust Studies“ erhielt!! – verharmlost den nationalsozialistischen Totalitarismus zur modernen Managermethode, zu der die Deutschen beileibe nicht gezwungen wurden. Denn sie waren begeisterte Anhänger dieser „Kraft-durch-Freude-Methode“.“

In der Tat, die meisten Deutschen folgten enthusiastisch den Wegweisungen ihres Führers. Hätte Chapoutot die deutsche Bewegung erforscht, wäre er nicht erstaunt gewesen über die Leidenschaft der Deutschen, ihre Überlegenheit über die Welt mit allen Mitteln zu beweisen.

Hitler war das Produkt der Faszination und Begierde einer jahrhundertealten Entwicklung. Mindestens seit Luther, was deutschen Judenhass und die Verwerfung humaner Menschenrechte betrifft. Mindestens seit Herder, Fichte und den Romantikern, was die aggressive Ablehnung der Vernunft und der Gleichheit aller Menschen betrifft. Wenn die gnadenlose Verfolgung der Hitlergegner, die Vernichtung von Millionen Juden, Sinti und Roma, die Tötung von Millionen Sowjetrussen, Polen und anderer Völkern: wenn all das kein barbarischer Totalitarismus sein soll, gibt es keinen. Ein Totalitarismus ist umso verheerender, je mehr fanatische Anhänger er besitzt.

Mit der Deutschen Bewegung beginnt die neuere Geschichte der – inzwischen überall grassierenden – Identitätspolitik, die nichts anderes ist als der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Gruppe und die Verwerfung aller anderen Gruppen, die das leugnen wollen.

Auf nationaler Ebene sprach man früher von Nationalismus oder Chauvinismus, auf biologischer Ebene von Rassismus, auf religiöser Ebene von Auserwählten, auf kapitalistischer Ebene von der Überlegenheit der Tüchtigen und Erfolgreichen, die das Recht hätten, die Schwachen als Untermenschen vorzuführen.

Inzwischen hat sich der Spieß umgedreht. Unterdrückte von früher sind so selbstbewusst geworden, dass sie mit Ingrimm ihren ehemaligen Ausbeutern und Unterdrückern alle Sünden der Vergangenheit vorführen – um sie verbieten zu wollen.

Das geht inzwischen so weit, dass selbst die bislang unanstößigste, streng beweisbare Mathematik als tückische Methode der ehemaligen Imperialisten „entlarvt“ wird:

„Die Doktorandin Brittany Marshall aus Chicago scheint kurzfristig eine Art Greta Thunberg dieser Bewegung gewesen zu sein, inzwischen ist ihr Twitter-Account gelöscht. Berühmt wurde ihr Zitat: „Die Idee von 2 + 2 = 4 hat kulturelle Gründe.“ Dass Millionen von Schülern seit Jahrhunderten bei der Aufgabenstellung „2 + 2“ das Ergebnis „4“ für alternativlos hielten, sei eine Folge von „westlichem Imperialismus/Kolonisierung“.“ (ZEIT.de)

Natürlich vertragen sich Sprechverbote, die auf Empfindlichkeiten einst unterdrückter Populationen beruhen, nicht mit der Meinungsfreiheit der Demokratie. Dennoch sollte man die Gründe solcher Begehrungen erforschen und zu verstehen suchen. Nur draufprügeln, wie es die deutsche Presse exekutiert, ist nichts anderes als jene „cancel-culture“, die man selbst zu verurteilen pflegt.

Dass sogar die Mathematik, die Krönung aller rationalen Disziplinen, als Instrument der kolonialen Unterdrückung angeprangert wird, ist nicht völlig beliebig. Schließlich ist Mathematik der innerste Kern jener Naturwissenschaften, mit denen westliche Staaten alle „unterentwickelten“ Länder ausgesaugt haben. Freilich, das logische Rechnen ist schuldlos an seinem Missbrauch für niederträchtige Zwecke.

Was bedeutet das? Selbst in rationalen und unverdächtigen Dingen werden wir von vorne beginnen müssen, um uns weltweit zu verständigen. Galt Demokratie bislang nicht als Erfindung der Griechen? Müsste sie nicht auch als imperiale Überlegenheitsattitüde der Europäer abgelehnt werden? Da kommt noch einiges auf uns zu.

Der stehendste Sumpf der Deutschen ist die unsägliche Kritiklosigkeit gegenüber ihrer Kanzlerin. Inzwischen hat die Lutheranerin den Status des Heiligen Stuhls im Vatikan erreicht: sie ist unfehlbar geworden. Was auch immer sie tut, es wird wortlos hingenommen. Die Stummheit des Kanzleramtes hat Deutschland komplett infiziert.

Das deutsch-französische Verhältnis ist zerrüttet:

„Die Bundeskanzlerin sagte ab, kein Interesse. Ihre wahren Gründe werden bis zur Veröffentlichung ihrer Memoiren unklar bleiben, womöglich auch darüber hinaus. Vermutlich hatte sie einfach keine Lust auf solches Pathos eines europäischen und politischen Newcomers.“ (Sueddeutsche.de)

Merkel wusste, dass die Krankenhausmanager logen, als sie von Überlastung sprachen – nur, um dem Staat Gelder zu entlocken. (BILD.de)

Merkel ließ alles geschehen, wie es geschah. Gemäß ihrem augustinischen Motto deus lo volt:

„Merkel hat die Gesellschaft nie wirklich gefordert. Ihre Kernbotschaft war, dass in Deutschland alles bleibt, wie es ist, und dass das schöne Getriebe nur richtig gewartet und hin und wieder justiert werden muss. So ist der gesellschaftliche Reformwille auch deshalb verkümmert, weil er gar nicht erst abgerufen wurde. Die gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten in der Coronakrise haben gezeigt, wie fatal dieser Kurs für Deutschland war.“ (SPIEGEL.de)

Auch mit Menschenrechtsverletzungen hat es Merkel nicht so. Das betrifft nicht nur ihre blinde Loyalität gegen die israelische Besatzungspolitik:

„Bundeskanzlerin Merkel hält sich aber weitgehend mit Kritik an den Menschenrechtsverletzungen zurück, vermeidet mit Blick auf die Uiguren den Begriff „Genozid“. Deutschland sorgt sich um seine Absatzmärkte in China, lange verbrämt mit der Formel vom „Wandel durch Handel“.“ (WELT.de)

Einem ugandischen Despoten, der seine Untertanen schändlich drangsaliert, gratuliert sie formvollendet:

„Ich war entsetzt, als ich las, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel Präsident Museveni kürzlich zu seiner Wiederwahl gratuliert hat. Stoppen Sie die finanzielle Unterstützung für Uganda. Solange diese Gelder hauptsächlich in den Sicherheitsapparat fließen, während die Infrastruktur im Land immer mehr zerfällt und es den Menschen immer schlechter geht, ist jede Finanzspritze für dieses Land reine Geldverschwendung. Knüpfen Sie Gelder an die Achtung von Menschenrechten.“ (SPIEGEL.de)

Scharf kritisiert der amerikanische Ökonom Stiglitz den Patentschutzwahn der Kanzlerin, der schreckliche Folgen für Millionen Menschen haben wird:

„Der Patentschutz für Covid-Impfstoffe muss dringend ausgesetzt werden. Die Pandemie wird wüten, solange Angela Merkel das verweigert. Was bei der Debatte über den richtigen Kurs im Umgang mit den Covid-19-Impfstoffen überrascht: dass es ausgerechnet die deutsche Regierung unter Führung von Angela Merkel ist, die sich bisher einer rationalen Lösung widersetzt. Das ist deshalb überraschend, weil sich die Deutschen grundsätzlich zugutehalten, immer sehr rücksichtsvoll gegenüber den Interessen anderer Nationen, wenn nicht sogar der Weltgemeinschaft insgesamt zu agieren. Die wirtschaftlichen Kosten dieser Starrköpfigkeit für die ganze Welt, ganz zu schweigen von den Verlusten an Menschenleben, werden enorm sein. Der Internationalen Handelskammer zufolge könnten sich die Kosten auf bis zu 9,2 Billionen US-Dollar belaufen, wenn den Entwicklungsländern kein eigenständiger Zugang zu den Covid 19-Vakzinen verschafft wird. Die Hälfte dieser Kosten wird übrigens in den Industrieländern entstehen.“ (ZEIT.de)

Das ist nur eine kleine Auswahl der politischen Sündenliste der Kanzlerin, die sich in einer totalen Reformblockade im Kanzleramt verbarrikadiert hat. Zu keinem wichtigen und brisanten Konfliktthema verliert sie ein Wörtchen. Man müsste von kompletter Arbeitsverweigerung reden, die man noch vor kurzem als Durchwursteln verniedlichte.

Auf die abnorme Situation reagiert die Presse, die in Deutschland zur Normalität wurde, in reziproker Stummheit. Gelegentlich mahnende Worte bleiben Ausnahmen, die die Regel bestätigen.

Die Vierte Gewalt hat Besseres zu tun als der Kanzlerin die letzten Wochen an der Macht zu vermiesen: jetzt schon entwerfen sie die überschwänglichen Lobeshymnen zum Abschied Merkels.

Dass Deutschland nicht in die Gänge kommt, liegt woran? Dass das Land mit dem gigantischen Ballast seiner Vergangenheit in allen Poren verstopft ist.

Fortsetzung folgt.