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nichtsdesto-TROTZ VIII

Tagesmail vom 23.04.2021

nichtsdesto-TROTZ VIII,

Märchenhafte Zeiten.

Der staatliche Maschinenraum wird zum familiären Projektionsraum.

„Wie kann es sein, dass alle 13 Minuten ein Kind aus einer Familie genommen wird, die in einem solch wohlhabenden Land wie Deutschland lebt? Kindeswohlgefährdung kann aktiv oder passiv geschehen. Bei einer aktiven Gefährdung geht die Gefahr von den Handlungen der Eltern aus. Sie üben Gewalt in psychischer oder physischer Form aus, missbrauchen und misshandeln die Kinder. Ebenso kann verbale Gewalt in Form von Beleidigungen, Erniedrigungen sowie einem einschüchternden Befehlston massive Auswirkungen auf die kindliche Psyche haben. In passiver Form vernachlässigen die Eltern das Kind so stark, dass Kinder sich später nicht mehr in unsere Gesellschaft integrieren können. Es gibt auch Fälle, in denen Kinder an Depressionen leiden, da ihnen die Liebe und Zuneigung, sowie die Aufmerksamkeit ihrer Eltern fehlen.“ (HalloFamilie.de)

Aus der guten Mutter wird die böse Stiefmutter aus dem falschen Staat, die sich mit demütiger Miene bei uns eingeschlichen hat, um die väterliche Macht an sich zu reißen und die lästigen Kinder ins Elend zu schicken.

„Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen Kinder ernähren da wir für uns selbst nichts mehr haben?“ – „Weißt du was, Mann,“ antwortete die Frau, „wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist. Da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los.“ – „Nein, Frau,“ sagte der Mann, „das tue ich nicht; wie sollt ich’s übers Herz bringen, meine Kinder im Walde allein zu lassen! Die wilden Tiere würden bald kommen und sie zerreißen.“ – „Oh, du Narr,“ sagte sie, „dann müssen wir alle viere Hungers sterben, du kannst nur die Bretter für die Särge hobeln,“ und ließ ihm keine Ruhe, bis er einwilligte. „Aber die armen Kinder dauern mich doch,“ sagte der Mann.“ (Grimms-Märchen.com)

Beim ersten Versuch bleibt es nicht, so einfach wird man die Blagen nicht los. Zweiter Versuch. Aus der kinderfeindlichen (Stief-) Mutter wird die Hexe, die bitterböse Großmutter.

„Alles ist wieder aufgezehrt, wir haben noch einen halben Laib Brot, hernach hat das Lied ein Ende. Die Kinder müssen fort, wir wollen sie tiefer in den Wald hineinführen, damit sie den Weg nicht wieder herausfinden; es ist sonst keine Rettung für uns.
Die Alte hatte sich nur freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte, und hatte das Brothäuslein bloß gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag.“

Kommt Not übers Land, müssen Alte und Kinder zuerst dran glauben. Erstes Gebot der Corona-Hilfsmaßnahmen.

Das zweite Gebot: je härter die Zahlen, je härter die Maßnahmen. Ob Maßnahmen hilfreich und für die Meisten das proportional Beste sind, darf keine Rolle spielen. Die Mächtigen schauen auf die Statistik des Tages, dann verlängern sie die Schließzeiten. Dass Corona nicht nur den Leib, sondern auch die Seele schädigt, kann man ignorieren, wenn man Seele ignoriert oder für ein unsterbliches Mysterium hält.

Einen Lauterbach für Kinder, der an das Leid der Schwächsten erinnert, darf es nicht geben – und wenn doch, wird er nicht gehört werden im kinderlärm-freien Kanzleramt.

Corona verwandelt die gute Mutter in ihr Gegenteil. Aus Angst, ihren guten Ruf auf den letzten Metern ihrer politischen Karriere zu verlieren, verschärft sie die rigiden Maßnahmen. Sollten die Deutschen sie zu hassen oder zu verachten beginnen, glaubt sie, schon jetzt die Gründe zu kennen.

Es sind nicht einmal die harten Vorschriften, die den Untertanen am meisten zu schaffen machen. Wären sie sinnvoll und nachvollziehbar, wäre die Gesellschaft verständig genug, um sie einzuhalten. So aber ist es ein Tohuwabohu an Ungereimtheiten und Widersprüchen – und niemand ist in der Lage, die Logik des Irrsinns aufzuklären.

Keine öffentlichen Gespräche in den Öffentlich-Rechtlichen, in denen die vielen Fragen der Menschen von den Verantwortlichen beantwortet werden müssten. In Talk-Shows sitzt immer das halbe Kabinett, um seinen Unsinn mit leeren Formeln zu verteidigen. Die TV-Sender übertragen tagelang Sportereignisse, doch einen Abend lang voller lebendiger Gespräche der Mündigen mit denen, die sie entmündigen wollen: dazu sind sie nicht fähig.

Die Regierung ist zur schweigsamen Mauer geworden. Direktiven werden erlassen und niemand erklärt den Sinn der brachialen Härten.

„Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander ,
Erfahren der Mensch;“    (Hölderlin)

In der Polis wurde das Gespräch zum Lebenselixier. In der hiesigen Demokratie ist das Gespräch verstummt und in Fäulnis geraten. Noch stehen die äußeren Mauern, doch der Geist ist abhanden gekommen. Entdemokratisierung durch geisterhaftes Geraune.

Wir sind kein Gespräch und hören nicht mehr voneinander.

Die Mächtigen müssen nichts mehr erklären, sie sitzen an den Schaltknöpfen. Mit Maschinen redet man nicht und seien sie noch so intelligent. Wer es nötig hat, sich mitzuteilen, entlarvt sich als belangloser Wicht.

Zu den Begriffen, die in der Luft herumschwirren, gehören die Lifestylelinken. Wer seinen Lebensstil gefunden hat, will alles lassen, wie es ist. Die soziale Frage als Sehnsucht nach einer besseren Welt hat sich verwandelt in das Behagen am eigenen privilegierten Leben.

„Das ist Wagenknechts Kernthese: Der Lifestylelinke hält seine Privilegien für persönliche Tugenden, das ach so moralische Gewissen entpuppt sich bei näherem Hinsehen allzu oft als Distinktionsbewusstsein: »Statt um Veränderung geht es um Selbstbestätigung. In den Fünfziger- bis Siebzigerjahren“, schreibt Wagenknecht, hätten sich vor allem diejenigen als links bezeichnet, deren Bildung und Einkommen vergleichsweise niedrig gewesen sei, die Höhergestellten hätten zu »Mitte-Rechts-Parteien« tendiert. Heute hingegen seien es die Bessergebildeten und zunehmend auch die Besserverdienenden, die links wählen. Der Grund: Die Linke habe »die Seiten gewechselt«, von den Unterprivilegierten zu den Privilegierten: »Heute steht das Label links meist für eine Politik, die sich für die Belange der akademischen Mittelschicht engagiert. Sie profitiert von Globalisierung und EU-Integration, von hoher Zuwanderung und zumindest teilweise auch vom wirtschaftsliberalen Status quo.«“

Will Wagenknecht die Gesellschaft verändern? Nein, als treue Marxistin darf sie das nicht eigenmächtig, denn der Kapitalismus hat so lange für Wunderwerke zu sorgen, bis die ganze Welt für die Revolution reif ist, welche das finale Paradies freilegen wird. Nur den Schwächsten will sie unter die Arme greifen. Zu welchem Zweck? Nicht, dass jene zufrieden seien, sondern dass sie ihr altes Leben verlassen und in jene Etagen aufsteigen sollen, die sie bislang verachteten und bekämpften.

„Der Fahrstuhl nach oben funktioniert nicht mehr.“

Wagenknecht spricht nicht anders als diejenigen, die sie angreift. Die „Bildung“ müsse besser werden, damit der Aufstieg möglich werde. So sprechen alle, die SPD und die Grünen, ihre eigene Partei nicht ausgeschlossen. Die Welt der Reichen und Mächtigen, die Wagenknecht angreift, soll just zur Endstation Sehnsucht der Abgehängten werden?

Die einstigen Weltveränderer haben nichts Besseres zu tun, als jene Oberschicht zu bewundern, die sie als Quelle allen Übels ausgemacht haben. Widersinniger geht’s nicht. Was ist das für eine Bildung, die zu nichts anderem qualifiziert, als ins Reich der Ausbeuter einzudringen?

Bei Marx spielte Bildung keine Rolle. Sie wäre nichts anderes als jene Philosophie, die die Verhältnisse nur anders interpretiere, aber nicht verändere. Die Kunst der Griechen bewunderte Marx, nicht aber ihre Wirtschaft, die, im Vergleich mit der neuzeitlichen, bedeutungslos war.

„Wenn es aber auch in der Antike schon Schatzbildung, Anhäufung von Geld und Waren in einer Hand, gab, so diente diese Akkumulation doch nicht, wie im Kapitalismus, der Investierung, der Verwandlung in neues, fungierendes Kapital. Die Alten dachten nicht daran, das Mehrprodukt in Kapital zu verwandeln, Einen großen Teil des Mehrprodukts verwandelten sie in unproduktive Ausgaben für Kunstwerke, Noch weniger war ihre Produktion auf Entfesselung und Entfaltung der materiellen Produktivkräfte gerichtet.“ (Iring Fetscher, Marx und die Antike)

Den Griechen fiel nichts Besseres ein, als ihre Reichtümer in Kunst zu transformieren. Den Zweck des Akkumulierens (um immer größere Maschinen und Warenmengen zu produzieren): das haben sie nie verstanden. Dieser Prozess der immer effizienteren Ausbeutung der Natur auf Kosten der Machtlosen: das sei die große zivilisatorische Leistung der kapitalistischen Produktionsweise (so Marx).

Marx wollte ein besseres Leben, aber nicht im Hier und Jetzt für die Elenden, sondern eines fernen Tages für unbekannte Generationen. Die Schrecken des Kapitalismus waren für ihn notwendig, um den automatischen Fortschritt voranzutreiben. Die lebenden Generationen waren nur die Wegbereiter und dienstbaren Marionetten eines Endes, das kein Zeitgenosse erleben wird.

Was kein Fortschritt war, war für Marx vertane Mühe. Kunst war für Marx nur ein bedeutungsloser Sinnesreiz, für die Griechen hingegen der Lobpreis der herrlichen Natur, die sie nicht zerstören wollten. Die Begegnung mit dem Griechentum sollte eine Bildung sein, die den Menschen befähigte, den Fortschritt zu überwinden und die stehende Zeit als Erfüllung des Lebens zu empfinden.

Nicht Marx erkannte die Vorzüge des griechischen Lebens, deren Erkenntnis den Menschen allein zur Veränderung des „falschen Lebens im Kapitalismus“ befähigte, sondern einer seiner Rivalen, der russische Anarchist Peter Kropotkin:

„Die Freude, die antike Welt wieder entdeckt zu haben und sich aufs neue in der Quelle der Natur zu baden..“ (An die jungen Leute)

Dass diese Gedanken an Wagenknecht vorübergehen, zeigt, dass sie keine Vorstellung von einer veränderten Welt hat. Sie will den Kapitalismus erhalten. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass die Brosamen von den Tischen der Reichen ein wenig größer ausfallen sollten als bisher. That‘s all.

Marxisten sind keine Kapitalismusveränderer, sondern Kapitalismusbewunderer. Erst muss die naturvernichtende Kraft der Ökonomie alles zuschanden geritten haben, damit eine unfassliche Veränderung stattfinden kann. Das volle und saftige Leben, das Marx sich als Fata Morgana der Zukunft vorstellte, war die angestrebte Realität des griechischen Lebens, das mit Poesie und Kunst keine ästhetischen Illusionen, sondern das befriedigende Leben hier und jetzt darstellen sollte. Kein Fortschritt auf Kosten der Gegenwart, keine Naturschändung, sondern der Lobpreis der Natur durch eine befriedete Gesellschaft.

Lewis Mumford kritisierte Marxens Verachtung der Gegenwart, die sich für eine phantastische Zukunft opfern müsse:

„Der autoritäre Kommunismus von Karl Marx verharrte auf der Seite der naturzerstörenden Organisation, der zentralen Leitung und der Massenproduktion, ohne im Arbeiter mehr zu sehen als einen Bestandteil der Megamaschine.“ (ebenda)

Gerade die Kunst war ein Loblied auf das befriedigende Leben.

„Ästhetische Erfindung spielte in den Bemühungen des Menschen, eine sinnvolle Welt zu errichten, eine ebenso große Rolle wie die der praktischen Bedürfnisse. Die heutige Trennung von Kunst und Technik ist daher eine moderne Fehlleistung und heißt, die Einheit des Organismus und die Rolle der menschlichen Persönlichkeit zu verleugnen.“

Die Trennung der Kunst von der Technik, die blinde Sucht nach Fortschritt hat beiden geschadet: der Technik und der Kunst. Denn beide stehen nicht mehr im Dienst des humanen Lebens, sondern eines gottgleichen Gigantismus.

Kunst wurde zur folgenlosen Bewunderung der Gebildeten und Reichen, Technik zur Sklavin mechanischer Weltbezwinger: Die Spaltung der Welt in hässliche Technik und folgenlose Kunst war das vorläufige Ende eines freien Lebens, das noch bestimmt war von Ahnungen eines erfüllten Lebens:

„In unserem System ist die ganzheitliche Freiheit unserer „primitiven Vorfahren“ verloren gegangen. Dieser Verlust bedeutet das Schwinden unendlich kostbarer Werte aus dem menschlichen Leben. Das individuelle Temperament kann nicht mehr in ernsthaften Aktivitäten Befriedigung finden. Es bleiben nur unerbittliche Arbeitsbedingungen und triviale Vergnügungen in der Freizeit.“ (ebenda)

Der geistesgestörte Fortschritt der Gegenwart lebt davon, alles Erreichte in das Alte zu verwandeln, das sofort vernichtet werden muss, um einem Neuen Platz zu schaffen – das in kürzester Zeit wieder zum Alten wird, das getilgt werden muss.

Wagenknecht hat keinen ganzheitlichen Blick auf die Welt. Sie darf nicht laut sagen, dass sie den Kapitalismus für unersetzbar hält, um die Natur endgültig zu massakrieren. Nur ein paar kleinere Schönheitsflecken am unteren Rand der Gesellschaft gilt es zu beseitigen.

Wenn wir ihre Zeitbeschreibung vergleichen mit der Gegenwartsanalyse des Armutsforschers Butterwegge, erkennen wir ihr oberflächlich-gestyltes Geplapper ohne Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen:

„Die Armut frisst sich mittlerweile in die Mitte der Gesellschaft hinein, und das wird durch den zweimaligen Corona-Lockdown verstärkt. Arbeitslose, Kurzarbeiter, Soloselbständige, Kleinunternehmer sind an den Rand des Ruins geraten, was beim Gang durch die Stadt am wachsenden Leerstand zu erkennen ist. Geld ist also genug da, nur ist es sehr ungleich verteilt. Dazu hat die Bundesregierung durch ihre Politik erheblich beigetragen. Denn sie begünstigte Reiche und Hyperreiche, wie ich sie nenne, weil es nicht gesund für die Gesellschaft ist, dass 45 Familien mehr besitzen als die Hälfte der Bevölkerung, also über 40 Millionen Menschen. Trotzdem lobt sich die Bundesregierung über viele der knapp 600 Seiten, was sie alles getan hat, um der angeblich nicht mehr wachsenden Ungleichheit zu begegnen, und nennt anschließend wenig, was ihres Erachtens noch zu tun bleibt. Alle Kapital- und Gewinnsteuern sind während der vergangenen Jahrzehnte entweder abgeschafft worden wie die Börsenumsatz- und die Gewerbekapitalsteuer, werden einfach nicht mehr erhoben wie die Vermögensteuer, obwohl sie noch im Grundgesetz steht, oder sind drastisch gesenkt worden wie die Körperschaft- und die Kapitalertragsteuer sowie der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer. Außerdem kann man heute einen Konzern erben, ohne einen Cent Erbschaftsteuer zahlen zu müssen. Dagegen wurde die Mehrwertsteuer als größte Steuerbelastung der Armen von 16 auf 19 Prozent erhöht.“ (Sueddeutsche.de)

Wer die Gesellschaft verändern, den Armen dauerhaft helfen will, muss die gesamte Gesellschaft unter die Lupe nehmen. Da genügt es nicht, Hartz4-Sätze geringfügig anzuheben. Die Fähigkeit der Mogule, die sich, besonders seit Merkels Zeiten, den gemeinsam erarbeiteten Reichtum der Gesellschaft hemmungslos unter den Nagel reißen, ist unerträglich.

Anstatt diese Hauptgegner ins Visier zu nehmen, tändelt Wagenknecht mit Modebegriffen, die sie nirgendwo scharf definiert.

Seit Schröders Seitenwechsel hat die SPD begonnen, sich ihrer Klientel, der Armen, zu entledigen. Mit Trump‘scher Dreistigkeit entledigte sich der Aufsteiger des Pöbelproletariats und wechselte in die Etagen der Globalisierungsgewinner.

In gleichem Sinn wirft Wagenknecht den Pseudolinken Kosmopolitismus vor, der seine eigene Nation verachte und die Armen der Nation nicht zur Kenntnis nehme.

Ja, die Linke steht kurz vor dem Kollaps. Doch mit Wagenknechts patriarchalischer Anmaßung, die Befindlichkeit der Armen am besten zu verstehen, wird die Linke nicht genesen. Kein Wunder, dass ihre Kampagne „Aufstehen“ ein Misserfolg war.

„Wagenknecht argumentiert gegen eine lockere Einwanderungspolitik, aber nicht, weil sie Nationalistin wäre, sondern weil sie viele Migrationsverlierer sieht: auf globaler Ebene die ärmeren Länder, bei uns die ärmere Hälfte der Bevölkerung, »zu der großenteils auch die Kinder und Enkel früherer Migranten gehören«. Es sei doch kein Zufall, dass diejenigen, die ohnehin schon für niedrige Löhne arbeiten, Zuwanderung anders bewerten als Besserverdiener, »die sich über ein billiges Kindermädchen oder einen preiswerten Klempner freuen.““

Hier werden die Armen pauschal zu Gegnern einer „lockeren“ Einwanderungspolitik degradiert. Als ob sie durch Armut prinzipiell zu humanem Denken unfähig wären. Dass nationale und internationale Armut auf denselben Ursachen beruhen, scheint sie nicht zu sehen. Die Gesellschaft wäre reich genug, um beiden Problemgruppen zu helfen. Voraussetzung wäre – nein, nicht die Expropriation der Expropriateure – sondern die Zerschlagung der Riesenvermögen zugunsten jener, die das Recht auf ein eigenständiges Leben besitzen.

Welch eine Inflation gedrechselter Leerbegriffe wie Identitätspolitik, Distinktion, Klassismus …

Noch vor kurzem galt, wer mit sich identisch war, war mit sich im Reinen. Es gibt viele Aspekte der Identität. Doch keiner nötigt das Individuum, sich von anderen Identitäten mit Abscheu abzugrenzen. Niemand muss sein Ich präsentieren, indem er sich von seinen Mitmenschen aggressiv unterscheidet.

Meine familiäre Abstammung zwingt mich nicht zur „singularen Distinktion“. Mein Ich ist eingebettet in der Demokratie, in der ich lebe. Demokratische Identität lebt von der Verbundenheit mit allen Identitäten. Das geht hin bis zur kosmopolitischen Solidarität mit allen Menschen der Erde.

In Deutschland ein lächerlicher Gedanke, weil das Land sich von seinen nationalistischen Höhenflügen seit der Romantik nicht lösen kann. Die globalen Probleme, vom Klima über die Flüchtlingsfrage bis zur Diskriminierung von Frauen und Kindern, lässt sich ohne kosmopolitische Zusammenarbeit nicht lösen.

Viele Gruppen, die lange unterdrückt waren, sind dabei, sich zu emanzipieren und ihre erlittenen Demütigungen nun anderen zuzufügen. Ein elementarer Fortschritt für die Menschheit. Leider sind manche dieser Gruppen in der Gefahr, sich an der Gesellschaft zu rächen, indem sie die erlittenen Demütigungen anderen zufügen wollen. Wurden sie zum Schweigen verurteilt, wollen sie nun zum Schweigen verurteilen. Solche Phänomene sollte man verstehen – und ihren intoleranten Auswüchsen dennoch widerstehen.

In Amerika gibt es Bestrebungen, die Studien der Griechen und Römer zu beschneiden. Nicht nur wegen der damaligen Sklaverei oder Unterdrückung der Frau. Sondern wegen der humanen Vorzüge der Griechen, die Vorzüge des weißen Mannes waren. Dieser hätte sie benutzt, um dem Rest der Welt seine angeborene Überlegenheit zu demonstrieren.

„Doch es scheint klar zu sein, dass diese Setzung mit einer laufenden Debatte zu tun hat: darüber, ob das Studium der Sprachen und Kulturen der Griechen und Römer verwerflich und herrschaftserhaltend sei, ein Ausdruck und Werkzeug weißer (und männlicher) Dominanz. Cornel West, führender afroamerikanischer Intellektueller und Professor in Harvard, hat in einem Beitrag für die Washington Post entsetzt reagiert auf die Idee, die klassische Philosophie und Kultur im Zuge des Antirassismus auf den Müllhaufen zu werfen. West verweist auf Martin Luther Kings Inspiration durch antike Autoren – also weiße, elitäre Männer – und darauf, dass der Bürgerrechtler sich einst 1963 im Gefängnis auf Sokrates berufen hat.“ (Sueddeutsche.de)

Es war ein mühevoller, aber erfolgreicher Prozess: die Hellenen haben die Menschenrechte, die Gleichheit und Freiheit aller Menschen erfunden. Sie haben die Frauen emanzipiert und den Sklaven die Freiheit gegeben.

Die Überlegenheit der Griechen war keine der weißen Rasse, sondern denkender Demokraten auf der Suche nach der menschheitsverbindenden Vernunft. Diese Überlegenheit war so frappant und überzeugend, dass sie sich verwirklicht, indem sie durch Lernen und Nacheifern egalisiert wird. Warum hätte Martin Luther King sich sonst auf den Athener berufen können, wenn nicht, um an den Sokrates in jedem Menschen zu appellieren?

Fortsetzung folgt.