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nichtsdesto-TROTZ LXXIII

Tagesmail vom 22.09.2021

nichtsdesto-TROTZ LXXIII,

„Was macht einen guten Regierungschef aus?

Winkler: Realistische Zielsetzungen, Nüchternheit im Hinblick auf die Wahl der einzusetzenden Mittel, die Entschlossenheit, verantwortungsethisch und nicht bloß gesinnungsethisch zu handeln, also die Folgen von Entscheidungen so gut wie möglich im Voraus zu bedenken. Nur so erwächst das Vertrauen, auf das jeder Kanzler und jede Kanzlerin angewiesen ist.

ZEIT: Herr Winkler, was wird einmal über Angela Merkel in den Geschichtsbüchern stehen?

Winkler: Sie wird vermutlich als eine alles in allem erfolgreiche Krisenkanzlerin bewertet werden. In den 16 Jahren ihrer Regierungszeit musste sie ungewöhnlich viele internationale Krisen bewältigen: die Weltfinanzkrise, die anschließende Euro-Krise, die Ukraine-Krise, die Migrationskrise, die Corona-Krise. Man wird ihr ungeachtet aller Kritik im Einzelnen attestieren, dass sie ähnlich wie Helmut Schmidt Deutschland kraftvoll durch schwere See gesteuert hat.“ (ZEIT.de)

Es gibt Begriffe, die zum edlen deutschen Besteck gehören. Bei hohen Familienfesten werden sie aus dem Schrank geholt, um den Rang der Anwesenden zu feiern. Zu jenen gehört Max Webers Doppelbegriff Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Ist gar ein deutscher Professor unter den Gästen, gehören Gesinnung und Verantwortung zur Grundausstattung des Diners.

Was nicht bedeutet, dass diese abendländischen Kostbarkeiten erklärt werden dürften. Im Gegenteil, Nachfragen und Debattieren würde die Gesamtatmosphäre zum Marktplatz degradieren, auf dem das Volk streitet und lärmt.

Versteht sich, dass kein Interviewer sich traut, durch ordinäres Nachfragen die Hochbegriffe zu entweihen. Nachfragen würde bedeuten, der professoralen Rede zu misstrauen, sie auf Widersprüche zu überprüfen ja – unausdenkbar – sie mit Kritik dem Lärm der Gosse auszuliefern.

Wer die Sprache der Eingeweihten nicht versteht, gehört nicht dazu, der ist – draußen. Sprache hat den subtilen Zweck, die Uneingeweihten wortlos auszugliedern. Bildung ist noch immer die beste Methode, die Hierarchie der Gesellschaft zu stabilisieren.

Bildung sei die wirksamste Art zur Herstellung einer gerechten Gesellschaft? Diesen Unsinn können nur aufgestiegene Proleten verzapfen, die ihre niedere Herkunft verleugnen und ihr mühsam erworbenes Herrschaftswissen mit Bildung verwechseln.

Die Führungsschichten einer Gesellschaft betrachten echte Bildung – die Kunst dialogischen Nachdenkens – nicht nur als Tand, sondern als Bedrohung ihrer Macht.

Echte Bildung – Kant sprach von der Fähigkeit, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen – muss in einer Klassengesellschaft mit aller Macht verhindert werden. Dazu wurden Schulen eingerichtet, Disziplinen der Intelligenz oder Bildungsökonomie erfunden, die präzis ausrechnen können, was man an Drill investieren muss, um die erlernte Fachidiotie an die geeigneten Schalthebel der Gesellschaft zu hieven – um ihre Rentabilität zu erweisen.

Bildung als Fähigkeit, die Defekte der Gesellschaft freizulegen, um eine überlebensfähige neue Gesellschaft aufzubauen, ist Gift für Geschäftsführer des sprudelnden Profits.

Schon in der Kita soll der Nachwuchs Sprachen lernen, um eines Tages die Welt zu erobern und globales Wachstum zu befördern.

Die Gesellschaft ist eine Maschine, die technische Funktionäre benötigt, keine Sonderlinge, Grübler oder Schwatzbasen, die sich für gebildet halten:

„Wohlstand braucht Fleiß, Anstrengung, Top-Talente. Und eine Bildungspolitik, die diese Talente erkennt und sie gezielt fördert. Lassen Sie uns Schule und Hochschule doch wieder klar und deutlich an diesem Prinzip ausrichten. Wir brauchen den Mut zur Leistungsorientierung und zur Absage an Mittelmäßigkeit und Durchschnitt. Man fragt sich: Wo sind wir eigentlich überhaupt noch führend? Ganz sicher bei Steuern, Umverteilung und beim Strompreis. Ökonomie und Ökologie gehören zusammen. Nur wer wirtschaftlich stark ist, kann für das Klima hilfreich sein. Wie stark aber ist Deutschland noch? Unsere Produktivität sinkt in den letzten Jahren, anstatt zu steigen. Bei der Wettbewerbsfähigkeit fallen wir immer weiter zurück: Erst neulich zeigte uns eine Studie auf Platz 17 – von 21. Bei der Innovationskraft landen wir nur auf Platz 9. Und in Sachen Digitalisierung sind wir unter den G 20 die Nummer 17. Die Staatsquote in Deutschland liegt inzwischen über 50 Prozent.“ (WELT.de)

Talentierte, intelligente, angepasste Fachidioten: solche Menschen braucht die Gesellschaft, um den globalen Wettbewerb zu gewinnen. Und die Medien sind immer dabei. Storys über hochbegabte Säuglinge, die als Pubertierende ihren Abschluss in Physik feiern: das sind die Heroen des Fortschritts und Profits, die jedes Land benötigt.

Eine gleiche, unauslöschliche Würde des Menschen kannst du vergessen. Sie richtet sich streng nach deiner Nützlichkeit und wird – jederzeit antastbar und rationierbar – nach dem bemessen, was du der Gesellschaft an Reputation und Mammon einbringst.

Da es keine Naturgesetze gibt, die den Wert einer Maloche auf Heller und Pfennig berechnen könnten, müssen fehlende Kriterien durch beliebig festgelegte Wertigkeiten ersetzt werden. Bist du es wirklich wert, dass deine Leitungsfunktion 100 mal wertvoller ist als die Tätigkeit einer Pflegekraft, die aufopferungsvoll Leben retten kann? Warum verdient eine Schwester auf der Intensivstation ein Bruchteil dessen, was ein windiger Porschefahrer verdient?

Seit die Geisteswissenschaften – gelb vor Neid gegen die Gesetze der Natur – alles unternahmen, um die Präzision mathematischer Naturgesetze zu imitieren, begingen sie eine gigantische Fälschung. Ihre windigen Regeln verkauften sie als originäre Erfindungen der Natur. Dieser Schwindel sorgte für den scheinobjektiven Charakter des Kapitalismus, der sich eine wirtschaftliche Gesellschaftsmaschine zusammenkonstruierte, die keineswegs objektiven Gesetzen gehorcht, sondern aus lauter subjektiven Diskriminierungen besteht.

Ein solcher Generalschwindel vergiftet eine Gesellschaft, die es ohnehin nicht versteht, die Würde des Einzelnen zu wahren.

Indem die Würde der Einzelnen quantitativ unterschiedlich definiert wird, kann es keine gleichberechtigte Würde geben. Wer sich seine Würde tausendmal teurer bezahlen lässt als die Schwachen und Abgeschlagenen, entwickelt kein Gespür mehr für eine Gesellschaft freier, gleichwertiger Menschen.

Eine solche Mogelgesellschaft kennt keine Skrupel, die Natur zu betrügen, indem man ihr mehr abverlangt, als ihr gerecht zurückzugeben. Verschiedene Begabungen werden als Maßstab unterschiedlicher Würde genommen. Das ist die absolute Negation der gleichwertigen Würde, wonach jeder Mensch, unabhängig von Geburt, Rasse, Begabungen, von gleichem Wert sein soll wie sein Nachbar.

Eine solche würde-zerhackende Gesellschaft kann sich niemand leisten, der gerechte Verhältnisse für eine zufriedene civitas benötigt. Also wird Gerechtigkeit negiert zugunsten abnormer Willkürgesetze. Das ist die Negation jener Gesellschaft, die wir als Grundlage gerechter Naturbeziehungen in Zukunft nötig haben.

Würde ist ein absoluter Wert, den die Mächtigen zu ihren Gunsten quantifiziert haben, um ihrer Herrschaft über die Schwachen ein pseudogerechtes Gewand überzustreifen. Wie lange wollen mündige Gesellschaften sich solche Unverschämtheiten gefallen lassen?

Einen naturgerechten Kapitalismus gibt es nicht, weil er davon lebt, aus Wachstumsgründen immer mehr Land und Naturstoffe zu verschlingen – die von Menschen Rohstoffe benannt werden, um ihrer Rohheit einen kulturellen Schliff zu verschaffen. Was zum Wachstum eines überflüssigen Luxus dient, ist nichts anderes als eine wachsende Zurückdrängung und Beschädigung der Natur.

„Die Verhaltensforscherin Jane Goodall ist der Meinung, die Menschheit sei selbst schuld am Ausbruch des Coronavirus. Die Natur würde sich nur zur Wehr setzen, nachdem die Menschen jahrzehntelangen Raubbau an der Erde betrieben hätten, sagte die Britin.
„Wir haben uns das selbst eingebrockt, weil wir absolut respektlos gegenüber Tieren und der Umwelt sind.“ Goodall geht davon aus, dass die Respektlosigkeit gegenüber Wild- und Nutztieren dazu geführt habe, dass Krankheiten von Tieren auf den Menschen übertragen werden – so auch das Coronavirus.“ (Berliner-Zeitung.de)

Wer in Deutschland den Satz formuliert, die Natur räche sich am Menschen, weil er ihr immer mehr die Luft abschnürt, wird als Naturesoteriker beschimpft. Natur darf kein lebendiger Organismus, sie hat ein lebloser Mechanismus zu sein.

Ein Wissenschaftler bestätigt die These von der Natur, die inkompatibel mit jedem Kapitalismus ist:

„»Innerhalb der Grenzen des Kapitalismus ist die Rettung der Erde nicht möglich«, sagte Dörre. Werde die „Zirkularität aus Verschwendung, Überproduktivität und Vernutzung“ nicht aufgegeben, werde das neue Erdzeitalter von kurzer Dauer gewesen sein, schreibt der Sozialwissenschaftler auch in seinem gerade erschienenen Buch „Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution.“ So sei die kapitalistische Wirtschaft auf permanente „Landnahmen“ angewiesen. Der Kapitalismus könne nur durch Marktexpansion existieren. An seine Stelle sollte ein demokratischer und nachhaltiger Sozialismus treten, der die autoritären Fehler seiner real existierenden Vorgänger vermeide, und die 17 UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung als normative Leitlinie erachte. Tatsächlich positionierten sich viele Naturwissenschaftler:innen bezüglich eines notwendigen Umbaus unserer Produktions- und Lebensweise heute deutlich klarer, als die Mehrzahl ihrer Kolleg:innen in den Sozial- und Geisteswissenschaften, erklärte Dörre in Wiepersdorf.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Die Geisteswissenschaften, immer noch auf profilneurotischem Trip, zu den Naturwissenschaften aufzuschließen, dürfen weder ihrem Hören noch Sehen vertrauen. Sie würden sonst mit bloßen Augen den sinnlichen Verfall der Natur erkennen.

Wie kam diese seelenlose Degradierung jener Natur zustande, von deren Reichtum und Fürsorge wir seit Menschengedenken profitieren?

Es waren die Folgen des phänomenalen Sieges der wissenschaftlich erkennbaren, messbaren und beherrschbaren Mechanisierung der Natur über das pralle Leben der Menschheit, welches Gesetzen untergeordnet wurde, die die Freiheit des Geistes negierten. Nicht die strengen Methoden der Wissenschaft: es waren die Wissenschaftler, die aus Triumphgeheul Kriterien auf die Menschenwelt übertrugen, die der natürlichen Umwelt des Menschen nicht gerecht wurden.

Die Naturwissenschaft hatte die Theologie besiegt, die auf haltlosem Glauben beruhte. Nun war eine Verlässlichkeit gewonnen, die danach dürstete, das gesamte Leben des Menschen in den Griff zu kriegen. Die determinierte Natur zwang den Geist in das Korsett einer völligen Unfreiheit. Die Philosophie reagierte sofort auf den Sieg der neuen Naturwissenschaft. Bei Descartes wird der Mensch zur Maschine, die nur mit Gottes Hilfe zu regulieren war. Durch die Mechanisierung der Natur entstand jene unlebendige Natur, die seitdem vom Menschen ungerührt ausgeschlachtet wird.

Alles, was lebendig schien in der Natur, wurde ihr entzogen – und zum Werk des Menschen erklärt. Der Mensch ernannte sich zum Schöpfer der Natur:

„Die sinnlichen Eigenschaften der Dinge, der Reichtum der Farben, Töne, die bis dahin ihnen selber anzugehören schienen, erweisen sich jetzt in einer schärferen Prüfung als Leistungen der Seele, als Betätigungen, mit denen sie aus ihrem eigenen Grunde einen von draußen kommenden Reiz beantwortet; der wundervolle Zauber, durch den die Natur uns entzückt, ist ihr von der Seele geborgt, diese hat der seelenlosen Natur der Massen und Bewegungen jenes prächtige Gewand geliehen. So verliert die Natur alle Seele und seelische Eigenschaft, fremd steht sie dem Menschen gegenüber, ihre Unendlichkeit scheint das seelische Gebiet zu winziger Kleinheit herabzudrücken. Aber der Denker selbst sieht in jener Wendung nicht Verlust sondern Gewinn. Von allen seelischen Elementen befreit, kann die Natur dem Denken vollauf durchsichtig werden.“ (Rudolf Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker)

Die Natur wurde zum Räderwerk. Auch der kunstvollste Organismus sei nichts anderes als eine Maschine höchster Vollendung. Das Wirken der Naturkörper erfolgt nie von innen heraus und selbstbestimmt, sondern nur auf äußere Anregung vom Menschen. An die Stelle eines unzuverlässigen, bloß auf Glauben beruhenden Gottes, trat eine durchgängig präzise, zuverlässig berechenbare Riesenmaschine, die Bacons Beherrschung der Natur erst möglich machte.

Natur wurde erkenn- und beherrschbar – allein durch die Fähigkeiten des Menschen, die Natur erkenn- und beherrschbar zu machen. Alles, was die Natur auszeichnete, wurde zur projektiven Schöpfung des Menschen. Das war die neue Spur der Wissenschaft, der alle Denker folgten.

Vicos Formel hieß: Der Mensch kann nur erkennen, was er selber hervorgebracht hat.

Kant verlieh der Natur alle kausalen Fähigkeiten durch seine apriorische Projektion. Fichte erklärte die ganze Natur zum Nicht-Ich, das vom Ich des Menschen gesetzt wird. Hegels gesamte Philosophie wurde zur Biographie des göttlichen Geistes, der am Ende der Geschichte mit dem menschlichen Geist verschmilzt.

Das war die Ermächtigung für die Techniker, der minderwertigen Natur eine höhere aufzupfropfen, deren gottgleiche Anmut den Verlust des Lebendigen durch Quantifizierung mehr als wett machte.

Heute sind wir dabei, der minderwertigen Natur durch eine überlegene Technik ihren ursprünglich göttlichen Zustand zurückzugeben – und sie noch zu übertrumpfen.

Da der Glauben in der Moderne nachließ, weil Gott immer weniger zuverlässig und glaubhaft schien, nutzte die Wissenschaft die Erkenntnis sicherer Naturgesetze, um Gott endgültig zu entthronen und an seine Stelle die Natur zu setzen. Sinnliche Erkenntnisse wurden aus dem Reigen der zuverlässigen Wissenschaft ausgeschlossen, denn die Pracht der Natur konnte mathematisch nicht erfasst werden.

Alles, was der Natur entzogen wurde, musste ihr der Mensch ersetzen, um ihre mangelnde Attraktivität wieder auszugleichen. Das ist die Funktion der naturwissenschaftlichen Technik: das Minderwertige der Natur muss durch technische Innovationen kompensiert, ja, übertroffen werden.

Beispiel Raumfahrer: die Schönheit der Natur, die sie auf Erden nicht erkennen können, müssen die Menschen durch die Fähigkeiten der Raumfahrt von außen wahrnehmen.

Der moderne Mensch wollte die Natur entdecken und erforschen – aber von ihr nicht abhängig werden. Das widersprach seiner religiösen Eitelkeit, Herr der Natur zu sein. Also erniedrigte er die Natur zu einem „unerkennbaren Ding an sich“ (Kant), dessen partielle Erkennbarkeit von seinen eigenen, der Natur verliehenen Fähigkeiten, abhing. Natur erkennen, hieß, die Natur von außen so zu bestimmen, dass sie überhaupt erst erkennbar wurde.

Woran erinnert uns das? An die eingebildeten Fähigkeiten des Mannes, die minderwertige Frau durch Bildung und Erziehung auf seine gottgleiche Ebene emporzuheben. Das Weib an sich ist nichts, wenn der Mann es nicht auf seine Höhe emporzieht.

Genau so ist das Verhältnis des Menschen zur Natur. Wenn der Mann der Frau nicht jene Qualitäten vermittelt, die sie so charmant, liebenswürdig und verführerisch machen, dass er ihren Reizen erliegen kann, wird‘s nichts aus Eros. Der Mann erniedrigt die Frau, um sie zu seinem Ebenbild zu erhöhen, in welchem er sein eigenes Ich erkennt.

Auch Merkel ist zur Projektionsfigur der Männer geworden – und hat die Übertragung der männlichen Rolle angenommen. Sie hatte keinerlei Vorstellungen von der männlichen Welt des Westens, die aus Kapitalismus, Wirtschaft und technischem Fortschritt bestand. Sie schluckte und akzeptierte.

Eine weiblich-humane und gerechte Welt zu gestalten, erschien der Pastorentochter wie eine träumerische Blasphemie. Sie setzte sich in die westdeutsche Lok und ließ sie der gewohnten Schienenspur folgen. Sie begnügte sich, das emotionale Klima an Bord mit zuverlässigem, bescheidenem Lächeln wohltuend zu temperieren. Eigene Ziele zu verfolgen, schien ihr abwegig.

Professor Winkler erteilt ihr die Note Eins plus für das sichere Manövrieren des Schiffleins durch die schwere See. Klimagefahr scheint ein Begriff zu sein, den der Historiker keines Blickes würdigt. Sonst wäre seine Beurteilung der Merkel-Epoche anders ausgefallen. Alle „Erfolge“ Merkels hatten nur den kleinen Makel, dass sie sich selbst gefährdeten. Wohlstand auf Kosten der Natur ist kein Erfolg für den Menschen, sondern das suizidale Gegenteil. Hat Merkel denn nun gesinnungsethisch oder verantwortungsethisch gehandelt?

Zwei unklare Begriffe, die sich für Max Weber nicht mal ausschließen. Würde sie gesinnungsethisch handeln, hätte sie – laut strenger Definition – nicht verantwortlich handeln können. Und umgekehrt: hätte sie machiavellistisch nur die Folgen ihres Tuns bedacht, könnte sie nicht gesinnungsethisch gehandelt haben.

Die griechische Ethik war rein „gesinnungsethisch“ – auf den ersten Blick. Sokrates verteidigte sein mäeutisches Tun ohne Wenn und Aber, obwohl er mit der Verurteilung durch das Volk rechnen musste. Lieber den Tod durch Wahrhaftigkeit als ein unwürdiges Leben in Lüge.

Die Stoiker nicht anders. „Jede Handlung ist dann eine vollkommene, auch wenn ihr der äußere Erfolg versagt wird. Denn nur auf die innere Beschaffenheit der Handlung kommt es an, auf die Gesinnung, aus der sie vollbracht wird. Die Arete (Tugend) ist Selbstzweck.“ (Pohlenz, Die Stoa)

Waren Sokrates und die Stoiker also verantwortungslose Burschen? Auf keinen Fall. Von der grundlegenden Vernünftigkeit der Menschen (und des Kosmos) waren sie so überzeugt, dass ihr Tugendverhalten nie sinn- und folgenlos sein konnte. Man durfte nur nicht das Grundvertrauen in die Welt verlieren. Das Gute wird sich à la longue durchsetzen. Ein irreparables Böses gab es nicht, das eine gute Tat hätte ungeschehen machen können.

„Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“

Das ist die christliche Alternativwelt. Die rechte Gesinnung besteht darin, von vorneherein an die Folgen dieser Gesinnung zu denken: die Seligkeit bei Gott zu gewinnen. Irdischer Selbstzweck? Verboten. Denn alles, was man tut, muss zur höheren Ehre Gottes vollbracht werden: nur dann wird man seinen ewigen Lohn empfangen.

Ein Grundvertrauen in die Welt wäre die Sünde wider den Geist. Denn die Welt ist das Reich des Teufels und muss vernichtet werden.

Sollte Merkel tatsächlich glauben, was sie zu glauben vorgibt, würde sie verantwortungslos gegenüber der Welt handeln. Denn nicht die Erhaltung und Humanisierung der Welt hätte das Ziel ihrer Politik sein dürfen, sondern im Gegenteil: das apokalyptische Schicksal der Welt liegt fest und kann durch menschliches Tun nicht verändert werden. Es geht nur um die ewige Seligkeit der Erwählten, die Masse der Verlorenen soll zum Teufel gehen.

Frau Merkel: sollten Sie ernsthaft gläubig sein und den Maximen Ihres Glaubens folgen – könnten Sie keine verantwortliche Politik für die Menschen – verantworten.

Wollten sie aber politisch verantwortlich handeln, könnten Sie nicht zugleich eine wahre Christin sein. Das Eine schließt das Andere aus. Sie müssen wählen.

Fortsetzung folgt.