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nichtsdesto-TROTZ LXIX

Tagesmail vom 13.09.2021

nichtsdesto-TROTZ LXIX,

was bleibt von Merkel?

„Es gibt Temperaturen, die kann ein menschlicher Körper, besonders bei hoher Luftfeuchtigkeit, nicht längere Zeit überleben. Bei hoher Luftfeuchtigkeit können schon 35 Grad Celsius, über einen längeren Zeitraum ertragen, tödlich sein. Der Hitzesommer 2003 kostete einer Studie zufolge 70.000 Menschen in Europa das Leben. Hitzewellen – auch der Mittelmeerraum erlebte diesen Sommer bekanntlich wieder eine, mit neuen Rekordtemperaturen – werden, wie alle Extremwetterereignisse, durch unsere Erhitzung der Erdatmosphäre in Häufigkeit und Intensität zunehmen. Die Regierung stellt sich auch in klaren Widerspruch zu der Forderung von Uno-Generalsekretär Guterres an die reichen OECD-Staaten, noch bestehende Kohleverfeuerung »bis 2030« zu stoppen, die Subventionierung fossiler Brennstoffe umgehend zu beenden und das Geld stattdessen in erneuerbare Energien zu stecken.“ (SPIEGEL.de)

Was bleibt von Merkel?

„Beim Klimagipfel in Glasgow im November wird Deutschland nicht als Vorreiter dabei sein können, sondern sich peinlichen Fragen stellen müssen. Das ist das Verdienst von acht Jahren Schwarz-Rot und vier Jahren Schwarz-Gelb. Vor allem die Unionsparteien haben aktiv gegen den Ausbau erneuerbarer Energien angearbeitet, immer im Dienst der Kohle. Dabei haben sie Zehntausende zukunftsfähige Arbeitsplätze vernichtet. Der Begriff »Stabilität« ist in einer Welt, die von Monat zu Monat instabiler wird, gerade weil wir nicht endlich handeln, sinnlos geworden. »Verlässlichkeit« das ist hierzulande im politischen Kontext eine kaum verhohlene Chiffre für »weiter so«. »Weiter so« heißt jetzt aber: mit Volldampf in die Katastrophe.“

Christian Stöcker ist eine Ausnahme unter den Edelschreibern. Nie erhielte er eine Einladung vom ARD-Presseclub, um coram publico die Frage zu beantworten:

Was bleibt von Merkel? Seine Antwort hätte gelautet:

„»Maß und Mitte« in Merkels Sinn werden vorrangig dafür sorgen, dass uns Maß und Mitte sehr bald endgültig abhandenkommen.“

Ja, längst sind uns Maß und Mitte abhandengekommen. Die Journalistenrunde im Presseclub schwelgte in Elogen auf eine einmalige, noch nie dagewesene, zuverlässige, korruptionsfreie, nüchterne Kanzlerin, im Nebenberuf die mächtigste Frau der Welt, ein pastorales Wunder aus dem wieder auferstandenen Deutschland, eine Leuchte für Europa, ein Licht für die Welt.

Sollte Stöcker kein schwarzsehender Wirrkopf sein, war der Presseclub ein Waterloo der Medien, ein Armageddon für die ganze Zunft der Beobachter.

Oder waren die Lobreden der Journalisten nur gezielte Trost- und Beruhigungspillen für ein verängstigtes Publikum? Bewusste Selbstbelügungen, um der Unerträglichkeit der Realität zu entkommen? Lügen setzt ein gewisses Maß an Bewusstsein voraus, in der Sendung aber war kein Bewusstsein zu entdecken.

Wäre Deutschland ein gigantisches Individuum, dann hätten wir keinen kaltblütigen Lügner vor uns, sondern eine psychisch kranke Persönlichkeit. Ja, einen Psychotiker, den man psychiatrisch verwahren müsste. Denn dieser weiß nicht mehr, was er tut und könnte in seiner Geistesabwesenheit schreckliches Unheil anrichten – was er tatsächlich tut.

Eine Psychose ist eine exzessive Neurose, die „durch Halluzinationen, Wahn, Realitätsverlust oder Ich-Störungen gekennzeichnet ist.“ „Maß und Mitte“ der Kanzlerin sind bei ihr zum suizidalen Gegenteil entartet. Deutschland wurde zur Gefahr für sich wie für die gesamte Menschheit.

Nicht die Ränder der Gesellschaft sind ihre gefährlichsten Wunden, sondern ihre maß- und bewusstseinslose Mitte, ihre politischen Führungseliten. Warum fällt nur der Jugend das Ausmaß der Todessehnsucht ihrer Erzeuger und Autoritäten auf?

Weil Freud Recht hatte: Massenneurose schützt vor Einzelneurose. Sind alle krank, fühlt sich der einzelne Kranke gesund und normal. Alles ist auf den Kopf gestellt, das defekte Kollektiv verflucht die vereinzelten Warner als Feinde der Gesellschaft.

Nicht das erste Mal, dass Deutschland einer kollektiven Hass- und Vernichtungspsychose verfiel. Heute wurde der Hass zum Selbsthass, die Vernichtungswut zum Selbstvernichtungswillen.

Doch in Deutschland herrscht Ruhe. Politik hat abgerüstet, wer unaufgeregt bleibt, wird gewinnen. Nirgendwo eine Analyse der Realität, alle Warnzeichen abgebaut, nichts Ängstliches wird gemurmelt, keine grundlegende Änderung der Verhältnisse gefordert, niemand soll in Panik fallen. In gewohntem Tempo kann der Zug weiterfahren – ins Abschüssige. Doch alle Gefahren werden vertuscht. Das Wirkliche wurde unfassbar, das Unfassbare wirklich.

„Und ob wir schon wanderten im finstern Tal, fürchten wir kein Unglück; denn du bist bei uns, dein Stecken und Stab trösten uns. Du bereitest vor uns einen Tisch im Angesicht der feindlichen Natur. Du salbest unser Haupt mit Öl und schenkest uns voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden uns folgen ein Leben lang, und wir werden bleiben im Hause des HERRN immerdar.“

Die Natur? Wird uns nicht unterkriegen. Wir verwandeln Berge in Täler, Wüsten in Idyllen und Hitzewellen in liebliche Sonnentage am Gardasee.

Mit unseren Händen bilden wir Rauten oder Mandorlas. „Mit diesen Mandeln war die Kraft jungfräulicher Mutterschaft verbunden. In der christlichen Kunst wurde die Mandel benutzt – als Umrahmungen Gottes, Jesu oder der Heiligen. „Mandel“, dieses ovale Zeichen der Yoni wird in der orientalischen Kunst benutzt, um das göttlich-weibliche Genital anzudeuten.“ (Walker)

Die pastorale Mandorla wurde zum Opium des Volkes: in der Welt habt ihr Angst, siehe, ich habe die Welt überwunden. Deutschland wurde immun – durch die Kraft des mütterlichen Schoßes, aus dem einst der Sohn Gottes gekrochen kam.

Was bleibt von Merkel?

Eine befremdliche Frage in Zeiten, die Bleibendes vehement ablehnt. Es darf nichts Bleibendes geben in genialen Zeiten, die ständig Neues gebären müssen. Die Moderne lebt von Disruption zu Disruption oder rasend wechselnden Botschaften, die keinen anderen Zweck kennen, als die Massen zu destabilisieren.

Was bleibt von Merkel?

Für die folgenden Zeiten, für die Bücher der Geschichte? Die Frage lautet nicht: Was hat sie für das Leben hier und jetzt gebracht? Etwa für die Lust der Menschen an ihrer prallen Gegenwart? Der Blick muss in die Ferne gerichtet werden, hin zu den Verlockungen des Kommenden und Zukünftigen. Das Hier und Jetzt muss eine mühsame Wanderschaft durch Anfechtungen, Leiden und Beschwernissen bleiben.

Irgendwann in der Zukunft zeigt sich die Bedeutung des Hier und Jetzt. Wir Eintagsfliegen von heute sind unfähig, den Sinn der Gegenwart zu entschlüsseln:

„Liebe scheidende Kanzlerin, Sie waren mehr Hirn als Herz. Quantenphysikerin. Was sie falsch gemacht hat oder richtig, werden Historiker erforschen.“ (BILD.de)

Die mündig sein wollen, sind Aufschneider: sie verstehen nicht, was die Geschicke bedeuten. Die Würde der Menschen ist unantastbar, ihre Gehirne aber bleiben Fehlkonstruktionen. Sollten Demokratien nicht durch selberdenkende BürgerInnen stabil bleiben? Ist unser Schifflein je ungefährdet über den See geglitten?

Nur Propheten, die in die Zukunft schauen, könnten die Verdienste der Kanzlerin jetzt und hier entschlüsseln. Erkennen, was ist, bedeutet erkennen, was sein wird. Wir wandeln im Dunkeln, nur am Ende des Tunnels zeigt sich ein geheimnisvolles Licht. Nicht Esoteriker auf der Straße sind Eingeweihte der Geschichte, sondern Esoteriker der Schrift, die jeden biblischen Text nach Belieben als Rechtfertigung aller menschlichen Schwächen deuten können.

„Er hat uns ja das Geheimnis seines Willens kundgetan nach seinem freien Entschluss … für die Veranstaltung des Heils bei der Erfüllung der Zeiten.“

Zeiten müssen erfüllet werden: das ist das Ziel der Geschichte. Warum verabscheuen die Deutschen eine säkulare Utopie? Weil sie einer heilige Utopie hörig sind. Eine heilige und eine weltliche Utopie – das passt nicht zusammen.

Was bleibt von Merkel, bedeutet: was bleibt von ihr und ihren Untertanen, wenn der Herr der Geschichte wiederkehrt und über alle Gericht hält? Am Ende aller Tage kommt alles auf den Tisch:

„Und ich sah die Toten, Groß und Klein, stehen vor dem Thron, und Bücher wurden aufgetan. Und ein andres Buch wurde aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben steht, nach ihren Werken.“

Hinter der Frage: was bleibt von Merkel, steckt eine andere, die niemand auszusprechen wagt: Was bleibt von unserer heiligen Mutter im Jüngsten Gericht? Wird sie für uns einstehen? Wird sie ein gutes Wort für uns einlegen? Können wir uns auf sie verlassen? Warum ist sie so unnahbar? Wird sie sich mit ihrer eigenen Seligkeit begnügen und uns, ihre Schützlinge, im Angesicht der heiligen Bücher verleugnen?

Brüder und Schwestern, o wisset den Grund der deutsch-angelischen Symbiose. Die Deutschen, sie glauben zwar, aber soo gläubig wollen sie gewiss nicht sein. Sie geben sich modern und aufgeklärt. Was aber nicht bedeutet, dass der apokalyptische Teil ihres Glaubens bewusstseinslos verschwunden wäre.

Sollte es wirklich zur Wiederkehr des Herrn kommen, wollen sie nicht nackt und unbedarft vor Ihm stehen. Dann brauchen sie jemanden, der stellvertretend für sie glaubt, damit sie einst dem Herrn Rede und Antwort stehen können.

Eben das tut Merkel für sie: sie glaubt für sich und für alle Deutschen. Die Deutschen sind ihr dankbar, dass sie stellvertretend für sie glaubt, ohne dass jemand darüber sprechen müsste. Alles bleibt dezent im Ungesagten – für diese schweigsame Fürsorge wird Merkel von ihren Untertanen geliebt.

Dies wiederum bedeutet: die deutsch-merkelische Symbiose ist kein politisches, sondern ein religiöses Bündnis. Die demokratische Verfassung ist nur die Kulisse eines theokratischen Herzensbündnisses.

Hinter dem Fortschrittsgetue verbirgt sich – der uralte Traum einer nationalen Heilsgeschichte. Heute haben sie keinen bösen Führer als Sohn der Vorsehung, der sie durchs 1000-jährige Reich geleitet, heute haben sie eine Heilige, die die Sünden der Vergangenheit gut machen will. Dieses Mittel des Vergessen-Machens ist eine Wohltat für die ehemaligen Hauptsünder unter den Nationen.

Was bleibt wirklich von Merkel, wenn die Prognosen immer schlimmer werden und keiner das Ruder herumreißt? Ihre Geborgenheit im Glauben – gleich, ob gut gespielt oder echt – ist eine seelische Labsal für die Nation, die immer werden und nie sein, immer unterwegs und nie ankommen durfte.

Sollte Merkel jedoch innerlich gar nicht mehr so gläubig sein, wäre es nicht weiter schlimm – wenn sie ihre Rolle aus volkspädagogischen Gründen nur authentisch weiterspielte. Die Deutschen, die ihren eigenen Oberflächenglauben nie überprüfen, denken nicht daran, ihr Mütterchen religiös unter die Lupe zu nehmen.

Hat ihr ein schreibender Paladin je Gretchens Frage gestellt: Angela, wie hältst du es mit der Religion? Wirbst du nur äußerlich für den Glauben, den du dem politischen Getriebe entziehst und erst durch Schweigen kostbar machst? Oder bist du eine Anhängerin der lutherischen Zweireichelehre, wonach das weltliche Treiben mit dem Glauben der unsichtbaren Kirche nichts gemein haben soll?

Das muss ihnen erst mal jemand nachmachen: die Deutschen leben mit ihrer Kanzlerin in einem Glauben, der das tiefste Tabu und Staatsgeheimnis bleiben muss. Etwas Esoterischeres gibt es nicht.

Woher kommt dieser seltsam gläubige Nichtglauben der Deutschen?

Rückblende. In der griechischen Aufklärung gab es noch eine Einheit aus Wissenschaft, Philosophie und politischen Überzeugungen. Die Wissenschaft vertrug sich mit philosophischer Ethik, die Ethik begründete die Tugenden der Polis. Nachdem die Götter abgeschafft waren, gab es keinen Streit zwischen Glauben und Denken, Denken und Tun.

Sokrates war kein Gegner der Naturphilosophie. Gleichwohl zog er sich von ihr zurück, als er sah, dass ein Zuviel an Sternebeobachten die Interessen für das tägliche Leben darben ließ. Seine Priorität veränderte sich: erst mal die Dinge des täglichen Lebens gedanklich und praktisch durchdringen, alles andere bleibt sekundär. Auch die Philosophie musste bodenständig bleiben und nicht in höheren Sphären der Spekulation zur Luftnummer werden. Deshalb verlegte er sein Debattieren und Überprüfen (das freiwillig bleiben musste) auf den Marktplatz.

Bei seinem Schüler Platon gab es eine ähnliche Entwicklung. Nach anfänglicher Leidenschaft für das Ideelle kehrte er zur Politik zurück und versuchte eine Synthese aus Denken und Handeln. Doch im Gegensatz zu Sokrates errichtete er in der Politeia eine faschistische Herrschaft der Weisen. An diesem Punkt verriet er das freie Denken seines Lehrers, wenngleich mit derselben Grundüberzeugung: Philosophie und Politik dürfen sich nicht ausschließen.

Das blieb der Grundsatz der griechischen Philosophie bis ans Ende des römischen Reichs, als der Stoizismus zur Überzeugung vieler Römer der oberen Klassen gehörte. Allerdings mit schwindendem Einfluss und mit Hang zur privaten Absonderung. Der Verfall Roms war so vehement, dass Gedanken, die nicht praktisch werden durften, zu einer Art Privatreligion entarteten, ähnlich dem sektiererischen Verhalten des aufkommenden Christentums, das sich in der dekadenten Gesellschaft breitmachte.

Der endgültige Bruch zwischen Denken, wissenschaftlichem Erkennen und politischem Tun erfolgte mit dem Sieg des Christentums, das den griechischen Einfluss am Boden zerstörte. Was hat Jerusalem mit Athen zu tun?

Auch im Mittelalter blieb das Verhältnis feindlich, wenn auch die Scholastiker Aristoteles in weltlichen Dingen in den Rang eines „unfehlbaren Kirchenvaters“ erhoben, streng eingerahmt von klerikalen Dogmen.

Erst in der Renaissance kam es zum Sturzbach neuer Erkenntnisse, die sich von den Dogmen lösten und sich eigenständige Gedanken über Gott und Welt machten.

Das hätte eine neue Synthese aus Denken und Tun werden können, wenn nicht … Luther jeglichen Annäherungsversuch zwischen Gott und Welt mit einer gewaltsamen Regression ins Urchristentum torpediert hätte.

Und wenn Galilei nicht die moderne Wissenschaft erfunden und das Erkennen auf die Präzision mathematischen Rechnens und quantitativen Messens reduziert hätte. Die Attraktivität der modernen Naturwissenschaft ließ alle anderen Erklärungsversuche, wie das nicht-quantitative Denken, zur minderwertigen Erkenntnisart verkommen.

Die neuen Wissenschaftler, nach vielen Kämpfen gegen den Klerus einflussreich geworden, überzogen ihre Fachkompetenz, um nicht-quantitative Geistesbetätigungen zum Geschwätz zu degradieren.

Entweder kam es zum Glauben an den unfreien Willen des Menschen dank seiner Untertänigkeit unter die Naturgesetze oder der Wille blieb zwar frei, aber die Überzeugungskraft des moralischen Denkens ließ völlig nach. Wenn jeder nach Belieben grübeln und quasseln kann, gibt es keine Argumente mehr, mit denen man andere überzeugen kann.

Der Objektivismus der klassischen Philosophie musste dem beliebigen Fürwahrhalten des Einzelnen weichen. Die grassierende Subjektivität zerstörte jede Grundlage eines verbindlichen moralisch-politischen Denkens und Tuns.

Als der Feudalismus zusammenbrach, die Demokratien sich durchzusetzen begannen, gab es zwar klare Vorstellungen über eine demokratische Verfassung, doch die generelle Ethik der Vernunft wurde so aufgeweicht, dass der Subjektivismus die Fundamente einer gemeinsamen Moral zu untergraben begann. Hier stehen wir.

Das Einzige, was uns bislang zusammenhielt, war die Überlegenheit der westlichen Staaten über die „dritte und vierte Welt“ mit Hilfe ihres technischen Fortschritts, ihrer wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit.

Die heutige Krise besteht nicht nur aus der Gefahr der Selbstzerstörung durch Naturvernichtung, sondern aus der Wiederkehr all jener Meinungsverschiedenheiten, die im Verlauf der Jahrhunderte unter den Teppich gekehrt wurden.

In Klassenkämpfen und sonstigen Streitigkeiten siegten stets die überlegenen Geld- und Bildungseliten. Dabei siegten nicht die besseren Argumente, sondern die jeweils stärkste Macht.

Im Nirwana anarchischen Denkens, freigeschwemmt von Religion, konnte jeder sein Heil aus den Trümmern des metaphysisch-religiösen Erbes zusammenklauben. Auch die heutigen Naturmystiker, Impfverweigerer und Wissenschaftsgegner sind ein Teil der Entsorgungsmassen desolater abendländischer Traditionen.

Die Philosophie stieß ihre ethischen Verbindlichkeiten ab, gerierte sich als wertfreie Soziologie oder statistisch hochgemotzte Geisteswissenschaft. Einzig die Neukantianer beharrten auf der Kompetenz des Menschen auf ein kategorisches Du sollst, mit dem sie sich vor allem den Marxisten widersetzten, die nichts von moralischer Selbstertüchtigung hielten, sondern sich an den Führungsmaximen ihrer ökonomischen Heilsgeschichte festklammerten.

Je mehr die deutsche Ökonomie sich der englischen annäherte, je mehr wurde der Moralismus der Neukantianer verstoßen. Heute ist er verschollen. Auch der Neoliberalismus verabscheut die Überheblichkeit moralischer Selbstlenkung, die den gottgleichen Markt weder verstehen, noch regulieren könne.

Fazit: seit dem Aufkommen riesiger Imperien, dem Sieg des vernunftfeindlichen Christentums, der Verachtung der Philosophie als Schwatzen durch die strengen Naturwissenschaften, erweiterte sich das Feld chaotischer Beliebigkeiten ins Grenzenlose.

Solange das Desaster durch technische Überlegenheit und politische Macht im Zaum gehalten werden konnte, dampfte der Express der Moderne ungebremst in eine unbekannte Zukunft.

Doch heute wachen wir auf. Heute sehen wir mit Erschrecken, wohin der Zug fährt, wenn er nicht rechtzeitig angehalten werden kann: ans Ende. Die auf Überlegenheit über Mensch und Natur angelegte Moderne müsste dringend einer gründlichen Inspektion unterzogen werden.

Alle Probleme der Menschheit, die per ordre de mufti niedergeschlagen, aber nicht gelöst wurden, tauchen heute aus der Tiefe des kollektiven Vergessens wieder an die Oberfläche.

Was ist Erkennen? was eine humane Ethik? ist Politik eine Sache der Moral? woher kommt die Gier nach Beherrschung der Natur? Gehört technischer Fortschritt zur Humanisierung der Welt? sind menschliche Utopien notwendige Ziele politischen Handelns? ist die Flucht ins Universum ein sinnvolles Ziel der Menschheit? darf Wissenschaft zur Religion werden und Ziele wie die Unsterblichkeit des Menschen anstreben?

Die politischen Kasten sind weltweit erstarrt, die Religionen anämisch und bigott, die Philosophie wurde zur gestelzten Fachwissenschaft, die Medien sind zu moralfreier Verantwortungslosigkeit verkommen, die Massen torkeln desorientiert den Eliten hinterher. Vieles ahnen sie, doch sie trauen sich nicht, gegen die Arroganz der Führungsschichten anzutreten. Und die Kinder? Nimmt niemand zur Kenntnis.

Die Deutschen klammern sich an ihre fromme Mutterfigur, die sich ihre geistige Leere mit der Anhänglichkeit ihres Volkes verheimlicht.

Wir müssen von vorne beginnen.

Fortsetzung folgt.