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nichtsdesto-TROTZ XCI

Tagesmail vom 03.11.2021

nichtsdesto-TROTZ XCI,

ein erster Durchbruch?

Wie viele Durchbrüche muss es denn geben, damit wir erleichtert sagen könnten: ein wirklicher Durchbruch?

Das Pariser Klimaabkommen schien ein echter Durchbruch zu sein – und was wurde draus? Kaum saßen die Weltgewaltigen in ihren luftverpestenden Fliegern, waren die „idealen“ Versprechungen vergessen: die Lobbyisten warteten bereits.

„Langfristig ist die Welt gerettet, nur zwischendrin wird sie unbewohnbar. Nach dieser Leitlinie verfahren die meisten Staats- und Regierungschef:innen, die erst auf dem G20-Gipfel in Rom und nun bei der COP26 in Glasgow aufgetreten sind. Sie peilen für ihre Staaten Klimaneutralität „bis zur oder um die Mitte des Jahrhunderts“ an, wie die großen Mächte in Rom so dehnbar formulierten, dass auch China mit dem Zieljahr 2060 darin Platz findet. Halten sie das ein, ist zumindest das Zwei-Grad-Limit fast in Reichweite. Problem: Die nationalen Klimaschutzziele, die Joe Biden, Xi Jinping, Angela Merkel & Co. gleichzeitig für 2030 ausgeben, passen zusammengenommen nicht dazu. Dieser Pfad führt eher Richtung drei Grad, und das ist indiskutabel. UN-Generalsekretär Guterres redete beim Auftakt in Glasgow den Politiker:innen hart ins Gewissen. »Wir graben uns unser eigenes Grab«, warnte er. »Es ist an der Zeit zu sagen: genug.«“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Wir graben uns unser eigenes Grab: ein Satz, den kein deutschen Politiker formulieren könnte. Schon gar nicht eine lutherische Kanzelrednerin, die in harmonischer Mutter-Sohn-Besetzung auftrat. Es war ihr Adoptivsohn, ihre eigenen Kinder hatte sie verkommen lassen.

In ungewohnt strengem Ton hatte die Kanzlerin eine weltweite CO2-Bepreisung gefordert. In Lutherdeutsch ist Bepreisung ein Ablasshandel – der makabren Art.

Okay, wir treten ab, verlassen in geschlossener Formation die Eitelkeiten der Weltbühne – wenn wir ordentlich dafür bezahlt werden.

Es muss der Welt etwas kosten, wenn eine vorbildliche Nation freiwillig abtritt. Glaubt wirklich jemand, wir Deutschen hätten Angst vor dem Tod? Da scheint man der Pastorentochter Lieblingslied nicht zu kennen:

Wir stürzen auf Deck, und wir kämpfen wie Löwen,
hei, unser der Sieg, viel Feinde, viel Ehr!
Wir fürchten nicht Tod und den Teufel dazu,
wir lachen der Feinde und aller Gefahren,
am Grunde des Meeres erst finden wir Ruh.

Ein Deutscher kennt keine Angst vor dem Tod. Schon gar nicht vor dem Weltuntergang. Zwei Apokalypsen hat er bereits erlebt – und überlebt. Irgendwann aber muss das Spiel ein Ende finden:

„Wenn ich wüsste, dass morgen der jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“

„Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Komm o Tod, du Schlafes Bruder. Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen. Der Tag des Todes ist besser denn der Tag der Geburt. Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren.“

„»Ich glaubte, ins Herz getroffen zu sein, doch empfand ich bei der Erwartung des Todes weder Schmerz noch Angst. Im Stürzen sah ich die weißen, glatten Kiesel im Lehm der Straße. Ihre Anordnung war sinnvoll, notwendig wie die der Sterne und verkündete große Geheimnisse.« Dreißig Seiten später der nächste Treffer: »Nun hatte es mich endlich erwischt  …  Als ich schwer auf die Sohle des Grabens schlug, hatte ich die Überzeugung, daß es unwiderruflich zu Ende war. Und seltsamerweise gehört dieser Augenblick zu den ganz wenigen, von denen ich sagen kann, daß sie wirklich glücklich gewesen sind.« Der Zwanzigjährige hatte zum vermutlich ersten Mal Glück erlebt: im vermeintlichen Augenblick seines Todes.“ (elfriedejelinek.com)

„Über das Glück im Todesaugenblick wollte ich mit Ernst Jünger sprechen. Er hat es nicht nur an sich selbst erforscht. In den Gesichtern gefallener Krieger entdeckte er einen Ausdruck von Frieden und Heiterkeit. In den letzten Worten Verstorbener, die er akribisch gesammelt hat, äußert sich häufig ein frohes Erstaunen. Angenehmes scheint uns bevorzustehen. Die Nähe des Todes, die Jünger zunächst auf dem Schlachtfeld, später im Drogenrausch suchte, gewährte ihm, dem Ungläubigen, Einblick in kommende Freuden. In seinem gedanklich wohl tiefsten Werk, „An der Zeitmauer“, schreibt er: »Der Tod ist eine Bruchstelle, kein Ende.« Zu seiner Lieblingslektüre gehört die Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ von Tolstoi, in der der Sterbende statt des Todes ein Licht erblickt, Licht ohne Schatten.“ Schreibt Elfriede Jelinek.

Ernst Jünger spiele bei den heutigen Rechten eine prophetische Rolle, schreibt Mladen Gladic in der WELT. Doch keine Bange, man könne ihn lesen, wie man es selbst für richtig hält:

„Es ist nicht zwingend, alles von Jünger so zu lesen, wie die Neurechten es tun, das betonte auch Weiß. Ob die Möglichkeit bestehe, seine Schriften gegen die Intention ihres Autors zu lesen, oder auch gegen dessen Verteidiger, das sei die Probe aufs Exempel wert. Aber kann man es einem Autor anlasten, wenn Nachgeborene seine Schriften zum weltanschaulichen Bodybuilding nutzen? Grundsätzlich ist es ein Fehlschluss, Applaus von der falschen Seite demjenigen anzulasten, dem applaudiert wird.“ (WELT.de)

Jünger wird ein bisschen entmythologisiert, um seine unterirdische Wirkung konstant zu erhalten. Die Methode der Verharmlosung ist einfach: mit Worten und Begriffen gehen die Deutschen selbstherrlich um. Was da steht, darüber entscheiden noch immer sie, die genialen Leser. Im Vergleich mit diesem ultrarechten Ästhetizismus der WELT sind die gellenden Rufe bestimmter „Querdenker“ eine zivilisierte Angelegenheit.

Zur Rechtfertigung ihrer Versprechungen ohne angemessene Folgen spricht Merkel vom Notwendigen, das für sie maßgebend sei. Welch eine Kunst, das Notwendige zu tun, ohne das Not-wendende zu berühren. Schon seit Jahren beschränkt sie sich auf Warnrufe und auf die Worte, sie würde sich sorgen. Und wahrhaftig: kaum sorgt sie sich und warnt, beginnen die Deutschen, ihre Gesellschaft auf den Kopf zu stellen.

Wer bestimmt das Notwendige? Wandte sie sich jemals an die Öffentlichkeit mit feurigen Reden: man müsse das Unmögliche fordern, um das Notwendige zu erreichen?

Allmählich nehmen die Medien ihre Reden genauer zur Kenntnis. Zuvor konnte sie reden und schweigen nach Belieben, ihre Begleiter hatten nur Bauchgefühle für das, was sie umtrieb. Ihre Reden hingegen waren Schall und Rauch.

Die beliebige Deutung der Sprache war die Frucht jener theologischen Hermeneutik, die seit Schleiermacher aus jedem biblischen X ein modisches Y zaubern konnte. Die Kreativen erkühnen sich, in jedem Text der Offenbarung problemlos ihre eigene Meinung zu finden.

So der gläubige Katholik Heribert Prantl – sonst ein verlässlicher juristischer Kritiker –, der ein Buch schrieb, um die furchterregenden Partien der christlichen Dogmatik in Vernunft zu überführen:

„Die Teufeleien heute haben andere Namen: Sie heißen Egoismus, Individualismus, Fundamentalismus, Profitismus, Marktradikalismus, Nationalismus, Rassismus. Sie haben Messiasse, sie haben Jünger. Die Erfindung des Fegefeuers war eigentlich eine menschenfreundliche Angelegenheit. Es war nämlich zunächst einmal die Humanisierung der Hölle. Die Demokratie ist eine anstrengende Angelegenheit, sie ist der Ort von Mühsal und Qual, von Besserung und Läuterung. Sie ist das Fegefeuer als Staatsform. Sie ist der richtige Ort, um das Notwendige, das Notwendende, zu tun. Das Prinzip Verantwortung bewährt sich im Fegefeuer.“ (Berliner-Zeitung.de)

Man erkennt die frivole Umdeutung aller biblischen Drohungen und Belohnungen in Begriffe der Vernunft. Die Messiasse werden den Gottlosen zugeschoben, die Defekte der Gesellschaft in Symptome des Bösen verfälscht, die heidnische Demokratie avanciert zur fegefeuerlichen Schule der Läuterung.

Zuerst wird das angeborene Böse in weltliche Begriffe übersetzt, als sei Demokratie eine Erfindung der Frommen – die leider Gottes keine anderen Begriffe zu Verfügung hatten als die alten dualistischen. Die moderne Welt befinde sich auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela, der sich, je länger, je mehr in eine deutsche Autobahn verwandelt – auf der in rasender Geschwindigkeit die Zukunft erobert wird.

Dass der Gläubige in allen Dingen auf Gnade angewiesen ist, seine autonomen Taten hingegen in die Hölle führen: über diesen dogmatischen Entwertungen des Menschen schwebt der Geist Prantls wie ein bayrischer Engel, der – Abrakadabra – das Regiment der Priester in Demokratie, Gnade in Vernunft, und das – für Menschen – unaustilgbare Böse in moralischen Fortschritt übersetzen kann.

Nach diesem Muster agieren alle postmodernen Interpretationen, die jede Geschichte lesen können, wie es ihnen beliebt. Hier herrscht der omnipotente Geist des Subjekts über die Natur oder das Sein. Der Kreator muss die Dinge nicht entziffern, wie sie sind, sondern bestimmt apriorisch oder diktatorisch, wie sie zu sein haben.

Merkels Minimalsprache ist eine Mixtur aus immunisierter Subjektivität, die sich durch kein Argument in Verlegenheit bringen lässt – und dem Machtanspruch, mit unfehlbarer Subjektivität das objektive Geschehen zu dirigieren. Dies alles im Modus sanften Begleitens. Denn so wollen die Deutschen regiert werden: niemand soll merken, dass sie autoritär gelenkt werden. Diese Forderungen nach Diskretion erfüllt die Kanzlerin perfekt – weshalb sie bei den Deutschen so beliebt ist.

Wollte man die Leistungen eines Kapitalisten bewerten, müsste man zuerst feststellen, welche Ziele er anstrebte und wie weit er sich diesen Zielen näherte, kurz: in welchem Maß sein Reden und Tun übereinstimmen.

Nicht so bei der Kanzlerin. Um diesen Kriterien zu entgehen, hat sie sich nie klare Ziele gesetzt und sich zusätzlich eine Privatsprache zugelegt, mit der sie sich die objektive Politik nach Belieben zurechtlegen kann.

Aus Sympathie für ihre Mutterfigur, die sie instinktiv beschützen müssen, verzichten deutsche Medien auf diese trivialen Kriterien. Gewiss, ein Joe Biden wird danach beurteilt, in welchem Maße er seinen großen Ankündigungen gerecht wird.

Aber nicht so bei Angela. Sie wird nur danach bemessen, ob sie den bisherigen Kurs der Titanic ziellos, stur und ohne jede humane „Vision“ weitergeführt hat. Also in welchem Maß es ihr gelang, sich durch die Widrigkeiten der civitas terrena (des bösen irdischen Staates) hindurchzumogeln – bis der Jüngste Tag dem Spuk ein Ende bereiten wird.

Dirk Kurbjuweit schrieb ein Plädoyer für Doppelmoral, die er als nützliche Methode betrachtet, um der Klimagefahr zu begegnen:

„Die Doppelmoral ist eine Methode, um den Klimawandel aufzuhalten. Es ist die Methode, die am besten zu uns passt, die Methode des Westens. Das klingt vielleicht etwas verstörend, weil Doppelmoral negativ besetzt ist. Die Doppelmoral ist eine der wichtigsten Grundlagen des Westens, eine Voraussetzung für dessen Erfolg. Natürlich wäre es schöner, wären die westlichen Staaten konsequent und würden sich in ihrer politischen Praxis ständig an den eigenen Prinzipien orientieren. Allerdings ist zu bezweifeln, dass sich ohne Moral etwas erreichen lässt. Sie ist eine starke Triebfeder, um über eigene Interessen hinwegzusehen, um das Allgemeinwohl im Auge zu behalten. Ohne Moral wird es keinen wirksamen Klimaschutz geben. John Dewey, ein Vertreter der pragmatischen Philosophie, hat dazu eine passende Maxime formuliert: »Nicht Perfektion als ein endgültiges Ziel, sondern der immer andauernde Prozess der Vervollkommnung, der Reifung, der Verfeinerung ist das Ziel des Lebens …« Dies ist auch ein Weg für den Klimaschutz. Dafür muss man versöhnlich sein. Versöhnlich mit sich selbst: sich die eigenen Exzesse verzeihen, den Flug nach Rom, die kleine Kauforgie, und unverdrossen weitergehen auf dem richtigen Pfad. Versöhnlich mit anderen: nicht gleich hämisch »Doppelmoral« rufen, wenn jemand, der zum Beispiel regional einkauft und nicht fliegt, sich nicht von seinem SUV trennen kann. Doppelmoral ist in diesem Sinne ohnehin kein Vorwurf mehr, eher ein Lob: Du hast verstanden, wie es gehen könnte.“ (SPIEGEL.de)

Die kesse Anerkennung der Doppelmoral wird zur unfreiwilligen Lobrede auf eine selbstkritische Moral. Denn Kurbjuweit ist sehr wohl für Moral, aber nur für eine, die ihre Mängel und Defekte versöhnlich tolerieren kann.

Selbstkritik ist in der Tat ein unabdingbarer Bestandteil jeder autonomen Moral. Wer sich hingegen als perfekter Moralist – oder aber als wertloser Nichtsnutz oder Bösewicht darstellt, der kann kein widerstandsfähiges Selbstbewusstsein erworben haben.

Nicht mal Götter sind perfekte Moralisten, geschweige Menschen. Moralische Forderungen sind lebenslange Bemühungen, in denen kein Sterblicher auslernen kann. Die Kunst selbstkritischer Beurteilung gehört selbst zum Kern jeder authentischen und aufrichtigen Moral.

Doppelmoral hingegen ist ein Täuschungssystem, mit dem man andere belügen und manipulieren oder sich selbst hinters Licht führen will.

Wie will Kurbjuweit die Machenschaften der Politiker durchschauen und beurteilen, wenn nicht mit der Elle eindeutiger Moral? Misst er hingegen mit dem Maßstab der Doppelmoral, muss er auf jedwede Kritik verzichten.

Niemand heuchelt, der für Moral eintritt und sich in kritischem Selbstbewusstsein darstellen kann.

Deshalb die lebenslange sokratische Devise: erkenne dich selbst. Indem ich schonungslos meine Fähigkeiten und Mängel wahrnehme, kann ich mit mir ins Reine kommen.

„Diese sichtbare Übereinstimmung von Denken und Handeln, diese schlichte Rechtschaffenheit ohne alles Pathos, diese ruhige Sicherheit und Festigkeit in allen Lebenslagen, nicht zuletzt die heitere Gelassenheit im Tode: das war es, was an diesem einzigartigen Mann bei Mit- und Nachwelt einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ.“ (Nestle über Sokrates)

Die Mächtigen dieser Welt regieren mit dreister Doppelmoral, die rebellische Jugend fordert eine selbstkritische Politik, die tut, was sie sagt und sagt, was sie tut.

Fortsetzung folgt.