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nichtsdesto-TROTZ LXIII

Tagesmail vom 30.08.2021

nichtsdesto-TROTZ LXIII,

Zeit für eine vorweggenommene Totenrede:

„Wir lieben die Kunst, doch ohne Verschwendung; wir lieben die Wissenschaften, ohne dadurch an Tatkraft zu verlieren. Reichtum gebrauchen wir mehr als Mittel zur Betätigung denn als Gegenstand prahlerischer Rede. Seine Armut einzugestehen, ist für niemand schimpflich; um so größer aber ist die Schande, wenn einer sich aus der Armut nicht herausarbeitet. Bei uns sind häusliche und öffentliche Pflichten eng verbunden. In uns steckt die Fähigkeit, die Staatsangelegenheiten völlig hinreichend zu beurteilen, auch wenn wir uns anderen Aufgaben zugewandt haben. Wir allein sehen in demjenigen, der am öffentlichen Leben keinen Anteil nimmt, nicht einen ruheliebenden Bürger, sondern ein faules und unnützes Glied des Staates. Die Gesamtheit der Bürger bringt (durch Abgabe der Stimme) die Staatsgeschäfte zur Entscheidung oder macht sich über sie seine Gedanken. Dabei glauben wir nicht, daß das Reden dem Handeln Nachteil bringt, sondern halten es vielmehr für einen Schaden, nicht vorher durch Reden belehrt zu werden, ehe man zur Tat schreitet; denn wir haben auch den Vorzug, daß wir kühnen Mut und kluge Überlegung bei allem, was wir anfassen, in uns vereinen. Auch in der Menschenfreundlichkeit unterscheiden wir uns von den meisten; denn nicht dadurch, daß wir Wohltaten empfangen, sondern dadurch, daß wir Wohltaten erweisen, gewinnen wir unsere Freunde.“

(„Gefallenenrede des Perikles“, formuliert von Thukydides. 430 vdZ, ein Jahr später starb Perikles – an der Pest)

An der Pest werden wir nicht sterben, aber an Corona oder dem Klima – wenn wir so weitermachen.

Sollte die Gefallenenrede des Perikles eine vorbildliche Demokratie beschreiben: in welchem politischen Gemeinwesen leben wir?

Die Kunst lieben wir nicht. Wir betrachten sie als Tobe-Revier derer, die – in ihrem Reich – alle Regeln ablehnen, weshalb es bei uns heißt: Kunst darf alles. Bei ihr gibt es kein richtig oder falsch:

„In der Kunst, das macht sie so interessant, kann jeder alles über jeden sagen, ohne dass irgendwer jemals das Gegenteil beweisen kann. Bei den Deutschen ist es so, dass sie oft einfach wissen wollen: Wozu ist diese Kunst eigentlich gut? Macht die mich zu einem besseren, klügeren Menschen? Hat die eine therapeutische Wirkung? Viele Österreicher dagegen scheinen die Kunst einfach zu lieben. Und Liebe fragt ja nicht: Wozu ist das gut? Die ist einfach nur da. Ich glaube, so ist es mit Literatur auch.“ (Sven Regener im SPIEGEL)

Bei uns wollen Liebe und Kunst niemanden zum besseren Menschen machen. Sie fragen nicht: ist das gut? Sie kennen weder Gutes noch Böses.

Reichtum dient bei uns nicht der rechten Tat, sondern der Gier nach endlosem Gewinn.

Seine Armut bekennen ist bei uns das Gestehen einer beschämenden Niederlage. Scheitern ist zwar erlaubt, doch nur, wenn es dem erneuten Versuch dient, zum Erfolg zu kommen und seine erste Schande vergessen zu machen.

Der Armut zu entgehen durch Arbeit, wird bei uns immer schwieriger, denn Arbeit geben ist das Privileg der Reichen.

Keineswegs widmen wir uns in gleicher Sorgfalt dem eigenen Haus und der Polis. Für die Reichen ist der „Staat“ nur eine aufgeblasene Erfindung der Loser, nur tauglich, um Straßen zu reinigen, Müll zu entfernen und Diebe und Mörder durch die Polizei jagen zu lassen.

Nein, auch bei uns legen die Reichen keinen Wert auf öffentlichen Prunk. Das halten sie für ordinär. Sie hingegen sind vornehm und bevorzugen den Luxus im Verborgenen.

Keineswegs zeigt bei uns jeder seine gesunde Urteilsfähigkeit. Nicht das Gesunde zählt bei uns, sondern das Unmäßige und Endlose, das wir Fortschritt nennen. Mag Fortschritt auch das Gefährliche und Ungesunde bringen, so sind wir dennoch überzeugt, dass er die Fähigkeit besitzt, die unvermeidlichen Defizite des Fortschritts zu reparieren. Bei uns dominiert der Fortschritt das Kranke und Gesunde.

Auf keinen Fall heißen diejenigen, die an der Politik nicht teilnehmen, untätig oder gar unnütz. Im Gegenteil, ohne Industrie kein Wohlstand und Fortschritt. Fast die gesamte Industrie weigert sich, an den öffentlichen Debatten teilzunehmen – mit Ausnahme der wirtschaftlichen und finanziellen Dinge, für die sie das alleinige Entscheidungsrecht beansprucht. Alles andere interessiert sie nicht. Gab es bei uns je Demonstrationen von Firmenbesitzern und Milliardären?

Bei uns entscheiden nicht wir die wichtigsten Staatsangelegenheiten, sondern die da Oben: die Elitenschichten der Reichen und auserwählten Experten. Das Mitspracherecht des Volkes bezieht sich nur auf kleinere Varianten unveränderlicher Markt- und Fortschrittsgesetze.

Keineswegs durchdenken wir selbstbestimmt die politischen Probleme, sondern lassen uns von Medien beeinflussen, die das Volk nur zum Schein zu Wort kommen lassen. Medien verstehen sich als kontrollierende Gewalt, obgleich sie sich weigern, ihre kritische Meinung zu äußern. Sie halten es für hohe Kritik, wenn sie raffinierte Fragen stellen, mit denen sie die Mächtigen aufs Glatteis führen wollen. Sie sind allergisch gegen die Realität, mit der sie sich in keiner Weise „gemein“ machen wollen.

Zwar gibt es immer mehr Mutige unter ihnen, die das Gebot der Neutralität durchbrechen. Doch es ist wie im Christentum: wer seinen Glauben humanisiert, sich aber weiterhin als Christ bezeichnet, ohne sich von Urtext und Dogmen zu trennen, der bleibt mitverantwortlich für die erdenfeindlichen Sünden der Schrift.

Bei uns dienen Worte nicht dem Nachdenken über die beste Politik, sondern den rhetorischen Verführungskünsten der Politiker, die sich Mehrheiten für ihre Positionen erschleichen wollen. Sich durch Debatten klüger zu machen, sei es durch Belehren oder Belehren lassen: das gilt bei uns als lächerlich. Denn objektive Wahrheiten gibt es bei uns nicht. Es gibt so viele subjektive, wie es Menschen gibt. Der Rest sind Wort-Massen, die vertuschen sollen, wer bei uns das Sagen hat.

Kluge Überlegungen über die beste Politik gibt es bei uns nicht. Denn kluge Zielvorstellungen gelten bei uns als Utopien, die ins Reich der Märchen passen.

Zudem halten die angeblich Klügsten – die Wissenschaftler aller Fakultäten – es für unmöglich, die beste Politik mit wissenschaftlichen Argumenten zu „beweisen“. Was man quantitativ nicht beweisen kann, das ist reine Willkür für sie, auch wenn es noch so human klingen mag.

Selbst „Geisteswissenschaftler“ wie Historiker und Philosophen, verbarrikadieren sich in ihren Elfenbeintürmen und weigern sich, ihre kostbaren Erkenntnisse in den Dienst ordinärer Politik zu stellen. Am allergischsten sind sie gegen „moralische Besserwisserei“, die sie für Wortblasen halten.

Nein, Denken und Handeln bilden bei uns keine Einheit. Wer handelt, tut es aus Notwendigkeit, die weltweite Konkurrenz zu besiegen, und wer denkt, hält seine Gedanken für erlesene Komplexitäten, die der Pöbel nie verstehen kann.

Menschenfreundlich ist unser fortschrittliches System auf keinen Fall. Der Kern unseres modernen Lebens ist kalter Egoismus, der dem eigenen Vorteile alles Humane opfert. Almosen sind gestattet, um sich den geschäftsfördernden Vorteil der Philanthropie zu erkaufen.

Dass unendlich viele Menschen auf dem Planeten unter der Ungerechtigkeit des Systems zu leiden haben, darunter Millionen hungernder und kranker Kinder, interessiert die Reichen nicht. Noch immer belügen sie sich mit der Mär, ihre Geldmassen würden nach unten durchtrickeln und allen Menschen zugutekommen. Unten aber kommen nur einzelne Tropfen an, während Oben der Luxus bis zum Himmel schäumt.

Dass Nebenfolgen unseres Habgiersystems nicht nur die Menschheit, sondern die Natur ruiniert, hat die Industrie bis zum heutigen Tage fast kalt gelassen. Im Gegenteil: das große Geld unternahm alles, um die Menschheit davon abzuhalten, die Klimagefahren wirksam zu bekämpfen.

Fazit: mit einer vitalen Demokratie à la Perikles haben unsere modernen Habgiersysteme immer weniger zu tun. Alles aber mit apokalyptischen Selbstzerstörungsmechanismen, die das Überleben der Gattung gefährden. Homo oeconomicus scheint sich als Fehlkonstruktion der Evolution zu erweisen.

Sollte dem Menschen, wider allen Fortschrittsglauben, der Untergang drohen, hat er sich vorbeugend einem Glauben verschrieben, der ihn von allem Versagen erlösen wird. Doch seine Erlösung wird sein endgültiger Untergang sein. Nur wenige Erwählte werden es schaffen:

„Um Seinetwillen habe ich alles eingebüßt und halte es für Unrat oder Kot, damit ich Christus gewinne.“

Was die Abendländer glauben, haben sie 2000 Jahre lang mit technischen Mitteln in Realität verwandelt: längst ist die Welt dabei, in Müll und Abfall zu ersticken. Soli Deo Gloria.

Wir aber sind schuldig geworden. Nicht vor Gott, sondern vor Mensch und Natur. Wir haben versagt. Wir gefährden Erde und Zukunft unserer Kinder.

Bekannten wir uns schuldig vor den kommenden Generationen, die verzweifelt für ihr Überleben kämpfen? Anstatt sie mit aller Kraft zu unterstützen, attackieren wir sie als rotzfreche Schlaumeier.

Solange das Volk sich nicht ändert – und Volk sind wir alle –, wird sich keine Politik genötigt sehen, das Ruder energisch herumzureißen.

Fortsetzung folgt.