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nichtsdesto-TROTZ XLVI

Tagesmail vom 21.07.2021

nichtsdesto-TROTZ XLVI,

„Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik“ – entrüstete sich Armin, der CDU-Kandidat.

„Armin, germanisch ermin/irmin bedeutet groß, gewaltig, heldenhaft.“

Der Heldenhafte wird das Erbe der Engelgleichen übernehmen.

Für diesen in Gott ruhenden Satz werden die Deutschen den Gewaltigen wählen. Sie brauchen Kontinuität und sichere Perspektiven, keine Hampeleien wegen einer Klimakatastrophe.

Wie lange ist es her, dass Alarmisten hierzulande verhöhnt wurden – während das Wirtschaftswunderland sich rasant den Pforten des Paradieses näherte?

Disruption, Umbruch und hektische Veränderung: solche transatlantischen Nervositäten waren bodenständigen Germanen von Anfang an ein Gräuel.

Doch weil sie Verlierer und Sünder waren, mussten sie die Gedanken ihrer Besieger und Befreier übernehmen – zur Probe. Jetzt, da die Zeiten ernst werden, geht die Probezeit dem Ende entgegen: hinweg mit fremden Über-Ich-Schmankerln.

Die Flut bringt das Verschüttete an den Tag: der Deutsche bleibt sich treu bis in den Tod. Fremdes Gedankengut stößt er ab, seine Lern- und Wanderjahre als reuiger Sünder sind gezählt.

Einmal muss es ja gesagt werden: deutsch sein, heißt, nicht amerikanisch sein können.

Bange Frage: was wird dann aus der deutsch-amerikanischen Freundschaft, die sich just in diesen Tagen erneuert?

Was ist der Unterschied zwischen dem neuen Kontinent und dem hinterwäldlerischen Deutschland?

Die Zeitvorstellungen.

Amerika hat die christliche Heilszeit vollständig internalisiert und das Reich Gottes auf Erden verwirklicht. Was nicht bedeutet, das Böse sei vollständig vernichtet. Doch die baldige Wiederkehr des Herrn wird für klare Verhältnisse sorgen und die Verworfenen zum Teufel jagen.

Die deutschen Welterlöser und -vernichter waren gespalten. Einerseits waren sie überzeugt, das 1000-jährige Reich der Heilsgeschichte realisiert zu haben. Andererseits fühlten sie sich noch immer einer uralten zirkulären Zeit verpflichtet, die keine linearen Einmaligkeiten kennt.

Christliche und heidnische Zeit waren im Widerstreit miteinander verbunden, weshalb sie die dialektische Versöhnung der Gegensätze benötigten, um ihre inneren Zweifel zu betäuben.

Christliche Zeit ist der lineare Ablauf der Augenblicke und Einmaligkeiten.

„Die „Einzigkeit der Stunde“ ist der archimedische Punkt, von dem aus das Christentum das gegnerische Weltbild aus den Angeln zu heben sucht. Christi Heilstat ist die freie Tat einer „unwiederbringlichen Stunde“. Durch die Setzung einer unwiederbringlichen Stunde hat das Christentum den Kreislauf der heidnischen Zeit unterbrochen. Der Kreuzestod geschieht an einem ganz bestimmten, unauswechselbaren, an keinem andern Ort möglichen Punkt des Zeitablaufs. Alles, was geschieht, geschieht für den Christen auf einer Linie – einer Linie, die nicht umkehrbar ist. Von hier aus löst sich alles Geschehen in Geschichte auf: etwas ist einmal geschehen, wird nicht ein zweites Mal so geschehen, ist unwiederbringlich vorbei. Die Welt löst sich auf in eine unendliche Kette von Punkten, die Zukunft verschlingt die Gegenwart und die Vergangenheit.“ (Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland)

Nur in linearer Zeit der unverwechselbaren Augenblicke kann man sagen: wir müssen uns täglich neu erfinden. Sich ständig neu erfinden, heißt, sich von Augenblick zu Augenblick neu erschaffen. In jedem Augenblick schafft Gott die Welt neu. Ohne seine creatio continua würde alles Irdische im Nu versinken. Die Welt ist unfähig, nur einen winzigen Augenblick lang unabhängig von Gott zu existieren. Gottes Odem muss die Welt permanent durchdringen und erneuern, sonst verfällt sie im Nu.

Bis gestern war tägliche Neuerfindung auch die gängige Rede deutscher Politchristen. Durch die Wucht der unvorhergesehenen Sintflut aber wurde bei Laschet etwas ausgelöst, was ihn selbst überraschte: soll ich wirklich gesagt haben, dass ein einmaliger Augenblick mich nicht verleiten darf, mich neu zu erfinden und Abschied zu nehmen von unserer bewährten Politik der letzten Jahre?

Es war keine Disruption, es war die Eruption seines stillgelegten Unbewussten. Der alte Heide in ihm empörte sich gegen die Zumutung des neuen Glaubens, seine Grundsätze zu widerrufen und sich prinzipienlos der Wucht der neuen Augenblicke zu ergeben. In der Not rebellieren alte Dämonen gegen die Ich-Kontrolle fremder Glaubenssätze.

In der Zeit gegenwärtiger Geschichtsfälschungen ist immer öfter zu hören, die nationalsozialistische Ideologie sei ein christenfeindliches Neuheidentum gewesen.

Wohl gab es heidnische Elemente wie das Vertrauen in eine intakte, ursprüngliche Natur. Dieses Vertrauen war ein integraler Bestandteil der deutschen Lebensphilosophie, die gegen die Entwertung der Natur durch Christentum und die Mechanisierung der mathematischen Naturwissenschaften heftig protestierte.

Auch die Romantiker kämpften um die ursprüngliche Mutter Natur, die alles Leben auf Erden zeugt. Bachofens Entdeckung des Matriarchats war ein Affront gegen die christliche Naturverachtung – eine Entdeckung aber, die von Bachofen wieder zurückgenommen wurde durch seine Degradierung des Matriarchats zur untersten Stufe der menschheitlichen Entwicklung, die von den nachfolgenden Epochen patriarchaler Übermächtigung zur Bedeutungslosigkeit degradiert wurde.

Das wurde zum Vorbild der nachfolgenden deutschen Entwicklung. Die ursprünglich-heidnischen Elemente wurden in den Rahmen der Heilsgeschichte eines männlichen Monotheismus eingespannt und erbarmungslos geschleift.

In der industriellen Aufrüstung des DrittenReiches wurde die Natur bedingungslos zur Strecke gebracht. Die frühe antikapitalistische Komponente des nationalen Sozialismus wurde eliminiert. Das Hitlerreich wurde keinen Deut naturfreundlicher als jener westliche Kapitalismus, den es anfänglich ablehnte. Der Wille zur Macht verträgt sich mit keiner Schonung der Natur.

Die Hauptlinie des Nationalsozialismus war eschatologisch-heilsgeschichtlich. Die Geschichte war kein Produkt der Natur, sondern ein göttlich gesteuerter Lauf zum apokalyptischen Finale. Hier zählte keine selbstständige Natur mehr, sondern alles Geschaffene wurde zum Material eines naturfeindlichen Heilsautomatismus.

Das von Gott verheißene Endreich Gottes war identisch mit dem 1000-jährigen Reich, der wiederkehrende Herr verschmolz mit dem gottgesandten Führer. Der christliche Überbau erstickte jeden Versuch der Natur, ihre naturfeindliche Überfremdung abzuwerfen und zurückzukehren zur chthonischen Urmutter.

Man könnte die Rebellion der weiblichen Natur gegen das männliche Heil als eine der frühesten ökologischen Bewegungen des Abendlandes betrachten. Die Rebellion misslang wegen der inkonsequenten Zweideutigkeit der Deutschen, die sich zwischen Friedensschluss mit der Natur und religiösem Willen zur Allmacht nicht entscheiden konnten. Das unstillbare Bedürfnis nach Triumph und Überlegenheit erklärte den Willen zum Friedensschluss mit Mensch und Natur zur Torheit.

Die Lebensphilosophie war eine unausgegorene Mixtur aus Sehnsucht nach der ursprünglich-weiblichen Natur und einer entgegengesetzten Flucht zur Allmacht eines männlich-omnipotenten Erlösers.

In diesem Hin und Her gab es durchaus kritische Töne gegen die Heilsgeschichte.

„Die Kritik lautete, dass sich die Welt entleeren würde. Alles verflüchtige sich in hastiger Bewegung, denn nie lasse sich das Feste ergreifen. Die Idee eines unaufhaltsamen Fortschreitens auf einen bestimmten Punkt entwerte das Gegenwärtige zugunsten eine besseren Zukünftigen. Es mache dabei im wesentlichen keinen Unterschied, ob ein Fortschreiten auf das christliche Reich Gottes oder die klassenlose Gesellschaft oder ein anderes Endziel gemeint sei. Mit seinen Fortschrittslehren jeder Art hat das Christentum die moderne Welt erschaffen – wogegen sich der konservativrevolutionäre Aufstand sich gerichtet hätte. (ebenda)

Die Deutschen wollten anders sein als der naturfeindliche Kapitalismus des Westens. Doch sie schafften es nicht. Zwischen Natursehnsucht und Machtgelüsten entschieden sie sich für natur- und menschenfeindliche Gewalt. Gegen die Macht ihrer religiösen Prägung hatten sie keine Chance.

Worin bestand diese Prägung? Das war die Antwort des katholischen Gelehrten Romano Guardini:

„Das europäische Bild vom Menschen ist zutiefst christlich bestimmt. Es ruht auf dem Einfluss der Erlösungstat Christi. Diese hat den Menschen aus dem Bann der Natur gelöst und ihm eine Unabhängigkeit von der Natur und von sich selbst gegeben, die er auf dem Wege einer nur natürlichen Entwicklung nie hätte erreichen können, weil sie auf jener Souveränität ruht, in welcher Gott selbst zur Welt steht. Nichts ist falscher als die Meinung, die neuzeitliche Herrschaft über die Welt in Erkenntnis und Technik habe im Widerspruch zum Christentum errungen werden müssen, das den Menschen in untätiger Unterwürfigkeit halten wollte. Das Gegenteil ist wahr: das ungeheure Wagnis der modernen Wissenschaft und Technik, dessen Tragweite wir nach den letzten Erfindungen mit tiefer Beunruhigung empfinden, ist nur auf Grund jener personalen Unabhängigkeit möglich geworden, welche Christus dem Menschen gab. Das Schema des geschichtlichen Daseins ist nicht die Wiederkehr der Dinge, der Kreislauf des Werdens, Vergehens und Wiederwerdens, sondern jene Einmaligkeit von Person, Entscheidung und Tat, die das Christentum lehrt. Das Christentum hat den Menschen auf eine Ebene der Handlungsfähigkeit gehoben, auf welcher er, wenn er gut wird, besser ist als der Heide, wenn aber böse, dann schlimmer als dieser.“ (ebenda)

Wer gnadenlos böse sein kann, wird nie besser werden als gute Heiden. Die Lizenz zum gesegneten Bösesein besiegt jeden Hang zum spießigen Guten. Als sie – ohne die geringsten Skrupel und Bedenken – weltmeisterlich böse waren, fühlten sie sich am Ziel ihrer Vorsehung angekommen.

Christentum ist Beherrschung von Natur und Mensch im Namen eines omnipotenten Mannes. Das heutige Fehlen jeglicher Kritik an der Wissenschaft, die diese Gier nach Übermacht realisiert, zeigt die ungetrübte Dominanz des Glaubens. Entweder wird Wissenschaft in dumpfer Reaktion – den letzten Resten der Lebensphilosophie – angegriffen oder sie wird in kritikloser Begeisterung idolisiert. Eine kritische Abwägung ihrer Vor- und Nachteile gibt es nicht.

Warum sind die heutigen Parteien ökologisch so unwirksam und unglaubwürdig – die Grünen mit ihrer Schöpfungsbewahrung eingeschlossen? Weil sie gefühlsmäßig ausschließlich Christen sind, die sich jeder Erkenntnis über die Naturfeindlichkeit ihres Glaubens verweigern.

Streng genommen müssten die Grünen zuerst die Missionierung der Welt zum rechten Glauben betreiben, bevor sie hoffen dürften, die Welt für die Naturrettung zu gewinnen. Ihr gefühlter Glaube, den sie durch keine Schriftlektüre überprüfen, bleibt unwiderlegbar. Er sagt ihnen: im Grunde ist die Natur als Schöpfung des Herrn gar nicht gefährdet.

Ergo glauben sie eher ihren Bauchgefühlen als den Erkenntnissen der Wissenschaft, die ihnen schon immer fremd waren. Sie bleiben ihrem Glauben treu, besonders jetzt in trüben Zeiten:

„Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.“

Moment: Himmel und Erde werden vergehen? Ist das keine Bestätigung, dass Gott höchstselbst seine Schöpfung vernichten wird?

Vordergründig ja. Doch dann gilt das beruhigende Wort:

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Und der auf dem Throne saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu.“

Noch immer halten sich die Deutschen für ein auserwähltes Volk, das an der rechten Hand Gottes sitzen wird, um zu richten alle Völker. Für sie gibt es keinen Grund, sich hektisch um die Rettung der Natur zu bemühen. Gott selbst wird die Rettung dieser Welt verhindern. Die alte Natur muss zerstört werden, um eine völlig neue zu erschaffen.

Das Gefühl der Auserwähltheit ist der ursprüngliche Hass gegen jenes Volk, das seit urbiblischen Zeiten als Volk Gottes gilt. Es kann aber nur ein auserwähltes Volk geben, eines muss vernichtet werden. Das war der völkermordende Antisemitismus der Deutschen.

Noch heute ist Antisemitismus ein untergründiges Ingrediens der deutschen Seele, das immer mehr zu schrecklichen Taten ausartet. Haben sich die Deutschen nicht redlich bemüht, nicht nur mit den hier lebenden Juden und dem israelischen Staat eine gute Beziehung herzustellen – sondern auch ihre furchtbare Vergangenheit zu bearbeiten? Und dennoch scheint es keine Möglichkeit zu geben, die komplizierte gemeinsame Vergangenheit so zu klären, dass die Beziehungen zum Staat Israel auf rationalen Füssen stehen.

Den Stand der Debatte hat in vorzüglicher Weise die jüdische Philosophin Susan Neiman in einem Artikel der BZ zusammengefasst, den wir hier komplett wiedergeben:

„Vor wenigen Jahren sprach mich ein Mann an, der mich für eine Rede vor der AfD werben wollte. Aus reiner Neugierde hörte ich ihm kurz zu, bis ich erwiderte: „Sie können mich nicht mit Islamophobie ködern, schließlich bin ich nicht Henryk Broder.“ Der Mann war regelrecht erstaunt: „Haben Juden denn unterschiedliche Meinungen?“ Alle Juden, denen ich diese Geschichte erzählte, haben lauthals gelacht. Sie wollten nicht glauben, dass die Frage ernst gemeint war. Lautet doch der banalste aller jüdischer Witze: Treffen sich zwei Juden, sind mindestens drei Meinungen im Raum. Wo sonst auf der Welt käme man auf die Idee, eine Regierungskoalition aus acht Parteien zu bilden, außer in Israel?

Doch das Staunen stellt sich nicht nur bei AfD-Mitgliedern ein. Inzwischen merke ich, wie auch viele gebildete linksliberale Deutsche überrascht reagieren, wenn sie erfahren, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland und die israelische Regierung nicht die Totalität jüdischer Meinungen abbilden – noch nicht einmal die Mehrheit, wenn man es international betrachtet. Für eine Mehrheit der Juden der Welt ist die Idee, dass Israels Regierung uns vertritt, so abstoßend, wie es für linksliberale Deutsche wäre, würde die AfD behaupten, sie allein repräsentiere die echten Deutschen – alles andere sei lediglich eine linke Bubble.

Unser Bundespräsident bildet hier eine Ausnahme. Im Jahr 2020 war Frank-Walter Steinmeier der erste deutsche Bundespräsident, der je eingeladen wurde, eine Rede in Israels Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zu halten. Seine Rede begann und schloss mit einem biblischen Zitat: „Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt.“ Doch vordergründig war es nicht der Herr: gepriesen wurde die israelische Nation für ihre Bereitschaft, sich mit dem deutschen Volk zu versöhnen. Steinmeiers Bekenntnis zur deutschen Schuld war glasklar. Israelis, die sich an langatmige Lippenbekenntnisse ausländischer Politiker gewöhnt haben, waren beeindruckt. Viele sagten, es sei die beste Rede, die in Yad Vashem je gehalten wurde.

Mit seinem dezidierten Verständnis der deutschen Vergangenheit nutzte Steinmeier seinen jüngsten Staatsbesuch in Israel, um auch Diskussionen über die Zukunft Deutschlands und Israels zu eröffnen. Auffallend waren dabei seine Ehrungen dreier Israelis, deren Kritik israelischer Politik dem deutschen Publikum bekannt ist: David Grossman, Eva Illouz und Omri Boehm.

Kürzlich erklärte der Schriftsteller David Grossman den Lesern der SZ, warum er etwa das Wort „Apartheid“ benutzt. In der Zeit kritisierte die Soziologin Eva Illouz den Bundesbeauftragten Felix Klein für dessen Gleichsetzung einer Kritik an der israelischen Politik mit Antisemitismus. Weiter schrieb sie für die Wochenendausgabe der Berliner Zeitung, dass die Knesset-Partei Otzma Yehudit weit rechtsradikaler sei als europäische Rechtsparteien; deshalb könnten sie im Grunde nur mit dem Ku Klux-Klan vergleichen werden. Und der Philosoph Omri Boehm betonte in zahllosen Beiträgen in deutschen Zeitschriften sowie in seinem Buch „Israel – eine Utopie“, dass Israel nicht zugleich jüdisch und demokratisch sein könne, wenn die 50 Prozent seiner Einwohner – die Palästinenser – kaum Bürgerrechte genießen.

Boehm schlug deshalb die Bildung eines binationalen Staates vor. Wenngleich er darauf verwies, dass selbst rechts stehende israelische Politiker wie Jabotinsky einst ähnliche Vorschläge befürworteten, weiß er, dass eine Ein-Staaten-Lösung keineswegs bald umgesetzt werden kann. Deshalb lautet als Inschrift seines Buchs jenes Zitat, das jedes israelische Schulkind kennt: „Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen.“ So schrieb Theodor Herzl einst über die Möglichkeit eines jüdischen Staates – 49 Jahre vor dessen Gründung.

In vielen jüdischen Gemeinden sind Positionen wie die von Grossman, Illouz und Boehm keine Seltenheit. Im Gegenteil: Sie sind Teil des Versuches, aus dem Stillstand herauszukommen, der entstanden ist, seitdem realistische Hoffnungen auf eine Zwei-Staaten-Lösung verschwunden sind. Solange die mögliche Existenz zweier Staaten realisierbar schien, konnten demokratische Prinzipien mit der Bewahrung eines jüdischen Staates aufrechterhalten bleiben. Doch weder Israelis noch Palästinenser glauben heute noch daran, dass zwei Staaten entstehen werden. Deshalb müssen wir, wenn wir einen demokratischen Nahen Osten unterstützen, neue Möglichkeiten offen diskutieren.

In Deutschland jedoch werden derartige Diskussionen für illegitim, ja für antisemitisch erklärt. Hätte der BDS-Beschluss des Bundestages von 2018 Gesetzeskraft, dann dürfte keiner der genannten israelischen Denker in staatlich gefördertem Rahmen in Deutschland auftreten. Noch haben die Medien nicht untersucht, wie der Beschluss entstanden ist – nämlich als Reaktion auf einen Vorstoß der AfD, die einen noch härteren Beschluss verabschieden wollte. Nachdem das Bündnis „GG 5.3 Weltoffenheit“ gegen die Anwendung des BDS-Beschlusses protestierte, erstellte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages ein Gutachten, in dem deutlich wurde, dass der Beschluss gegen das Grundgesetz verstieße, wenn er ein Gesetz wäre.

Seit Dezember 2020 hat der BDS-Beschluss deshalb lediglich den Rang einer Meinungsbekundung. Leider ist diese Botschaft bei vielen deutschen Institutionen noch nicht angekommen. Projektgelder werden zurückgezogen, Ausstellungen und Konzerte abgesagt. Neulich wurde die Arbeit der israelischen Künstlerin Shira Wachsmann, für eine Chemnitzer Ausstellung bestellt, in einem anderen Raum gezeigt, weil der Veranstalter einen Brief erhielt, der ihr „israelfeindliche Positionen“ vorwarf. Begründet wurde der Vorwurf damit, dass die Israelin Wachsmann einen Aufruf der Initiative „GG 5.3 Weltoffenheit“ unterstützt habe. Die Musikerin Nirit Sommerfeld, deren Großvater von den Nazis ermordet wurde, wurde wegen kritischer Aussagen zur israelischen Besatzungspolitik mehrfach zur Zielscheibe von Deutschen, die vor angeblichem Antisemitismus warnen. Letztens zirkulierte ein Rundbrief in Ulm, in dem dazu aufgerufen wurde, Sommerfeld nicht mehr zur Friedenswoche einzuladen, wo sie früher auftrat. Betroffen sind immer öfter Juden, auch Israelis, die in Deutschland leben.

Kein Jude, der in Deutschland lebt, muss darüber belehrt werden, dass es hier noch Antisemitismus gibt. Wir erleben es regelmäßig, und zwar meistens aus gutbürgerlichen deutschen Kreisen. Dass anständige Deutsche Ausbrüche von Antisemitismus befürchten, ist verständlich, gar ehrenwert. Langsam, zaghaft, aber letztlich doch ernsthaft hat die Mehrheit der Deutschen Verantwortung für den Holocaust übernommen. Die Erkenntnis, dass viele der eigenen Eltern und Großeltern eine Mitschuld daran trugen, füttert natürlich die Angst vor einer Wiederholung. Die Anerkennung der Täterschaft einer Nation durch die eigene Bevölkerung ist historisch bislang einmalig. Schuld und Scham sind oft die Voraussetzungen moralischer Verantwortung. Wenn der Fokus allerdings auf der eigenen Schuld und Scham verharrt, kann dies den Blick für die Lebenswirklichkeit anderer überschatten. Dies zeigt sich in der deutschen Berichterstattung zu Israel/Palästina eklatant. Aber wer das Schicksal eines anderen Landes zur Staatsräson erklärt, sollte doch auch etwas über dessen Gegenwart wissen.

Die Entscheidung des Bundespräsidenten, sich mit verschiedenen israelischen Stimmen zu treffen, zeigte deutlich, dass er keine Scheu hat, sich mit dieser Gegenwart auseinanderzusetzen. Nur durch Anerkennung verschiedener Denkrichtungen lassen sich demokratische Prinzipien aufrechterhalten. Leider teilt die rechte israelische Zeitschrift Israel HaYom ein solches Demokratieverständnis nicht. Sie kritisierte den Bundespräsidenten dafür, Omri Boehm als Gast seiner Delegation mitgenommen zu haben.

Boehm ist Professor an der New School in New York, wo einst viele deutsche Emigranten – darunter Hannah Arendt – wirkten. Derzeit lebt er in Berlin. Als der jüngste der genannten Denker wirkt er am leichtesten angreifbar. Seine Teilnahme an der deutschen Delegation wurde von Israel HaYom als unakzeptable Einmischung der Deutschen in die israelische Politik gedeutet. Angesichts der Tatsache, dass Jeremy Issacharoff, Israels Botschafter in Berlin, sich stolz seines Einflusses auf den BDS-Beschluss des Bundestages rühmt, könnte man Israel HaYom Chutzpah vorwerfen. Jeder Israeli weiß, was für eine Zeitung das ist: Gegründet vom Casino-Milliardär Sheldon Adelson, der auch Millionen an Trump spendete, wurde die Zeitschrift ins Leben gerufen, um Netanjahu zu unterstützen. Da sie umsonst ist, hat sie die meisten anderen Zeitungen in Israel vom Markt vertrieben.

In ihrem großen, umstrittenen Werk „Eichmann in Jerusalem“ warf Hannah Arendt dem Gericht einen schwerwiegenden Fehler vor. Statt Eichmann wegen „Verbrechen gegen das jüdische Volk“ anzuklagen, hätte die Anklage „Verbrechen gegen die Menschheit“ lauten sollen. Mit diesem Vorwurf stellte sich Arendt deutlich in die universalistische Tradition des Judentums, die im 2. Buch Moses ihren ersten Ausdruck fand: „Ihr sollt den Fremden nie misshandeln, denn fremd ward Ihr im Land Ägypten.“ Übersetzt heißt das: Man soll sich an die eigene Verfolgung erinnern, damit man für alle Formen der Verfolgung wach bleibt. Auch die nationalistische Tradition im Judentum kann sich auch auf biblische Zitate stützen. Etwa dieses: „Vergesst nie Amalek, der Euch immer wieder umbringen wollte.“ Beide Traditionen durchziehen die jüdische Geschichte. Ein Versuch, eine als die wesentliche zu bestimmen, wäre sinnlos. Die nationalistische Tradition wird von Angst getrieben, die universalistische von Solidarität. Irgendwann wird man sich entscheiden müssen, ob es Angst ist oder Solidarität, die die bessere Basis für die Zukunft stellt.

Dass eine Mehrheit der amerikanischen Juden sich als Universalisten versteht, zeigte sich seit den Black-Lives-Matter-Demonstrationen 2020. Hunderte jüdischer Organisationen, darunter das United States Holocaust Memorial Museum, stellten sich gegen Rassismus – im Namen der jüdischen Tradition. Und auch wenn nur eine Minderheit der heutigen israelischen Bevölkerung zum Universalismus steht, ist diese Geisteshaltung dort auch vorhanden. Sie zeigt sich etwa in der unermüdlichen Arbeit von Menschenrechtsorganisationen wie Breaking the Silence, Parents Circle, Combatants for Peace oder Ta’ayush. Die Organisation B’Tselem nennt sich nach einem biblischen Zitat: „Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen.“ So banal es klingen mag, muss es dennoch wiederholt werden: Menschenrechte gelten für alle Menschen.

Die universalistische Tradition wurde auch von den großen deutsch-jüdischen Denkern vertreten: Moses Mendelssohn, Hermann Cohen, Albert Einstein. Umso trauriger ist es, dass diese Tradition heute so sehr in Vergessenheit geraten ist und dass viele Deutsche von der Vielfalt jüdischer Meinungen so erstaunt sind. Hierzulande sind die nationalistischen jüdischen Stimmen so laut, dass die anderen übertönt wurden, und dass selbst die eigene Geistestradition unbekannt bleibt.

Dass der Bundespräsident universalistisch denkt, zeigte nicht nur seine Unterstützung der Vielfalt jüdischer Meinungen. Am 22. Juni dieses Jahres wurde Steinmeier der erste deutschen Bundespräsident, der auch den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion mit klaren Worten bedachte. . Auch wenn die große Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung schon 1995 die Verbrechen dieses Krieges vor allen Augen sichtbar machte, bleibt der Vernichtungskrieg für viele Westdeutsche neben dem Holocaust an der zweiten Stelle – wenn er nicht gleich ganz ignoriert wird.

Selbstverständlich können Historiker die Unterschiede zwischen diesen Verbrechen herausarbeiten, moralisch aber sollten sie zusammen gedacht werden. Der Bundespräsident erinnerte an die Abermillionen an Ziviltoten, an die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener, die Belagerung Leningrads. Seine bewegende Rede folgte der Lebensgeschichte des Rotarmisten Boris Popov – um klarzustellen, dass hinter den Toten Einzelschicksale verborgen sind, die sichtbar gemacht werden müssen. Auch hier zeigte der Bundespräsident, dass deutsche Geschichte heute neu gelernt werden muss, um über die Zukunft nachzudenken. Denken wir gemeinsam darüber nach!“ (Berliner-Zeitung.de)

Das jüdische Volk hat die außerordentliche Leistung vollbracht, dem Land seiner Mörder die Hand hinzustrecken, um es in die Reihe der Völker zurückzubringen. Das deutsche Volk hat die bemerkenswerte Leistung vollbracht, sich seiner Vergangenheit zu stellen, seine historische Schuld anzunehmen und zu bereuen und an verträglichen Beziehungen zu Israel mitzuarbeiten.

Vieles wurde erreicht, was direkt nach dem Krieg schier unmöglich schien. Dennoch scheint es, als wären grundsätzliche Differenzen heute noch immer nicht überbrückt. Nicht mal auf der Ebene der Theorie. Der Pegel des Judenhasses beginnt wieder zu steigen.

Warum?

Fortsetzung folgt.