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nichtsdesto-TROTZ LXVIII

Tagesmail vom 10.09.2021

nichtsdesto-TROTZ LXVIII,

Mathias Döpfner hat genug. Von „Grundsätzen und Werten“ des Springer-Verlags will er sich endlich befreien:

„Wir treten ein für Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie und ein vereinigtes Europa.

Wir unterstützen das jüdische Volk und das Existenzrecht des Staates Israel.

Wir befürworten das transatlantische Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa.

Wir setzen uns für eine freie und soziale Marktwirtschaft ein.

Wir lehnen politischen und religiösen Extremismus und jede Art von Rassismus und sexueller Diskriminierung ab.“

Begründung: Grundsätze und Werte sind moralische Absichtserklärungen – von denen er nichts hält:

„Viele schreckliche Sachen sind im Namen einer guten Absicht geschehen. Wer mit Haltungsjournalismus die Welt verbessern will, sollte sich schnell einen anderen Beruf suchen. Wir sind nicht der Reparaturbetrieb der Politik und auch nicht der verlängerte Arm der NGOs. Wir stellen unbequeme Fragen und schauen den Mächtigen auf die Finger. Kritisch nach allen Seiten. Dadurch leisten wir der Demokratie und der freien offenen Gesellschaft den besten Dienst. Theodor Fontane hat im „Stechlin“ geschrieben: »Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht. Und wenn es welche gibt, dann sind sie langweilig.«“ (WELT.de)

Demokratie, freie offene Gesellschaft, unbequeme Fragen stellen, Haltung beweisen, können demnach keine unanfechtbaren Wahrheiten sein – und wenn doch, langweilen sie ihn zu Tode, den Herrn über viele Tagesschreiber.

Welche Politik kann ihm die schreckliche, die täglich drohende Langeweile vom Leibe halten? Eine Weltpolitik, die nicht zur Ruhe kommen kann, deren Probleme nie gelöst werden dürfen, die ein täglich neues Spektakel zu bieten haben. Die Lust des unberechenbaren Augenblicks darf keine Sekunde der Monotonie des Philistertums erliegen.

Was dem einen riskantes Bergbesteigen oder Gründen einer Firma, ist Logen-Beobachtern das wirre Getümmel der Weltpolitik. Da kommen sie auf ihre Kosten. Da gibt es kein Ende der Weltprobleme, da sind utopische Friedensperspektiven untersagt. Das sind ihre Konsolenspiele, die sie in atemloser Kurzweil verfolgen – aber Spiele in echt, per favore!

Sie wollen kritisieren, Politik aber nicht reparieren. Was habe Kritik mit Verbesserung der Verhältnisse zu tun?

Kommt das Wort Kritik nicht von trennen, unterscheiden? Soll das Richtige nicht vom Falschen, das Gute vom Schlechten getrennt werden, damit es einen Fortschritt der Menschheit in fröhlichem Beieinander geben kann? Fahr zur Hölle, langweiliger Friedensnarr! Wo bleibt unser Amüsement des bunten, zynischen Augenblicks, die Aufregung des Unberechenbaren und Unlösbaren?

Kritik ist Kunst, die sich selbst genügt, keine Reparatur des Irreparablen. Sie befleckt sich mit keiner Realität.

„Die Hochschätzung der Kunst ergibt leicht eine Geringschätzung der Moral, die oft in verzerrter Weise, als eine herdenhafte Unterordnung unter eine Schablone, verstanden wird. Sie bewirkt eine eitle Selbstbespiegelung und Dünkelhaftigkeit des sich als höher gebärdenden Individuums.“ (Rudolf Eucken, Die Lebensanschauungen der Großen Denker)

Geister der Vergangenheit entsteigen ihren Gräbern. Es sind die der Romantik, „die einen vollen Bruch mit der Aufklärung“ vollzogen hat. Mit Begriffen wie Aufklärung geben sich die Herolde der wiedergekehrten Romantik nicht ab. Sie dulden keine Erinnerung an die Vergangenheit, schon gar nicht wollen sie unter Kategorien der Vergangenheit abgeheftet werden. Was auch immer sie tun, sie sind Originale, die sich jedem Vergleich entziehen.

Döpfner will der Demokratie den besten Dienst leisten? Ist das keine Absichtserklärung, eine moraltriefende Gesinnung, die im Chaos enden wird? Nein, hier geht es um echte und tiefe Gesinnung, die nicht das Gute will, um das Böse, sondern das Böse, um das Gute zu ernten. Von Mephisto haben die Deutschen gelernt: seid verrucht, dass es kracht, dann werdet ihr euer Leben genießen.

Das ist das Geheimnis heutiger Amoralisten. Sie prunken nicht mit edlen Absichten, die im Gegenteil verenden, sie haben den Spieß umgedreht. Sie wagen es, untergründig wider alle Moral zu sein – um der Moral willen. Lieber spielen sie die Rabauken, als Tugendbolde, die die Welt mit moralischer Überheblichkeit ins Elend stürzen.

Gute Absichten erbringen böse Taten – schlechte Absichten sorgen dafür, dass die Ergebnisse akzeptabel sind. Logisch? Psychologisch? Nein, theologisch:

„Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“

Deutsche Dialektik rechnet mit Gott. Was auch immer der Mensch tut, er kann nur versagen. Also versagt er, um Gottes allmächtige Weisheit hervor zu kitzeln.

Journalisten stellen nur Fragen, äußern aber keine Meinungen. Das würde sie ja kenntlich machen. Selbst wenn es um die Rettung der Menschheit ginge, blieben sie cool und kommentierten neutral und unbeteiligt, pardon, kommentierten sie eben nicht, sie fragten nur.

Natürlich sind es keine echten Fragen, denn solche haben den Zweck, Antworten zu finden. Antworten aber brauchen sie keineswegs, die würden ja ihre Standpunkte verraten.

Wie ihre Kritik, so sind auch ihre Fragen nur um ihretwillen. In Deutschland begann die Verdrängung der Politik oder ihre Umwandlung in Kunst bei Friedrich Schiller. Paradoxerweise stand am Anfang eine moralische Empörung über die Bluttaten der Guillotine.

„Auch Friedrich Schlegel befürchtete, dass die Französische Revolution und Robespierres Schreckensherrschaft eine furchtbare neu Epoche „selbstloser Verbrechen“ eingeläutet hatten, in der die Grausamkeiten nicht aus Liebe zum Bösen, sondern aus Liebe zur Tugend begangen wurden.“ (Arthur Herman, Propheten des Niedergangs)

Diese Übeltaten schrieben sie der Aufklärung zu und deren feindseliger Ablehnung der Kirchen. Was folgerten sie daraus? Sie lehnten die Aufklärung ab und wandten sich wieder dem Heiligen zu. Wenn das Böse aus guten Absichten bestand, mussten diese ad acta gelegt werden. Das Böse übernahm die Regie, um das Gute in der Welt zu vollbringen.

Döpfner ist überaus modern, weshalb er Schlegels Position blind imitiert. Der Grund seiner Nachäfferei ist allerdings keine Revolution im Westen, sondern das Versagen der Demokratien, nicht nur in der Klimafrage, sondern in ihrer militanten Doppelmoral gegen andersgläubige Staaten. Diese Doppelmoral endete desaströs in der afghanischen Katastrophe.

Wenn Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie und ein vereintes Europa zu den langweiligen Wahrheiten gehören, die Döpfner verabscheut, so stehen sie im Hause Springer auf der Defizitliste, die nach und nach entsorgt werden können.

Wenn die Unterstützung des jüdischen Volkes zu den moralischen Absichtserklärungen gehört, die in der Katastrophe enden, muss sie beendet werden. Der verbissene Kampf von WELT und BILD gegen Antisemitismus muss grundsätzlich überdacht werden.

Ohnehin gab es nie einen echten Kampf gegen die Ursachen des Antisemitismus. Dazu hätten die Tagesschreiber die biblischen Traditionen unter die Lupe nehmen müssen – was sie empört ablehnen, weil sie dazu nicht fähig sind. Was sich gestern ereignete, hat sich folgenlos ereignet. Es gibt keine Vergangenheit, die die Gegenwart nachhaltig prägen könnte. Mit jedem Augenblick der Heilsgeschichte beginnt ein Neues.

Dieser ständige Neubeginn reimt sich auch nicht mit der Aufarbeitung des Holocaust, der zwar nicht theoretisch, aber praktisch durch Verleugnung der Vergangenheit relativiert wird. Die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen wird zur politischen Phrase mit verblassendem Mitgefühl und mangelndem Verständnis.

Das ist nicht alles. Die jüdischen Verbände warnen davor, bei der bevorstehenden Wahl Parteien zu wählen, die „radikal und religionsfeindlich“ seien. (TAZ.de)

Erst mal tief Luft holen. Was ist denn eine radikale Partei? Sind Forderungen nach einer umfassenden Veränderung zur Abwehr der Klimagefahren radikal, also verboten? Ist radikal identisch mit antidemokratisch oder totalitär? Dann wäre jede gerechte und überlebensfähige Demokratie ein totalitäres Unding??!!

Desgleichen: was ist religionsfeindlich? Ist jede Religionskritik religionsfeindlich? Dann wären viele jüdische Aufklärer demokratiefeindlich gewesen! Ist Demokratie eine religiöse Erfindung? Sie ist das Gegenteil. Als die Griechen ihre Götter abschafften, begannen sie mit der Errichtung ihrer Polis. Ein wörtlicher Biblizismus hingegen ist ein totalitärer Glauben, der nicht davor zurückschreckt, Andersgläubige zu eliminieren. Man denke an das biblische Motto der Kanzlerin „im Wahlkampfmodus“ (Aust):

„Ihr werdet die Gottlosen zertreten; denn sie sollen Asche unter euren Füßen werden des Tages, den ich machen will, spricht der HERR Zebaoth.“

Demokratie toleriert alle Meinungen und religiösen Überzeugungen – mit Ausnahme jener, die sie zerstören wollen.

Hat Döpfner endlich verstanden, dass die Ultraorthodoxen in Israel kein anderes Ziel haben, als die einst vorbildliche Demokratie in eine Theokratie zu verwandeln? Ganz analog zu muslimischen Schariastaaten?

Medien kennen keine Selbstkritik. Haben sie gestern Kokolores verzapft, weil es den Zeitgeist verkörperte, müssten sie heute vor der eigenen Haustüre kehren. Denkste. Was interessiert sie ihr Geschwätz von gestern?

Diese Selbstgerechtigkeit teilen sie mit jenen, denen sie angeblich auf „die Finger schauen“. Ja, schauen tun sie, aber scheinkritisch und verantwortungslos. Werden sie eines Tages am Versagen der Politik mitschuldig gesprochen? Niemals, ihr Nicht-gemein-machen mit dem, was ist, rechtfertigt sie vollständig. Sie sind jene untätige, aber alles beurteilende und verurteilende Klasse, wie es einst die mittelalterlichen Priester waren.

Alles Neue und nach Sensation Riechende macht sie erst mal kirre und lähmt ihr Urteilsvermögen. Erst wenn der Wind sich zu drehen beginnt, drehen sie sich mit. Ein typisches Beispiel:

„Es gab eine Zeit, da konnte man kaum den Fernseher einschalten, ohne dem Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff zu begegnen. Die Thesen der neuen Autoritären stießen in einer für Eltern und Pädagoginnen schwierigen Zeit auf Gehör. Apokalyptische Befunde, Kinder betreffend, garantieren mediale Aufmerksamkeit. Dass Winterhoff medial so präsent ist, hat den Kinder- und Jugendpsychiater Kai von Klitzing „immer gewundert“. Seine Thesen seien populärwissenschaftlich und nicht fundiert. Es habe in der Wissenschaft eine kritische Auseinandersetzung mit dem Denken Winterhoffs gegeben, doch diese Positionen seien medial weniger aufgegriffen worden.“ (ZEIT.de)

Wie hätte die Wiederkehr der nationalsozialistischen Härte-Pädagogik so erfolgreich sein können, wenn die Medien nicht eifrig für sie geworben und jene Eltern, die dem Spuk widerstanden, als Helikoptereltern diffamiert hätten? Im ZEIT- Artikel findet man kein einziges selbstkritisches Wörtchen.

Es interessiert die Tagesbeobachter nicht, was sie am Vortag reißerisch propagiert haben. Journalisten ähneln ihrer geliebten Kanzlerin: immer befanden sie sich auf der rechten Seite der Geschichte, immer hatten sie sich alle Mühe gegeben, immer hatten sie ein reines Gewissen. Keine Realität konnte sie verlocken, ihre weiße Weste zu beschmutzen.

Da sie noch immer – trotz aller digitalen Medien – das Monopol des Schreibens besitzen, denken sie nicht daran, dieses Monopol durch Nestbeschmutzung zu zerstören. Ihr Raushalten aus allem ist nicht besser als die kindische Affektsprache der Kanzlerin, die die Massen zum Einschlafen bringen soll.

„»Nach der Abnabelung wird das Kind erst einmal beiseitegelegt und für 24 Stunden in einem abgedunkelten Raum frei von Nahrung und fern der Mutter verwahrt.« Das ist eine von deren Weisheiten, die im Roman vorkommen. Eine andere: »Das Kind, das bei irgendeinem Schmerz nicht unnötig bedauert wird, schreit nur etwa halb so lang.« — Die NS-Pädagogin Haarer hat immer noch Konjunktur: »Haarers Ratgeber erklärt es zum Ziel, Säuglinge nicht durch zu viel Nähe und Nachgiebigkeit zu verwöhnen. Es geht um Distanz statt Nähe, um Ab- statt Zuwendung, um Härte, um der Härte willen. Den Preis dafür zahlt das Kind mit einem fehlenden Urvertrauen.« Es fand – moderner formuliert – Einzug in aktuelle Erziehungsratgeber, wie den Bestseller „Jedes Kind kann schlafen lernen“ von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth von 1995 oder das 2008 erschienene „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ des Kinderpsychiaters Michael Winterhoff, der sich gerade massiven Unwissenschaftlichkeitsvorwürfen ausgesetzt sieht. Denn Haarer setzt nicht allein auf das Anerziehen von Härte, Pflichtbewusstsein und Gehorsam – gleichsam väterlich streng– sondern zerstört zusätzlich noch die frühkindliche Bindung zur Mutter. Haarers Ratgeber rufen unentwegt dazu auf, das Kind als Gegner und Störenfried zu sehen, den es zu bezwingen gelte.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Heureka, das ist das unterschwellige Vorbild aller Winterhoffs, Buebs und Co. Wer schon lange keine Zeitung gelesen hätte, könnte es kaum glauben, dass heute die Wiederbelebung unserer verhängnisvollen Vergangenheit fast problemlos möglich scheint.

Wie man schreiende Säuglinge viele Stunden lang in dunkle Zimmer abschob, um sie von Anfang an zu kujonieren, so tut man heute Ähnliches mit der Coronajugend, die man monatelang in Quarantäne abschiebt, um sie psychisch krank werden zu lassen. Unschuldig sollen sie büßen für die Sünden der Alten. Wie lange dauerte es, bis sich Stimmen erhoben, um der Kinderallergie der Regierung entgegen zu treten?

Vollends die Klimakrise, die Zukunftsgefahr für den Nachwuchs, wird von regierenden Kinderfeinden (die sich, wenn Kameras dabei sind, sehr lieb zu Kitakindern hinab beugen können) skandalös vernachlässigt.

Bald schon werden die Kinder erneut in abgedunkelten Zimmern sitzen – wenn Hitzeschwaden das Spielen unter freiem Himmel unmöglich machen.

Jetzt, wo der Wind sich gedreht hat, liest man plötzlich Kritisches zur wiederentdeckten Nazipädagogik. Sehnsüchtig warten die Medien auf den nächsten Zeitgeist, um ihre eigene Unentbehrlichkeit zu beweisen. Es wird etwas Überraschendes und Unvorhersehbares sein, sonst werden die Beobachter urteilen: langweilig, weg damit!

Gelobt sei, was hart macht; Religion als demokratische Pflicht, Verachtung der Moral, Anbetung der Kunst, die wichtiger ist als jede Politik, Haltungslosigkeit der Journalisten, die sich nach dem Winde drehen, Vernachlässigung der seriösen Antisemitismus-Erforschung, Anbetung der Widersprüche, Unfähigkeit, Begriffe zu klären, nationale Selbstgefälligkeit, Schuldunfähigkeit aller Politiker, die nie zurücktreten, um ihr Versagen zuzugeben: die Liste der wiederbelebten Vergangenheit ist lang. Wie ist das möglich, da es doch keine Vergangenheit geben soll?

Wir schaffen das, schon immer haben wir alles geschafft, auch in Zukunft werden wir alles schaffen.

In Deutschland hat die Apokalypse keine Chance.

Fortsetzung folgt.