Kategorien
Tagesmail

nichtsdesto-TROTZ XXXI

Tagesmail vom 16.06.2021

nichtsdesto-TROTZ XXXI,

Neuanfang in Deutschland?

Während die Viruskrise sich dem Ende zuneigt, öffnet sich das Tor ins Verhängnis.

Keine einzige deutsche Partei entwirft den Gesamtzustand einer natur- und menschenfreundlichen Gesellschaft. Sie machen Fingerhakeln um fast nichts.

Wir leben in Zeiten des Umbruchs: mit Kalendersprüchen dekorieren Politiker ihre Unfähigkeit zum Bruch mit dem Bestehenden. Alles soll weitergehen wie bisher. Bisher war: das schaffen wir.

„Wir schaffen das. Merkel hat die Gesellschaft nie wirklich gefordert. Ihre Kernbotschaft war, dass in Deutschland alles bleibt, wie es ist, und dass das schöne Getriebe nur richtig gewartet und hin und wieder justiert werden muss. So ist der gesellschaftliche Reformwille auch deshalb verkümmert, weil er gar nicht erst abgerufen wurde. Die gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten in der Coronakrise haben gezeigt, wie fatal dieser Kurs für Deutschland war. Um den Willen zur Veränderung wieder zu wecken, braucht es neue Formen und eine neue Ansprache der Politik. Die Zeiten, da die Wähler einen Blankoscheck ausstellen und die gewählten Mächtigen machen lassen, gehen mit Merkels Abgang vorüber. Wer morgen große Reformen angehen will, muss sie heute seriös und nachvollziehbar begründen. Schwer vorstellbar, dass sich die Deutschen einer Veränderung dann noch verweigern würden.“ (SPIEGEL.de)

In Deutschland bleibt alles, wie es ist: das ist nicht nur Merkel-Stil. Das ist die gemeinsame Politik der Mächtigen & Schreibenden. Die Kratophilen wollen ihre Kratos, die Faktophilen ihre vertrauten Fakten nicht aus den Augen verlieren. Schon gar nicht wollen sie sich auf lebensrettende Utopien umstellen.

Auf Deutsch: die Macht-Verliebten wollen nicht das Objekt ihrer Begierde, die Schreib-Verliebten nicht ihre vertrauten Tatsachen einbüßen. An die Maske vor dem Gesicht haben sie sich gewöhnt, das Brett vor ihrem Hirn ist ihnen noch nicht aufgefallen. Übrigens: Pädophile lieben nicht die Opfer ihrer Begierde, sondern schänden sie. Was folgt daraus?

Was würde geschehen, wenn die Grünen ihre jugendlichen Utopien aus dem Keller holen und den Deutschen vor den Latz knallen würden?

Die Schreib-Verliebten wären die ersten, die ihnen den Star stechen würden: geht zum Arzt, ihr Grünen. Wer Utopien nötig hat, muss bereits himmelwärts schweben. Jeden Moment kann er ins Inferno stürzen. Wer solche Versprechungen macht, muss scheitern.

Sind Forderungen Versprechungen? Weiß nicht jeder – nur die Schreibenden nicht –, dass man sich Ziele setzen muss, denen man sich nur in Kleinarbeit annähern kann? Parteien können machen, was sie wollen: ihre Beobachter in der Loge zerreißen sie. Konkretisieren jene ihre bekannten Forderungen, heißt es: nichts Neues im Staate Dänemark. Malen jene ihre utopischen Ziele an die Tafel, heißt es: Schwärmer und Luftikusse. Wer soll das bezahlen?

In der Schweiz wurden Klimareformen vom Volk abgelehnt, weil reformfeindlichen Eliten die propagandistische Lüge gelang, Klimamaßnahmen würden vor allem die Schwachen schädigen. Sonst denkt niemand an die Armen. Plötzlich werden sie benutzt, um sie in die Pfanne zu hauen.

Ähnlich Sahra Wagenknecht in Deutschland. Greta & Luisa hält sie für verwöhnte Unheilsgören, deren Klimaforderungen die Schwächsten am meisten träfen. Den Begriff Gerechtigkeit, den sie bei Marx als autonome Maxime nie finden konnte, sucht man in ihrem Buch vergeblich.

Gerechtigkeit der Natur und dem Menschen gegenüber ist etwas, was man selbst herstellen muss. Weil man in Jahrtausenden dem Menschen nicht gerecht wurde, musste die Natur dran glauben. Weil man der Natur nicht gerecht wurde, plünderte man den Menschen.

Was geschieht in Deutschland, um die ungerechten Verhältnisse zu beenden? Das dreiste Gegenteil:

„Die Deutschen sollen mehr arbeiten, weniger Urlaub machen. Hieße: Pro Woche mindestens 36 Stunden arbeiten (statt durchschnittlich 34 im Jahr 2019). Auch die Zahl der Urlaubstage soll runter. Anderthalb Urlaubswochen sollen wegfallen! Durch Reduzierung von Teilzeit (etwa durch bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf) könnte die Arbeitsleistung ebenfalls steigen, so mit bis zu 7,7 Milliarden Zusatz-Arbeitsstunden im Jahr in zehn Jahren bis zu 6 Prozent höhere Wirtschaftsleistung entstehen (0,6 Prozent/Jahr).  Viele Frauen beispielsweise arbeiten unfreiwillig in Teilzeit, weil Kitaplätze fehlen. Allein für die Unter-Dreijährigen fehlen 340.000 Betreuungsplätze. Diese Versäumnisse aus den vergangenen Jahrzehnten kommen uns jetzt teuer zu stehen. Um die Krisenfolgen zu bewältigen, müssen wir jetzt alle mit anpacken.“ (BILD.de)

Geht es noch unverschämter? Seit Jahrhunderten wird der technische Fortschritt den Menschen mit dem Argument verkauft, sie würden sich immer weniger plagen müssen. Die Mühen ständiger Veränderung zahlten sich eines Tages aus. Je mehr Maschinen die Regie übernehmen, je weniger müssten Menschen arbeiten.

Und was geschieht? Das Gegenteil. Je dominanter die Maschinen, desto mehr müssen sich die Menschen zu ihren Knechten degradieren. Das vitale Leben wird immer mehr stranguliert, die Wirtschaft folgt der Devise des Paulus: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.

Wie man den Umbruch organisieren kann, zeigt den Deutschen ein regierender Greis aus Amerika:

„Der US-Kongress ist überzeugt, dass Google, Apple, Facebook und Amazon ihre Macht missbrauchen – und will die Konzerne mit fünf neuen Gesetzentwürfen zügeln. „Die Unternehmen“, schreiben die Abgeordneten in einer Mitteilung, „wecken Erinnerungen an die Ära der Öl-, Stahl- und Eisenbahn-Mogule.“ Also an Rockefeller, Carnegie und Vanderbilt. Es handelt sich um den bisher bedeutendsten Vorstoß der US-Politik gegen die Internetkonzerne. Man könnte von einer Kriegserklärung an Big Tech sprechen. Die Maßnahmen würden die Branche radikal verändern.“ (WELT.de)

Erinnerungen an den New Deal werden wach, der den damaligen Rockefellers an den Kragen ging. Nach dem Krieg gab es keinen einzigen Milliardär mehr, die Zahl der Millionäre war überschaubar. Heute sind die Milliardäre der Welt dabei, der Menschheit im Sauseschritt die letzten Groschen aus der Tasche zu ziehen. Keine Mitglieder der GROKO oder derer, die GROKO werden wollen, die diesen unfasslichen Raub an der Menschheit mit einem einzigen Wörtchen erwähnen würden.

Die unsichtbare Hand, die die egoistischen Triebe zum finalen Wohle aller harmonisieren würde, verwandelte sich zur apokalyptischen Klaue, die das kollektive Verderben herbeiführt. Ganz langsam melden sich neue Ökonomen zu Wort (unter ihnen so gut wie keine Deutschen), die sich dem Elend stellen:

„Je mehr Wettbewerb es in einer Gesellschaft um den Status gibt, desto mehr nimmt bei vielen Menschen das Wohlbefinden ab. Diejenigen, die in bestimmten Bereichen mithalten können, schließen sich in immer kleineren Gruppen zusammen und alle anderen aus. Die Gesellschaft spaltet sich auf, es fallen immer mehr Menschen unten aus dem System heraus, all die, die eben nicht mithalten können. Und die fühlen sich dann zu Recht ausgeschlossen. Gleichzeitig wuchs der Wunsch nach den immateriellen Teilen des Wohlbefindens, nach Liebe, Anerkennung, dem Eingebundensein. Nur wissen das viele Menschen nicht. Sie glauben immer noch, ihr Wohlbefinden hängt von ihrem Statuskonsum ab, von der Kreuzfahrt in der Luxuskabine, der Gucci-Uhr. Also produzieren wir immer mehr Güter und Dienstleistungen, die dem Status dienen. Und unterschätzen, wie wichtig die immateriellen Güter sind. Dazu kommt auch noch, dass wir uns an die Dinge gewöhnen. Die müssen also immer größer und toller werden, damit sie noch den gleichen Effekt haben. Gleichzeitig plündern wir den Planeten – für ein Glück, das von kurzer Dauer ist. Ich nenne das the great wasteful delusion oder auf Deutsch: die große, Müll produzierende Illusion. Der wirtschaftliche Fortschritt, den die Welt in den letzten 300 Jahren erlebt hat, beruht auf zwei Grundlagen: Zusammenarbeit und Innovation. Dabei stellt sich heraus, dass Innovation wiederum in erster Linie durch Zusammenarbeit entsteht. Ohne Kooperation kann der Mensch sehr wenig erreichen. Marktwirtschaft ist das Produkt unserer Interventionen. Es ist daher Unsinn von einem freien Markt zu träumen, aus dem sich die Politik ganz heraushält.“ (ZEIT.de)

Es gibt keine freie Marktwirtschaft, in der die Wirtschaft ohne Unterstützung des Staates agieren könnte. Das Wörtchen liberal heißt für die Reichen: wir halten die Hand auf, um den Staat zu schröpfen, doch wehe, der Staat mischt sich in unsere Angelegenheiten ein.

Seit dem Aufkommen der exakten Naturwissenschaften wurden alle Denkwissenschaften zur Makulatur verurteilt. Zur letzteren gehörte die Ethik:

„Für die Ökonomen wurde Ethik uninteressant. Es wurde unnötig, über sie zu sprechen, man konnte sich ja auf die Unsichtbare Hand des Marktes verlassen – sie würde private Laster (wie Selbstsucht) schon in Allgemeinwohl (wie Wachstum und Effizienz) verwandeln.“ (Tomas Sedlacek, die Ökonomie von Gut und Böse)

Das gilt noch heute für Hayeks Neoliberalismus, der der jüdisch-christlichen Religion entspricht, dass Gott die Zufälle nach seinem Wohlgefallen lenkt. Auch hier sind die Grundlagen des Erlöserglaubens die innersten Prinzipien einer „objektiven“ Wissenschaft.

Das Dogma des Mittelalters, dass Gott das Böse braucht, um das Gute vorwärtszubringen, wurde bei Mandeville zum eisernen Grund der modernen Ökonomie. Private Laster werden öffentliche Tugenden, Mandevilles Devise wurde zur Triumphparole der Händler, Krämer und Fabrikanten.

„Es gibt keinen Handel ohne Betrug, keine Obrigkeit ohne Bestechung und Korruption.“ (ebenda)

„Stolz und Eitelkeit haben mehr Hospitäler erbaut, als alle Tugenden zusammengenommen.“ (Mandeville)

Mit der Verherrlichung des instrumentellen Bösen kam es zur modernen Schizophrenie, die noch unsere gesamte Gegenwart bestimmt:

„Wir wettern gegen das Laster – und anerkennen es als Quelle unseres Wohlstands.“ (ebenda)

Wären wir ehrlich, müssten wir korrupte Politiker für ihren Mut auszeichnen, dem lasterhaften Stimulus unserer Wirtschaft Folge zu leisten. Nur konsequent, wenn die eifrigsten Antimoralisten kaum ein kritisches Wort über die Machenschaften der Korrupten verlieren.

Stattdessen fallen sie schäumend über Peanuts der grünen Kanzlerkandidatin her. Wirecard? Ein vorzügliches Zeichen der moralfreien Wirtschaft unseres Landes. Flüchtlingsverderben im Mittelmeer? Zeichen der Genesung unserer Kanzlerin, nachdem sie sich lächerliche Almosen-Schwächen erlaubt hatte.

„Wie hat‘s ein solches Land gut, wo Macht ganz auf Verbrechen ruht.
Stolz, Luxus, und Betrügerei, muss sein, damit ein Volk gedeih.“ (Bienenfabel von Mandeville)

Mandeville wurde zum Machiavelli des Mammons. Wohl uns, die wir eine machiavellistische Kanzlerin haben, damit es uns auch in Zukunft gut gehen wird.

„Bisher war ich davon ausgegangen, dass es auf der Welt noch nie ein anderes Buch wie die Werke von Machiavelli gegeben habe. Doch Mandeville geht weit darüber hinaus.“ (Ein englischer Zeitgenosse Mandevilles)

Atmen wir auf. Solange wir amoralische Sünder bleiben, solange kann uns der Wohlstand nicht verlassen.

Das gleiche Prinzip der Doppelmoral gilt auch für die Erfüllung unserer Bedürfnisse. Das Streben nach Gütern können wir nicht davon abhängig machen, dass wir unsere begrenzten Bedürfnisse erfüllen. Sonst hätten wir – im übersättigten Westen – längst die Wirtschaft still stellen müssen. Denn mehr genießen als man benötigt, wäre ausgeschlossen.

So aber gilt das Motto: je satter wir sind, umso mehr müssen wir uns bemühen, die ekelhafte Begrenztheit und Erfüllbarkeit unserer Begierden zu überwinden und ins Unbegrenzte zu öffnen. Zufrieden ist langweilig, stupide und vor allem wirtschaftsschädlich. Wir brauchen Gier, grenzenlose Gier. Nur sie wird uns befähigen, in gottähnliche Unendlichkeit zu expandieren.

Die Sucht nach dem Unbegrenzten – für Aristoteles etwas Schlechtes – wurde in der Neuzeit zur kreativen Tugend. Was zur Folge hatte, dass genügsame Vernunft unfähig wurde, uns in eine siegreiche Wettbewerbswirtschaft zu verwandeln. Vernunft legt Wert auf begrenzte und erfüllbare Bedürfnisse.

Unsere unbegrenzten, ziellosen Taten aber sollen unfähig sein, unseren irrationalen Instinkten Einhalt zu gebieten. Die Logik des Marktes ist der kühlen Ratio nicht zugänglich. Gott lob! So können wir uns getrost auf unsere Bosheiten verlassen. Je unvernünftiger sie scheinen, je vernünftiger ist ihre verborgene Logik. Dem Himmel sei Dank, dass wir auf unsere jämmerliche Vernunft nicht angewiesen sind.

Aufklärung, die alles verstehen will, ist nämlich Hybris der menschlichen Vernunft und wird sich bitter rächen. Was wir hingegen brauchen, ist blindes Vertrauen in Vorgänge, die sich unserem Kopf entziehen.

Es hat seine Logik, wenn die Springer-Presse gegen Antisemitismus moralisch am heftigsten wütet, in allen anderen Fällen aber jegliche Moral verteufelt. Warum sind deutsche Intellektuelle in den schwäbischen Dialektiker vernarrt? Weil sie hoffen, dessen Harmoniekünste werden sie in ihren krankhaften Widersprüchen hüten und beschützen. Selbst der gestrenge Kant war nicht davor gefeit, den Menschen nicht ganz dem kategorischen Imperativ zu überlassen.

„In einem arkadischen Schäferleben bei voller Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe wären alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen geblieben.“ (Ideen zu einer allgemeinen Geschichte …)

Auch Kant wäre kein Freund einer gesitteten und gerechten Ökonomie gewesen. Er gab den Deutschen die Lizenz, sich um des Fortschritts willen der kategorischen Pflicht zu entledigen und die antinome Natur walten zu lassen.

Wie aber ist der Kampf gegen Antisemitismus einzustufen? Ist er kein Akt der Moralität, kein Kampf für die bedingungslose Geltung der Menschenrechte? Wenn es so wäre, wie könnten Springer-Amoralisten noch glaubwürdig gegen moralfeindliche Judenhasser vorgehen?

Die „Menschen auf der Straße“ spüren instinktiv die Moralheuchelei von BILD und WELT, wenn sich diese Gazetten als vorbildliche Philosemiten aufspielen. Könnte die doppelte Buchführung nicht im Gegenteil dazu beitragen, den unbewussten Antisemitismus der Gesellschaft zu verschärfen? Im Sinne des Mottos: was jene können, können wir schon lange?

Merke: wer Amoral für Freiheit hält, gibt Antisemiten das Recht, ihren Hass als Freiheit zu verkaufen. Wahrlich, wahrlich: ein überzeugender Kampf für Menschenrechte im Allgemeinen und für Freundschaft mit Juden im Besonderen.

Da macht es sich gut, dass FAZ-Kaube im richtigen Moment für ein Hegelbuch ausgezeichnet wurde. War es doch der harmoniesüchtige Schwabe, der den Satz schreiben konnte:

„Das Volk der Juden ist in der Verruchtheit des Hasses zur Hölle gefahren.“

Das war nichts anderes als die theoretische Agenda für die Shoa. Wie begründete die Jury ihre Auszeichnung?

„Hegel sei immer bereit gewesen, neue Wissensgebiete zu erschließen und die eigenen Erkenntnisse in Frage zu stellen: „Dieses Sicheinlassen auf eine sich ändernde Welt macht Hegel so inspirierend für die Gegenwart, in der sich das unvoreingenommene Denken gegen falsche Gewissheiten, Wissenschaftsfeindlichkeit und Ausgrenzung von Schwächeren behaupten muss.““

 Kaube selbst war beeindruckt von Hegels „Setzen auf eine Karte: Freiheit“. (TAGESSPIEGEL.de)

Zur Hegels Freiheit, dem Opium deutscher Intellektueller, passt wie die Faust aufs Auge der Hegelsatz:

„Nicht darauf kommt es an, was der einzelne gesagt und getan hat, sondern die ewigen Gedanken des ewigen Geistes, dessen Werk die Geschichte ist, in sich nachzudenken.“

Herman Nohl kommentiert:

„Damit war die personale Freiheit und ihre Individuelle Entscheidung und Tat … ausgelassen. Über dem Einzelnen stand der objektive Zusammenhang der Wirklichkeit, dessen Logik der Einzelne nichts dazu- oder abtun konnte. Höchstens konnte er dem Riesen etwas Stiefelschmiere an die Füße geben.“

Die deutschen Geistesriesen lassen sich tief herab, um die Stiefel ihres Helden auf Hochglanz zu polieren – mit Stiefelschmiere der Deutschen Bewegung. Doch die Deutschen kennen keine Deutsche Bewegung.

Den Morast der deutschen Vergangenheit haben wir beileibe nicht durchschritten.

Fehlt da nicht eine prominente Protestanten, die ihren Reformator zwar des Antisemitismus‘ anklagt, aber nur zum Zweck, ihn als Helden ihres Glaubens umso freudiger zu rehabilitieren?? Womit wir bei Margot Käßmann gelandet wären:

„Sein Antijudaismus und Antisemitismus sind nicht zu leugnen, sondern ein schweres Erbe für die Kirche, die sich nach ihm benannt hat. Sie überschatten, aber mindern nicht seine anderen Verdienste, theologisch wie gesellschaftlich. Seine Infragestellung der kirchlichen Macht von der Bibel her, die Kritik an Papsttum und Zölibat, an der Ablasspraxis haben die kirchliche Welt vollkommen verändert. Seine Übersetzung der Bibel war ein entscheidender Ausgangspunkt für eine gemeinsame deutsche Sprache. Sein Bildungsimpetus, jeder und jede solle lesen und schreiben lernen, hat langfristig demokratische Mitsprache ermöglicht. Und theologisch sprach er davon, dass jeder Mensch »simul iustus et peccator sei«, also Gerechter und Sünder zugleich. Das gilt eben auch für ihn selbst.“ (SPIEGEL.de)

Das ist eine Freisprechung à la carte. Sünder und gerecht zugleich: das war die theologische Grundlage des Mandeville’schen Wirtschaftsmachiavellimus. Sündiget tapfer, wenn ihr am Ende nur bereut – und fröhlich weiter sündigt. Dass Luther gar die Grundlage für die spätere Demokratie gelegt haben soll, muss jeden erfreuen, der Römer 13 bislang als Heiligsprechung jeder totalitären Obrigkeit empfand.

Die Wirrnis der deutschen Lügen – pardon, der dialektischen Synthese aller Widersprüche – ist unmöglich aufzulösen. Doch stopp, beinahe hätten wir einen durch und durch wahren Satz der Ex-Bischöfin übersehen. Ist es ein Gruß an Alan Posener, der noch vor kurzem behauptete, die Kirchen seien reine Widerständler gegen Hitler gewesen? Hätte „Jana aus Kassel“ sich als Lutheranerin und Bewunderin der Sophie Scholl vorgestellt, wäre sie mit dem Lutherpreis des Jahres dekoriert worden.

„Bis auf wenige Einzelne, etwa die mutige Lehrerin Elisabeth Schmitz aus Hessen, versagte die Evangelische Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus: Sie schützte Menschen jüdischen Glaubens nicht und stellte sich dem Holocaust nicht entgegen. Erst nach 1945 begann sie schrittweise, den verhängnisvollen Weg des Antijudaismus zu verlassen.“

Könnte die Schuld, die übergroße Schuld der Protestanten, nicht damit zusammenhängen, dass Luthers Antisemitismus unlösbar verknüpft war mit seinem – von Käßmann behaupteten – unvergänglichen Verdienst an der Erneuerung des christlichen Glaubens?

Wie lautete seine reformatorische Urformel?

„So halten wir nun dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerecht gesprochen werde ohne Werke des Gesetzes.“ (Römer 3, 28)

Christ und Judenfreund zugleich kann man nur sein, wenn man Luthers Mahnung ignoriert: „Das Wort, sie sollen lassen stahn und keinen Dank dafür haben.“

Christen erfinden ihre Offenbarung täglich neu. Wissen sie doch besser, was Gott ihnen eigentlich sagen wollte. Ihm mangelte es nur an modernen Sprachkünsten. Genau hier können Ihm seine wendigen Jünger und Jüngerinnen zu Hilfe kommen. Hat doch jede Offenbarung ihre zwei Seiten.

Festhalten am Gesetz: das war jesusfeindliches Judentum, das von den Christen bis heute gehasst wird. Dieses Judentum war unvereinbar mit Jesu Gnadenwerk. Hier stehen wir auf dem Boden des ursprünglichen Antisemitismus. Luther wird als nationaler Heros gefeiert, weil er a) die Juden für unfähig erklärte, Gottes Gesetz zu erfüllen und b) allen Menschen die Fähigkeit zur autonomen Moral absprach. Die Moralverleumder der Gegenwart sind noch immer emotionale Lutheraner, somit Vertreter des totalen moralischen Bankrotts aller Menschen. Und nur im Falle der Juden halten sie sich plötzlich für fähig, den Geboten der Menschheit zu genügen?

Wäre es nicht sinnvoll und nützlich, bei einem Neuanfang zuerst den religiösen und wirtschaftlichen Morast wegzuschaufeln? Damit die Menschen wieder einen klaren Kopf bekommen – um mit frischer Kraft von vorne zu beginnen?

Fortsetzung folgt.