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nichtsdesto-TROTZ LXII

Tagesmail vom 27.08.2021

nichtsdesto-TROTZ LXII,

die Ära der Kritik ist vorbei. Im Sturz Merkels erleben wir ihre letzten Zuckungen.

Wer schon länger die Kanzlerin kritisiert hatte und nun Recht haben will, wird als besserwisserisch, selbstgerecht und moralistisch abgekanzelt. Von wem? Von denselben, die Muttern jahrelang auf den Schultern trugen und Lobeshymnen sangen: den Medien.

Sollte es eine geheime Wahlverwandtschaft zwischen Politikerin und der Vierten Gewalt gegeben haben?

Wie Politik die Verhältnisse stets absegnete, so attestierten die neutralen Beobachter der Kanzlerin-Führung die Dauernote: Eins plus. Exekutive und observierende Gewalt wandelten Hand in Hand vergnügt und einträchtig im Wirtschaftswunderland.

Gewaltige Katastrophen mussten übers Land kommen, um den schönen Schein zu zerbrechen. Und plötzlich war die Liebe aus. Doch wehe dem, der das Dauerfiasko einer visionslosen Politik schon früher angeprangert hatte.

Was ist der Unterschied zwischen Visionen und Utopie? Wer visionslose Politik wie die Kanzlerin betreibt, ist – mittlerweilen – untragbar, wer einer Utopie folgt, ist ein Fall für Pipamperon. Visionen unbedingt, Utopien niemals – obgleich beide dasselbe bedeuten.

Wer Merkels spirituelle Hochstapelei, pardon, ihre Demutsstapelei, schon früher entlarvt hatte, war ein moralistischer, selbstgerechter Besserwisser.

„Dinge danach besser gewusst zu haben, hilft weder der Problemlösung im Jetzt – noch im Morgen. Eine »Ich hab’s besser gewusst«-Attitüde rettet keine Menschenleben. Besserwisserei rettet kein Leben.“ (SPIEGEL.de)

Welch überraschende Übereinstimmung eines Observators mit der mächtigen Frau:

„Jene zwei Sätze, in denen sie glaubte, mit dem Kredit ihrer hohen Integrität anderen vorhalten zu dürfen: Hinterher alles besser zu wissen, das sei „wenig kompliziert“ und „relativ mühelos“. Das stimmt zwar, und die Zahl der Neunmalklugen, die sich jetzt allenthalben melden, steht in einem auffallend konträren Verhältnis zum Interesse, das dem deutschen Engagement in Afghanistan über Jahre in der Öffentlichkeit gewidmet wurde. Aber ein Hinterher-ist-man-immer-schlauer als Rechtfertigung einer Bundeskanzlerin?“ (Sueddeutsche.de)

Die Medien jedenfalls gehören nicht zu den Neunmalklugen, schon immer haben sie alles – schlechter gewusst, worauf sie großen Wert legen.

Selbstkritik? Ausgeschlossen. Dann wären sie ja heute besserwisserischer als früher. Zudem sei es „wenig kompliziert“ und „relativ mühelos“, hinterher klüger zu sein. In diese Falle der Simplizisten lassen sich die Komplexen nicht locken. Sie wollen es schwer haben, und wenn dabei die Welt unterginge.

Haben die Vorherwisser es tatsächlich besser gewusst oder nur zufällig das Wahre getroffen? Hätten sie es gewusst, wäre da nicht die Frage fällig: warum haben sie es besser gewusst – während die gesamte Regierung im Nebel stand? Bestünde da nicht die Pflicht für die Regierung, zu lernen, wie man Prognosen stellt?

Fällt der Kanzlerin aber nichts Besseres ein, als die Besserwisser zu verhöhnen: wäre das nicht der ultimative Grund für die Regierung, wegen unfehlbarer Ignoranz die Löffel abzugeben?

Je mehr die Unfähigkeiten der Regierung entlarvt werden, je stabiler werden die hohen Beliebtheitswerte der Kanzlerin. Diese schreiende Dissonanz ist für die Medien kein Thema. Am Pöbel, den sie innerlich verachten, werden sie sich nicht vergreifen. Ein miserables Zeugnis für das Volk, das keinen kritischen Blick für die Obrigkeit zu haben scheint. Noch schlimmer: zum Volk gehören wir alle. Wir braven, malochenden Untertanen sollten mitschuldig sein am Gesamtdebakel der Nation?

Alle Experten, die das Land kennen, erklären, dass die Macht der Taliban schon seit langem von allen gesehen wurde, die es sehen wollten. Wer die Fakten kennt, kann auch Prognosen stellen. Denn Prognosen sind nichts anderes als die Hochrechnung der jetzigen Fakten in die nahe Zukunft – vorausgesetzt, es gibt keine Trends, die die Fakten ändern könnten.

Warum die Prognosen der Demoskopen so unzuverlässig scheinen, liegt daran, dass die Gunst der WählerInnen kurz vor der Wahl immer schwankender wird. Stabile Parteienbindungen: das war einmal. Was uns zeigt, dass die Bevölkerung wachsamer und unabhängiger geworden ist, aber auch, dass die berechenbare „Stabilität“ der Gesellschaft flöten ging.

Es ist die intellektuelle Pflicht einer Regierung, die Realität so unverzerrt wahrzunehmen, dass sie jederzeit in der Lage ist, möglichen Gefahren mit prophylaktischen Maßnahmen vorzubeugen. Ist sie dazu unfähig, müsste sie vom Souverän in die Wüste geschickt werden. Was ist das für eine „nüchterne und sachlich orientierte“ Politikerin, die alles „vom Ende her“ bedenken will, aber nicht mal weiß, wo Anfang und Ende liegen? Wer nicht fähig ist, die Lage objektiv zu erkennen, um das Schifflein durch die Strudel zu steuern, der sollte im Keller Akten sortieren; der denkt nicht vom Ende her, sondern auf das Ende zu.

Wenn Besserwisser unerwünscht sind, warum bedienen sich die Medien permanent der „Experten“, die sie etwa so vorstellen: Experte X erforscht das Thema seit Jahrzehnten und weiß alles über Problem Y.

Wie kann ein Laie, der sich so vorbildlich ignorant darstellt, so genau die Kompetenz eines Fachmenschen einschätzen?

Zudem: was ist das für eine treffliche Kritik an Besserwissern, die vorgibt, es noch besser zu wissen als jene Besserwisser? Gibt es schon die Kategorie der Bestenwisser?

Die Gesellschaft leistet sich viele Schulen und Universitäten, in denen die Jugend ausgebildet, vor allem ausgesiebt werden soll, damit nur die Besten in die Eliteschichten vordringen, um dafür zu sorgen, dass die Wirtschaftsdaten der Nation ungefährdet in der ersten Liga spielen. Schule ist ein Auslese-Organ. Nur die Besten sollen die Chefsessel ergattern.

Die Medien werden nicht müde, das Hohe Lied auf die Hochbegabten zu singen. Oft sind deren Eltern so dumm, dass sie die Fähigkeiten ihrer Kinder nicht mal erkennen, geschweige fördern können. Solchen Dumpfbacken sollte man die Kinder wegnehmen und in weit entfernte Eliten-Internate stecken.

Selbstverständlich benötigen Genies exquisite pädagogische Maßnahmen, damit sie, behutsam gefördert, zum Fortschritt der Menschheit beitragen können.

Die Horden der Unscheinbaren und Mittelmäßigen kann man getrost dem nivellierten Betrieb der Massenschulen überlassen. Bessere oder gar gerechte Aufstiegschancen durch Bildung heißt auf Deutsch: bessere Siebung der Besten für die Industrie, um den Wettbewerb der Nationen zu gewinnen.

In Schulen und Universitäten sollen Besserwisser systematisch gedrillt und selektiert werden, doch wehe, in der Politik werden sie zu Besserwissern, die die Inkompetenz der Regierungen offenlegen.

Das Grundgesetz jeder demokratischen Kritik ist die Anmaßung, es besser wissen zu wollen. Warum sollten sie sich zu Worte melden, wenn sie nicht glaubten, etwas besser beurteilen zu können als Andere?

Demokratischer Streit ist ein Streit von Besserwissern. Sei es mit besserer Faktenkenntnis, sei es mit überlegenen Argumenten. Auf dem Marktplatz der Polis wird der Streit ausgefochten – und in der Volksversammlung durch Mehrheiten entschieden.

Vox populi ist keine vox dei. Kein Volk ist – im Gegensatz zum Papst – unfehlbar. Der theoretische Streit der Meinungen kann so lange fortgesetzt werden, wie die Wahrheitssucher es für richtig halten. Kompromisse sind notwendige Ad-hoc-Brückenmaßnahmen, aber keine Garantien für die Wahrheit.

Wie lauten die unausgesprochenen paradoxen Interventionen der heutigen Demokratien? Werdet in allen Dingen besser als eure Konkurrenten, doch wehe, ihr werdet Besserwisser. Mit solchen Absurditäten verdienen sich die westlichen Demokratien ihre Lizenz zum Untergang.

Was ist der Gegenbegriff zu selbstgerecht – damit man die Widersprüche der Realität unter die Lupe nehmen kann? Deutsche Debatten kennen keine Gegenbegriffe. Sie schwimmen selbst-gefällig in dialektischen Harmonien.

Heteronom heißt fremdbestimmt, im Gegensatz zu autonom, das selbst-bestimmt heißt. Was ist besser?

Bin ich selbst-gerecht, beurteile ich selbst-bestimmt die Gerechtigkeit, Lauterkeit oder moralische Vorbildlichkeit meines Handelns. In Pro und Contra.

Bin ich hingegen fremd-gerecht, von wem werde ich dann beurteilt? Immer von Anderen: von Verwandten, Bekannten, Lehrern, Vorgesetzten, fremden Autoritäten oder kurz: von der Gesellschaft. Bin ich fromm, entscheidet ein unfehlbarer Gott. Was ist besser?

Über die Angemessenheit der Politik entscheiden alle Demokraten. Politkandidaten stellen sich dem Urteil der Massen, die ihre politischen Grundsätze bewerten und ihnen zur Macht verhelfen sollen. Ist das nicht der Gipfel der Unmündigkeit, wenn man um eine günstige Bewertung seiner Meinungen buhlen muss?

Sind Politiker nicht in unwürdiger Weise von den Meinungen des Volkes abhängig, um sich die Macht zu ergattern? Wenn sie aufrechte Demokraten sind: nein. Ihre Meinungen und Wahlparolen haben sie selbst-bestimmt zu entwickeln. Niemand darf ihnen etwas vorschreiben, sonst lebten wir in totalitären Systemen.

Was sie in Einsamkeit und Freiheit, im vertrauten Dialog mit Freunden, im Auseinandersetzen mit klugen Büchern erdacht und für wahr empfunden haben, das können sie der Gesellschaft anbieten, um ihre Zustimmung zu erwerben.

Die List heutiger Parteien, diesen Prozess auf den Kopf zu stellen und die eigenen Meinungen den vermuteten der Wähler unterzuordnen, um ihre Stimmen zu ergattern, ist eine jener Perversionen, die mit Manipulation zu tun haben, nichts aber mit dem „Wettbewerb um die humanste Wahrheit“. Immer vorausgesetzt, Humanität sei das Ziel aller demokratischen Bemühungen – was heute nicht mehr selbstverständlich ist.

Seine Meinungen zur Wahl zu stellen, heißt also auf keinen Fall, sich den Meinungen anonymer Massen zu unterwerfen. Jeder Politiker ist selbst verantwortlich für sein Denken und Tun. Was er für wahr hält, dafür darf er Werbung treiben. Erhält er nicht die Unterstützung der Bevölkerung, muss er die Entscheidung akzeptieren, ob sie ihm passt oder nicht.

Vor allem ist er seinem eigenen Denken oder Gewissen verantwortlich – wobei unter Gewissen keine Stimme Gottes zu verstehen ist, wie unterwürfige Fromme das „Wissen“ des Guten und Wahren definieren.

Ver-antwortung ist keine Antwort Gottes auf die Frage des Geschöpfs: Schöpfer, bist du einverstanden mit meinem Denken und Handeln?

Der christliche Glaube verbietet dem Menschen, sich selbst gerecht zu sprechen. Hier wurzelt das Verbot, selbst-gerecht zu sein. Als Sünder ist der Mensch unfähig, sein Tun zu durchleuchten und sich ein ultimatives Urteil darüber zu bilden. Ihm bleibt nur das Flehen zu Gott: Herr, sei mir Sünder gnädig. Für Luther ist Selbstgerechtigkeit die schlimmste Sünde wider Gott.

Wer hingegen auto-nom seine Moral bestimmen und sein Tun beurteilen will, der muss selbstgerecht sein. Selbstgerecht heißt nicht, seine Taten stets für richtig zu halten, sondern ist die Fähigkeit, sich distanziert und selbstkritisch zu betrachten, indem man die Meinungen anderer mit bedenkt. Er folgt nicht dem Motto: ich habe Recht und die anderen Unrecht. Auch nicht dem demütigen Gegenteil: ich bin nichts und kann nichts.

Er folgt der selbstbewussten Devise: ich kann lernen, mich immer besser zu verstehen und zu beurteilen. Selbst-gerecht und selbst-bestimmt sind nur Facetten des reifen Selbstbewusstseins.

Also muss das Motto für Humanisten sein: werdet selbst-gerecht und tretet stolz für eure Überzeugungen ein. Lasst euch nicht verbieten, euch selbst zu beurteilen. Lasst euch nie zu nichtswürdigen Sündern abstempeln.

Tut, was Eva in unerschrockener Weise vormachte: greift energisch nach der Frucht der Erkenntnis. Nur selbst-bewusste Menschen sind fähig, den Kampf der Meinungen in der Polis durchzuhalten und daraus ihre Erkenntnisse zu ziehen. In Selbst-Erkenntnis lernt niemand aus.

Selbstbestimmung und Selbstliebe bedingen sich. Wer sich hasst, kann kein reifes Ich entwickeln. Nur, wer sich kritisch und selbstbewusst im Spiegel betrachten kann, ist zu jener nüchternen Selbstliebe fähig, die einen Menschen für andere liebenswert macht. Wer sich verachtet und ablehnt, nur, weil ein Gott es befahl, der vergiftet die Gesellschaft mit seiner Selbstentwürdigung.

Christen dürfen nicht selbst-gerecht sein, jedoch dem Gebot der Nächstenliebe sollen sie folgen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Es ist die alte goldene Regel aller Völker. Wie will man seinen Nächsten lieben wie sich selbst, wenn man sich als Nichts verabscheuen muss?

Der Selbstgefällige hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass ihm die Fähigkeiten selbstgerechter Beurteilung in hohem Maße fehlen. Wer sich selbstkritisch liebt, darf sich auch gefallen. Selbstgefälligkeit hingegen ist das Paradieren mit seiner Person, um alle anderen in den Schatten zu stellen.

Alle Fähigkeiten, die mit Selbst beginnen, sind notwendig, um ein belastbares, fröhliches und gemeinschaftsfähiges Ich zu entwickeln. Ein solches Ich ist die Voraussetzung jedes verantwortungsfähigen zoon politicon.

Plötzlich lautes Geschrei über das moralische Totalversagen des Westens in Afghanistan. Wo bleibt das Geplärr der selbstgefälligen Amoralisten? Müssten sie keine Jubelgesänge anstimmen über die nicht zu übertreffende amoralische Schändlichkeit der Demokratien? Ist das kein Triumph für interessegeleitete Machiavellisten, zu beobachten, mit welcher Unverschämtheit der Westen seinen egoistischen Machtinteressen folgt und „unterentwickelten“ Völkern zeigt, wo der Hammer hängt?

Die gesamte Kritik an Merkel & Co ist ein moralischer Sturmlauf jener Schreiber, die die herzensgute Mutter der Nation bislang auf Händen trugen. Wo bleibt der Sturm der medialen Entrüstung über das eigene Gewerbe?

Die Medien folgen dem Gesetz der Erlöser:

„Eins jedoch tue ich: ich vergesse, was hinter mir ist, strecke mich nach dem aus, was vor mir ist und jage, das Ziel im Auge, nach dem Kampfpreis in der Berufung durch Gott in Christus Jesus.“

Vergangenheit ist das Reservoir begangener Sünden. Weg mit ihnen, wenn mir von Oben vergeben wird. Wer jedoch seine Vergangenheit negiert, negiert seine Biographie. Mäeutisches Lernen ist ihm unmöglich geworden. Er wird sich immer fremd bleiben. In atemloser Flucht nach vorne, kann er nur fremd-gerecht und fremd-bestimmt werden. Sein Ich geht verloren. Er wird zum Knecht himmlischer Manipulationen.

Samira El Ouassil hat die Gefahren einer moralfreien Politik trefflich auf den Punkt gebracht:

„Wir werden das Konzept der moralischen Verletzung als politische Kategorie ernst nehmen müssen. Jedes Mal, wenn unser humanistisches Koordinatensystem nicht mit der Realität unseres Handelns übereinstimmt und dieser Bruch durch politische Entscheidungen bedingt wird, wird so etwas wie eine »Bürgerwunde« bleiben. Politisch vermeidbare, wiederholte Erschütterungen der Grundfesten, die einen Menschen innerlich zusammenhalten, werden auf Dauer nicht einfach zum überzitierten Verdruss führen, sondern ein demokratisch gefährlicheres, weil grundsätzlicheres Gefühl kultivieren: aus dem moralischen Trauma und der politisch empfundenen Ohnmacht wird die Regierung zum Aggressor.“ (SPIEGEL.de)

Merkels Politik ist jenseits von Gut und Böse. Sollten ihr dennoch Fehler unterlaufen, gilt der Satz: Sind wir doch allesamt Sünder vor dem Herrn. Massenversagen schützt vor Einzelversagen.

Was auch immer geschehen mag, Merkel ruht in der Hand ihres Herrn:

Ich schaffe das.

Fortsetzung folgt.