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Tagesmail

nichtsdesto-TROTZ LXXII

Tagesmail vom 20.09.2021

nichtsdesto-TROTZ LXXII,

Wach auf, wach auf, du deutsches Land! – Du hast genug geschlafen.
Der Wucher, Geiz, Betrügerei – wird jetzt als Kunst gelobet,
Die Jugend wird gezogen jetzt – in Mutwill frech gewähnet,
All Ständ’ sind jetzt so gar verderbt. – Will niemand sich erkennen
mit gutem Schein, doch so gefärbt, – tun all sich Christen nennen.
Die Wahrheit wird jetzt unterdrückt, – will niemand Wahrheit hören;
Wer Augen hätt’ und sehen könnt, – der würde freilich spüren
an Himmel, Erde, Luft und Wind – die Gottesstrafe rühren.
Gott warnet täglich für und für, – das zeugen seine Zeichen,
denn Gottes Straf ist vor der Tür; – Deutschland, lass dich erweichen,
tu rechte Buße in der Zeit, – weil Gott dir noch sein Gnad anbeut
und tut sein Hand dir reichen.          (Johann Walther 1561)

Wär Deutschland ein christliches Land, würde es sich in dem alten Reformationslied erkennen, Gottes Zeichen in Erde, Luft und Wind als Warnsignale begreifen und Reue- und Bußprozessionen von Nord bis Süd, von West bis Ost veranstalten.

Deutschland ist ein christliches Land – aber nur mit reduzierten Fähigkeiten, die Zeichen der klimatischen Bedrohung als Warnbotschaften des Himmels zu deuten.

Doch tief im Innern walten die Echoräume der Vergangenheit und steuern das Gefühlsleben der Nation, die den schrecklichen Sünden ihrer Vergangenheit mit so viel Wohlstand und äußerlichem Erfolg entkommen sind, dass sie wähnen musste, ihr gnädiger Gott habe sie mit einem blauen Auge davonkommen lassen.

Bis gestern waren sie noch überzeugt: wir leben in einem gesicherten, von vielen Völkern der Erde beneideten, ja wieder auferstandenen, paradiesischen Land.

Die Reichen dominierten, die Armen versteckten sich und darbten als Sündenböcke von Wirtschaftsdellen im Verborgenen.

Wer hat sie verraten? Laut lachende, zigarre-rauchende Sozialdemokraten. Seitdem ging‘s abwärts mit diesen. Hätten sie sich nicht der Polit-Mutter im Vertrauen anbiedern können, wären sie im Nirwana untergegangen. So stimmten sie ein in den Choral:

„O Angela, wer dir vertrauet, hat wohl gebauet, an dir wir kleben im Tod und Leben, nichts kann uns scheiden, Halleluja.“

Doch jetzt droht die Gnadenzeit abrupt zu Ende zu gehen. Sintfluten, Hitzewellen und höllische Feuer sind nahe herbeigekommen. Die Flitterwochen mit dem Himmel drohen ins Gegenteil zu kippen. Unfasslich, aber wahr: die prästabilierte Harmonie der Deutschen mit ihrem Schicksal scheint über Nacht zerstört zu sein.

Ins saturierte Bewusstsein der Deutschen will das noch nicht eindringen. Zwischen Geborgenheit bei irdischer Mutter – und Schrecken vor dem Untergang gibt es noch keine Übergänge, die die nationale Seele begreifen könnte.

Ja, sie haben gehaust wie in Sodom und Gomorrha. Doch mussten sie dafür nicht hart arbeiten? Gewiss, sie versanken in Völlerei, Fleischeslust und vergaßen nicht selten die Wohltaten ihres Herrn. Doch war das nicht nachvollziehbar, dass sie nach harten Entbehrungen und Leiden sich ihrer wieder erwachten Lebenslust erfreuen wollten?

Nein, dem apokalyptischen Theaterdonner können sie noch nicht trauen. Das muss ein Alptraum sein, der morgen spurlos verschwunden sein wird. Anders kann es nicht sein.

Globale Untergänge gab es bislang nur in amerikanischen Filmen. Aber hallo, deutscher Realitätssinn wird Film und Wirklichkeit wohl auseinanderhalten können. Geht mir weg mit eurem finalen Theaterdonner. Deutschland, ihr frommen Amis, ist aufgeklärt. Nur wenn die Aufklärung überdreht, greifen wir wieder zurück auf den Glauben. Na, sagen wir besser, auf Empfindungen, die sich wie Glauben anfühlen. Zu tiefsinnigen Orgien haben wir keine Zeit. Wir müssen für brillante Wirtschaftsdaten sorgen.

Ausgerechnet jetzt stehen diese Wahlen vor der Tür – die von Untergangspropheten und Panikmachern nur dazu benutzt werden, um die Leute vollends verrückt zu machen. Aber nicht mit uns.

Machen wir die Wahlen zu reißerischen Spektakeln, die das Auftreten der Kandidaten in den Mittelpunkt stellen, nicht aber nicht ihre fiebrigen Parteiformeln. Auf dem Boden unserer Lebenslügen verharren: das ist unsere Staatsraison.

Was geht ab? Die Medien veranstalten Zirkusvorstellungen für die Politiker, um zu erkunden, wer wen in den Schatten stellt.

„Habeck kann verblüffen und enttäuschen. Er kann ausschweifen, grün und ungrün reden, ackern, schlagfertig, theatralisch sein. Aber Habeck ist keine Lichtgestalt. Die deutsche Politik ist keine Hochglanzveranstaltung, weil ihre Macher selten echte Stars sind, weil sie nicht jung sind oder nie jung waren, weil die Kommunikationserfordernisse längst zu groß geworden sind für eine Langstrecke fehlerloser Botschaften.“ (Berliner-Zeitung.de)

Hört, hört: Politiker sind keine echten Stars. Habeck ist keine Lichtgestalt. Das musste doch mal gesagt werden, sonst hätten Deutsche angenommen, was nach Muttern kommt, wird noch größer sein als bescheidene Physikerinnen, die alle Coronazahlen auswendig können.

Man will es nicht glauben, dennoch ist es so: noch immer sind Deutsche auf der Suche nach einer Lichtgestalt. Hatten sie nicht erst vor kurzem einen Sohn der Vorsehung, der eine absolute Finsternis hinterließ?

Warum müssen Politiker Lichtgestalten sein? Weil sie eine Botschaft des Himmels im Gepäck haben müssen? Weil sie die Dunkelheit auf Erden zu erhellen haben und Demokraten dazu nicht in der Lage sind?

Das Licht scheint in der Finsternis, doch die Finsternis hat es nicht begriffen.

Das ist die Problematik. Käme eine Lichtgestalt, könnte sie nur von Menschen erkannt werden, die das Licht bereits verinnerlicht haben. Die Sehnsucht nach einer Lichtgestalt soll der Welt sagen: wir Deutschen sind eine besondere Nation, die fähig ist, echte Lichtgestalten zu erkennen und zu würdigen.

Was hat diese Sehnsucht nach Licht mit Demokratie zu tun? Demokraten brauchen kein Licht von außen, ihre natürliche Vernunft haben sie in sich.

Die gesuchten Lichtgestalten sollen „fehlerfrei“ oder perfekt sein. Ist das Ganze Wahnsinn, so hat es doch Methode. Gibt es perfekte Menschen? Sind solche notwendig, um von fehlerhaften Demokraten gewählt zu werden?

Wir befinden uns nicht mehr auf natürlichem Boden, sondern in der Doppelwelt Platons und des Christentums: im Reich der transzendenten Überwelt, für die die normale Welt nichts ist. Das schreiben ausgerechnet die Edelschreiber, die sich sonst vehement gegen das Hell/Dunkel der Religiösen wehren.

Die deutsche Politik ist keine Hochglanzveranstaltung? Ist das eine Aussage über die demokratische Reife einer Nation? Das ist eine welt-fliehende Aussage von Jenseitssuchern oder Esoterikern, die wissen, wer zum wahren Lichtreich gehört. Sagen ausgerechnet Zeitbeobachter, die die Esoteriker auf der Straße als Schwarmgeister diskreditieren.

Die Macher sind oder waren nie jung? Es wird immer rätselhafter. Sind jene nicht unbefangen, nicht spontan genug, haben sie die Vorzüge des Jungseins verloren und sind nur noch in der Lage, Menschen zu berechnen und zu manipulieren?

Die einzelnen Kandidaten werden vor allem danach beurteilt, wie sie sich räuspern oder spucken. Was sie sagen, ist belanglos, interessant ist allein die rhetorische Qualität ihrer Reden. Das ist der vollkommene Sieg der Redekunst über die Ernsthaftigkeit des Denkens. Der antike Streit zwischen Rednern und Denkern ist endgültig entschieden: denken ist nicht mehr gefragt. Es zählt nur noch die redende Dekoration, die glänzende rhetorische Hülle. Die Grundlage der antiken Polis aber war die Arbeit der Denkenden.

Heute zählt nur der Rahmen. Selbst Künstler, die zu Wegbereitern des NS-Unheils gehörten – wie etwa Ernst Jünger – werden nur nach ihren Formulierungskünsten bewertet – um rein gewaschen zu werden.

Das ist die Devise eines Berufs, in dem nur die Künste des Schreibens gelten. Relotius war ein skandalöser Donnerschlag der schreibenden Zunft, doch nach wie vor ist Schreiben-können das einzige Kriterium der Tagesbeobachter.

Widerspruchslos denken, Begriffe definieren, mit Argumenten überzeugen, Bescheid wissen über das, was man schreibt: alles nur Tandaradei. Je mehr sie auf sich halten, je weniger haben sie es nötig, ihre Thesen zu begründen. Begründen riecht nach Pöbel, der Begründungen nötig hat, um sich wichtig zu machen. Artisten der Zunft behaupten etwas und also haben sie Recht. Das ist Adel höheren Schreibens. Beispiel:

„Der Aktivismus hat ein einfaches Weltbild. Er hat sich einer Sache verschrieben und sortiert die Welt in Dinge und Menschen, die dieser Sache dienlich sind oder nicht. Deutscher Aktivismus ist in der Regel links und grün. Oder hübsch zusammengerührt. Im Lande Luthers und Kants scheint er in der moralischen Gewissheit vertäut, dass er ganz dem Guten dient.“ (WELT.de)

Luther und Kant sind absolute Gegensätze. Kant vertrat eine kategorische moralische Pflicht. Luther befreite die Gläubigen von jeder „Rechtfertigung durch Werke“. Seine Anstiftung zur Amoral lautete: sündiget tapfer, wenn ihr nur glaubt. Kant war Luthers Antipode.

Poschardt fordert eine Generallizenz zur moralischen Veruntreuung der Welt. Wie können solche Fehlurteile in einer Gazette durchgehen, die angeblich seriös sein will?

Unfreiwillig entlarvt der Artikel die Minderwertigkeitsgefühle der Schreiber gegenüber politischen Tätern, auch Aktivisten genannt. Um diese Gefühle zu bewältigen, werden sie durch schlichte Behauptung ins Gegenteil verkehrt: Aktivismus unterscheide die Welt in gut und böse. Das führe zur moralischen Gewissheit, die angeblich dem Guten diene. Ergo muss sie – böse sein.

Argumente? Keine. Der Schreiber widerlegt sich selbst, denn auch er unterscheidet zwischen gut und böse. Nur der Inhalt des Guten und Böse ist ein anderer. Was bei Moralisten auch nicht anders ist, denn sie suchen das wahre Gute und Böse, um es vom falschen Guten und Bösen zu unterscheiden.

Die FFF-Aktivisten werden als Kitschiers verhöhnt. Wer Gutes wolle und Böses verabscheue, habe etwas „bemerkenswert Unfreies und Uniformes“ an sich.

Hier spielt Genialität, der kreative Gott der Deutschen als Kritiker der französischen Aufklärung, eine Hauptrolle. Was begründbar ist, ist auf Argumente angewiesen. Das grenzt aber an Arbeit, an mühsames Nachdenken, nicht zu vergleichen mit dem göttlichen Imperativ: er sprach, es werde Licht – und es ward Licht.

Genies begründen nichts. Alles, was sie behaupten, lehnt es ab, aus nachvollziehbaren Gründen hervorzugehen. Das ist Pöbel-Renommee, keine freie Geistestat.

Die freie Genieästhetik beginnt in der Romantik bei Fichte. Die Übereinstimmung von Ich und Wirklichkeit kann nicht von letzterer abhängig gemacht werden. Das wäre Abhängigkeit von Instanzen, die nicht Ich sind. Wie demütigend wäre das.

Das freie Genie-Ich setzt sich selbst – und also ist es. Es ist eine gottgleiche Schöpfertat. Darunter macht es kein omnipotentes Ich. Fast die Gesamtheit der heutigen Medien ist auf den hohen Genieton gestimmt.

Ist ihre Devise: schreiben, was ist, nicht das exakte Gegenteil ihres romantischen Geniekults? Nein, denn nur, worüber sie selbst schreiben, ist würdig, zu sein. Sie schreiben und also ist es.

Warum rasten sie im Wahlkampf aus beim Prognostizieren dessen, was möglich ist? Warum warten sie nicht, bis die Parteien sich entschieden haben? Dann könnten sie mit ihrer aufsummierten Häme über das Ergebnis herfallen. Das ist sterbenslangweilig. Sie wollen in die Zukunft schauen, aber die ersten sein, die das Kommende gesehen haben.

Das Sollen lehnen sie nur ab, wenn es um polit-moralische Direktiven geht: was gut sei für die Menschen, eben das sei wahrhaft gut. Deutschen Geniekünstlern ist alles moralische Sollen suspekt. Da müsste man sich ja an die Normen des Guten halten: welch unerträgliche Unfreiheit. Die Freiheit der Genies – identisch mit der Freiheit der Neoliberalen – verzichtet auf begründbare Normen. Da müssten sie sich ja abhängig machen von nicht-genialen Pflicht-Autoritäten. Welch eine unwürdige Schande.

Der Geniekult ist ohne deutsche Innerlichkeit nicht denkbar. Denn alles, worüber er gebietet, musste den äußeren Realitätstest bestehen. Im Innern hingegen war er frei waltender Gott seines Ichs.

Die Innerlichkeit des Glaubens war das Rückzugsgebiet des Christentums seit den Worten: mein Reich ist nicht von dieser Welt. Nur, was ihr im Glauben besitzt, besitzt ihr wahrhaftig. Die äußere Welt ist – noch – des Teufels. Bald aber wird sie dem Vater übergeben, dann, am Ende der Tage, werden Innerlichkeit und Äußerlichkeit eine Einheit bilden. Solange dies noch nicht der Fall ist, muss die Innerlichkeit alles im Glauben vorwegnehmen, um zur Pflanzstätte des Äußeren zu werden.

„Gehe nicht nach draußen, kehre in dich selbst ein; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“ (Augustin)

Solange der christliche Glaube zu schwach war, um die Mächte des Äußeren zu überwinden, war er auf Innerlichkeit als Schutz vor Tyrannen angewiesen. Wenn aber der böse Feind prinzipiell besiegt sein wird, hat die wichtige Rolle der Innerlichkeit ausgespielt. Dann kann jeder sein Innerstes frank und frei der Welt mitteilen.

„Die deutsche Innerlichkeit will ihren Schlafrock und ihre Ruh und will ihre Kinder dusslig halten und verkriecht sich hinter Salbadern und Gepflegtheit und möchte das Geistige in den Formen eines Bridgeclubs halten.“ (Gottfried Benn)

Die deutsche Nation ist nur ökonomisch mit der Welt verbunden. Geistig ist sie mit sich selbst beschäftigt. Ihre Innerlichkeit stellt sich dar als nationaler Solipsismus, der sich nur für sich selbst interessiert. Zwar sind die Deutschen in aller Welt zu finden – wo sie als Urlauber so herrlich ungebunden und frei sind –, doch ihr wirkliches Interesse gilt nur ihnen und ihrem Wohl.

Mit ihrer Nation fühlen sie sich verbunden, nicht aber mit den Personen dieser Nation, die sie weder verstehen noch nachempfinden können. Auch Mutter Merkel ist für sie eine unbekannte Fremde, wichtig allein durch ihre palliative Kraft. Wer hinter dieser Fähigkeit steckt: eine solche Neugierde ist ihnen unbekannt.

Ihre Innerlichkeit bedeutet nicht, sie wüssten Bescheid über die inneren Antriebe ihrer Persönlichkeit. Davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil, ihre Innerlichkeit ist verbunden mit einem Getue, das gar nicht wissen will, von welchen inneren Kräften es bewegt wird. Die Innerlichen sind zu Marionetten politischer Kräfte verkommen.

Deshalb können auch böse Menschen verharmlost werden, indem ihre Sprache des Verderbens zu äußerlicher Rhetorik bagatellisiert wird. So Ernst Jünger, einer der eifrigsten Vorbereiter des NS-Regimes, dessen Prosa nichts als rhetorisches Feuerwerk war.

„Ernst Jünger hat es seinen Kritikern immer leicht gemacht, ihn und sein Werk abzulehnen. Elitär seien seine Bücher und kalt, hieß es, politisch mindestens dubios und überhaupt unlesbar – zu viel Männlichkeitskult, zu viel Heroismus, zu viel Nationalismus, zu wenig politisches Interesse, viel zu wenig Mitgefühl. 1920 fasste er seine Tagebuchnotizen aus den Kriegsjahren zu jenem Buch zusammen, das ihn bekannt machte: »In Stahlgewittern«, Untertitel: »Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers«. Ist es ein Buch, das den Krieg verherrlicht? Über den Krieg zu schreiben erfordert ja immer einen Standpunkt, darüber herrscht Einigkeit: Wer über den Krieg schreiben will, muss unbedingt gegen den Krieg schreiben. Ein Kriegsroman ist nur als Anti-Kriegsroman denkbar. Jünger, das ist tatsächlich unerhört, interessiert sich nicht für Fragen der Moral. Krieg ist für ihn vor allem Bewährungsprobe. Als Prüfung ist Krieg weder gut noch schlecht, sondern erst einmal willkommen. Krieg, das immerhin kann man aus den »Stahlgewittern« lernen, ist vor allem Überforderung. In der Nahdistanz ist alles zu grell, zu laut, zu schnell, alles ist immer gegenwärtig und zugleich unsichtbar.“ (SPIEGEL.de)

Schriftliche Rhetorik oder die „kraftvolle deutsche Sprache“ dient Jünger nur zum Zweck, den Krieg jeder moralischen Anklage zu entziehen. Die Kunst der Sprache – oder das Schreiben-können – befreit alles Fragwürdige von kleinlicher Moral. Was genial beschrieben werden kann, kann nicht böse sein. Die ästhetische Kraft des Beschreibens hebt das Anrüchige in den Bereich des Bewundernswerten.

Dass Jüngers Kriegsbegeisterung die Herrschaftsgelüste der NS vorbereitete, wird im SPIEGEL-Artikel kraft seiner schriftstellernden Glanzleistung entschärft. Das Böse kann so böse nicht sein, wenn es vom Genius der Kunst geküsst wurde.

Indem Journalisten die Politiker – die nur das Beste für die Welt wollen – als substanzlose Figuren darstellen, die nur durch Redekunst und theatralisches Gehabe brillieren, werfen sie ihnen vor, was sie sich selbst vorwerfen, aber nie zugeben würden: alles, was sie tun, ist nichts als Schauspielerei moralischer Wichtigtuer. Dennoch wollen  die Beobachter den Aktivisten überlegen sein. Jede Pose des Moralisierens lehnen sie kategorisch ab.

Kühl und distanziert beschreiben sie nur, was ist. Das Predigen überlassen sie den selbsternannten Führern der Nation. Genau genommen seien Aktivisten so hohl wie sie, die Beobachter, die jede Verantwortung für die Geschicke der Menschheit ablehnen.

Früher schauten die Deutschen zu, beteten und legten alles in Gottes Hände. Heute schauen sie zu, beschreiben es in kostbarer Sprache und – legen alles in Gottes Hände. Welch ein Fortschritt des Geistes im Bewusstsein der Unfreiheit.

Fortsetzung folgt.