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nichtsdesto-TROTZ LIV

Tagesmail vom 09.08.2021

nichtsdesto-TROTZ LIV,

„Wir müssen zu einer Normalität zurückkehren, und zwar bald.“ (CDU-Brinkhaus)

Aussage eines Geistesabwesenden, Mitglied einer Partei von Geistesabwesenden – die an eine lineare Heilsgeschichte glauben, in der es gar keine Normalität geben kann.

In einer linearen Heilsgeschichte kann jeder Augenblick neu bestimmt werden. Normal wäre das Irdische, das sich stets verändert und vergeht. Ein Glaube, der wahrhaft christlich wäre, würde das sündige Babel der Welt in den verdienten Untergang begleiten, im Herzen jedoch würde er auf das Kommen seines Herrn warten.

Die Deutschen sind bipolar. Einerseits halten sie sich für gläubig, andererseits für aufgeklärt. Gläubig und aufgeklärt schließen sich aus – wenn man dem Satz des Widerspruchs folgt. Die Logik der Heiden jedoch wird von den Frommen verachtet. Für sie ist alles harmonisierbar, denn ihrem Gott ist nichts unmöglich.

Die drohende Katastrophe darf von deutschen Gläubigen nicht wahrgenommen werden, denn ihre aufgeklärte Seite weigert sich, die apokalyptischen Aussagen ihrer Heiligen Schrift ernst zu nehmen. Sollte es dennoch wirklich schlimm werden, bleiben sie vom Verhängnis der irdischen Erde unberührt – signalisieren die Reste ihres unbewussten Glaubens.

Weshalb auch der CDU-Kandidat Laschet seinen Glauben als Wettbewerbsvorteil im Kampf um die Wählerherzen betrachtet. In Konkurrenz mit Gottlosen der anderen Parteien – die sich allerdings selbst in hohem Maße als gläubig betrachten.

Ihr verdrängter Glaube tröstet sie aus dem Untergrund, wenn es hart auf hart kommen sollte: sie gehören zu den Erwählten, die ins Himmelreich kommen. In Zeiten fiktiver Normalität hingegen wird das Reich des unbewussten Endzeitglaubens abgeriegelt.

Dass es mit den Deutschen in allen Dingen abwärts geht, war vorauszusehen. Ihr Niedergang hängt mit der Missachtung schlichter Logik zusammen. Will man einen neuen Flugplatz bauen und ist gleichzeitig so erfolgsgesättigt, dass man keinen Ehrgeiz mehr entwickelt, das Projekt rational durchzuziehen, dann hat man in gleichem Atemzug Ja und Nein zum Flugplatz gesagt. Zu fast allen praktischen Dingen wird Ja und Nein gesagt.

Ja müssen sie sagen, weil sie ihren globalen Spitzenplatz nicht verlieren wollen, das Nein hingegen entspricht ihrer wirklichen Gemütslage, die die Früchte ihrer jahrzehntelangen Aufholbemühungen genießen will. Ihre neu erwachte Liebe zum Schlampen und Wursteln teilen sie mit ihrer verehrten Kanzlerin.

Darf man in einer Demokratie Religionen attackieren oder verstößt man damit gegen die Religionsfreiheit des Grundgesetzes?

Man muss sie attackieren, wenn man das Grundgesetz gegen religiöse Missachtung verteidigen will. Denn das wäre keine Kritik am Glauben einer Religion, sondern an der Politik derselben, die aus diesem Glauben abgeleitet wird.

Einen apolitischen Privatglauben anzugreifen, wäre in der Tat ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Doch wer seine Religion nutzt, um die Welt theokratisch zu unterwerfen, der ist ein Feind der Demokratie – und muss mit logischen Argumenten bekämpft werden. Christlicher Glaube will sich zwar nicht gemein machen mit der sündigen Welt, doch beherrschen will er sie auf jeden Fall.

Mit den globalen Hitzewellen steigt auch der Gewaltpegel in allen Völkern. Je schlimmer die Verhältnisse, je mehr wird die Gewalt jeder gegen jeden auf den Straßen zunehmen. Je bedrohlicher der Bürgerkrieg in der Welt wird, je mehr werden die Menschen in den Schutz ihrer Religionen flüchten – die sie in normalen Zeiten schon verdrängt hatten.

„Mahatma Gandhi ist konsequent für Gewaltfreiheit eingetreten. Niemals hätte er jemanden angespuckt, verhöhnt, mit Häme überschüttet, der für Recht und Ordnung im besten Sinne eintritt. Das ist unwürdig. Und Sophie Scholl hat mit ihrem Leben bezahlt für ihre mutige Infragestellung eines Regimes, das Millionen Juden ermordet hat. Es wird Zeit, dass sich Leute zu Wort melden, die noch gerade denken können! Regimekritikerinnen in Belarus, Beteiligte von Gandhis Freiheitsbewegung und Mutige im Widerstand gegen die Nazis haben keinen demokratischen Staat verlacht, sondern ihr Leben riskiert für Menschenrechte und Freiheit!“ (BILD.de)

Rechtzeitig mit dem Anschwellen des Bocksgesangs holt BILD Ex-Bischöfin Kässmann an Bord, um für ihren obrigkeitstreuen Kurs zu werben. Sie wirbt mit Gandhi, als ob er ein Christ, mit Sophie Scholl, als ob sie Teil einer kirchlichen Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus gewesen wäre. Nichts hilft besser gegen „Heidenangst“ als biblischer Trost gegen Furcht und Grauen. Dass Christen nur unter Furcht und Zittern selig werden können, wird ignoriert.

„Wie heißt es in der Bibel: „Fürchtet euch nicht und lasst euch nicht vor ihnen grauen“.“

Das ist Missionspredigt für biblische Ignoranten. Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen die emotionale Nähe und Wärme von Sekten suchen, weil sie die gesellschaftliche Isolierung der Einzelnen nicht mehr ertragen:

„Einen Grund für die zunehmende Sinnsuche vieler Menschen sieht Grotepass auch im Rückgang traditioneller Strukturen, »von der Großfamilie, über die Kirche bis hin zum Sport- oder Schützenverein«. Die Gesellschaft werde individueller, freier. Das klinge an sich gut, »aber viele Menschen kommen da nicht mit. Ihnen fehlt schlichtweg der Halt. Oft sind es ganz grundsätzliche Bedürfnisse, die in solchen sektenartigen Gruppen bedient werden«, sagt Christoph Grotepass. Das esoterische Konstrukt sei dann gar nicht so wichtig, es gehe einfach um emotionale Wärme.“ (SPIEGEL.de)

Der Kapitalismus hat, seit seinem Bestehen, nichts Besseres zu tun, als die intakten Nestgruppen der Gesellschaft zu zerhacken, um ihre ökonomisch Abhängigen auch emotional abhängig zu machen. Mütter werden als Heimchen am Herd diffamiert, damit sie unter die Fittiche profitbesessener Naturzerstörer fliehen.

Familie gilt als christliche Entmündigungsgruppe, vor der die Frau fliehen sollte, um sich zu emanzipieren.

In Wirklichkeit hat Jesus die Familie am Boden zerstört:

„Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“

Es gibt ihn wirklich, den Außerordentlichen, Einzelnen, den „Gentleman-Anarchisten“, der fast einhellig von der kleinen Sekte hochgebildeter Feuilletonisten verehrt wird. Sein Name: Karl-Heinz Bohrer.

„Der Begriff „Gutmensch“ – 2016 zum Unwort des Jahres gewählt – geht auf einen Text Bohrers aus dem Jahr 1992 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Merkur zurück. Im „guten Menschen“ kulminierten in der Sicht Bohrers Provinzialität und Moralismus. Seine Idole fand Bohrer im Exzess. Den RAF-Macho Andreas Baader soll er bewundert haben, mit Ulrike Meinhof verband ihn eine längere Freundschaft. Der Exzess, der Umsturz, das Katastrophische waren seit jeher Magneten im Denken Bohrers. Denn Bohrer, so etwas Seltsames wie ein Gentleman-Anarchist, ein Ästhet, der längst vergangenen Kunstströmungen anhing und der die Milieus der schwarzen und grünen Konservativen wie auch der Linken verachtete, hat zeit seines Lebens „viel Feind gemacht“ – wie man in Anlehnung an Ernst Jünger, einen frühen Lieblingsautor Bohrers – festhalten könnte.“ (TAZ.de)

Bohrer war Anhänger der frühromantischen Ästhetik, die in grenzenloser Abneigung gegen die Moral der Aufklärung entwickelt wurde. Von damals bis heute gefallen sich die Gebildeten als Anhänger einer schillernden Kunst, die streng getrennt wird von der „berechenbaren, verlässlichen und langweiligen“ Politik spießerhafter Humanität.

Das Gute, die Wiederentdeckung der autonomen Ethik der Griechen, wurde mit dem Hohn und Spott jener verfolgt, die in einer regellosen, alles erlaubenden Geniereligion ihr pöbelverachtendes Heil fanden.

Romantiker waren keine politisch tätigen Menschen. Sie lebten in ihrem autistischen Reich des Vernunftlosen, Geheimnisvollen, Unsagbaren und Phantastischen. Wer sich mit biederen Moralformeln alltäglichen Geschäften widmete, der wurde von ihnen verachtet.

„Romantiker waren am wenigsten handelnde Menschen. Den sittlichen Gesichtspunkten ordneten sie dem ästhetischen unter, schien ihnen etwas schön oder ihrem Gefühle gemäß, fragten sie nicht, ob es moralisch sei.“ (Ricarda Huch)

Nahe verwandt mit der romantischen Ästhetik war ihre Ironie, die, im Gegensatz zur sokratischen, nicht die moralische Verlässlichkeit des Einzelnen prüfte und bestärkte, sondern, im Gegenteil, die ethischen Kategorien durch artistische Verwirrung destruieren wollte:

„Das schönste Kunstwerk entsteht, wenn die Kraft des Dichters groß genug ist, mit dem Stoffe zu spielen. Denn das beständige Vernichten und Neuschaffen seines Gegenstandes, wozu der Künstler fähig sein soll, ist ja nichts anderes als seine Meisterschaft über den Stoff, den er sich selbst gewählt, in den er sich vertieft hat, aus dem er sich aber jederzeit erheben kann, um ihn beliebig zu verwandeln und in jede Form zu bringen. Ein geistiges Fliegenkönnen. Der Ästhet hat die Fähigkeit, sich von dem irdischen Element, in dem er lebt und webt, zu lösen, als ein Luftschiffer emporzusteigen und die Erde als winzigen Punkt unter sich verschwinden zu sehen.“ (ebenda)

Mit Worten Friedrich Schlegels:

„Ironie ist klares Bewusstsein der ewigen Agilität des unendlich vollen Chaos. Wir müssen uns über unsere eigene Liebe erheben und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können: sonst fehlt uns … der Sinn für das Weltall.“

Vernichten zu Nichts, neuschaffen aus Nichts: die Omnipotenz des christlichen Schöpfers ist Vorbild des romantischen Künstlers. Wir sehen die deutschen Wurzeln der technischen Allmachtsphantasien von Silicon Valley, die die Vernichtung der Erde in Kauf nehmen, wenn sie in die Tiefen des Weltraums flüchten. Das Alte muss vernichtet werden, um das Neue als nächste Stufe der Evolution willkommen zu heißen.

Die Träume von Silicon Valley sind die technische Realisierung der ästhetischen Schwarmvisionen deutscher Romantiker oder: die digitalen Genies von heute sind die Erben ästhetischer Genies , die in Deutschland vor mehr als 200 Jahren ihre poetischen Luftblasen in die Atmosphäre emittierten.

Mit ihrer allmächtigen Kunst landeten die Deutschen, in Flucht vor der französischen Guillotine-Revolution, im Rausch einer alleskönnenden, nichts ernst nehmenden, alles vernichten dürfenden Geniereligion. Subjekt der Kunst war das ästhetische Genie, das alles durfte und nichts musste. Selbstherrlich nahm es sich die Freiheit, gegen alle Regeln und Pflichten einer humanen Politik zu verstoßen.

War in den Nachrufen auf Bohrer ein einziges Wort zur Klimakrise zu lesen? Mit solchen Philistereien geben sich luftige Anti-Gutmenschen nicht ab. Wollen sie sich denn zu erdenschweren Knechten der Politik abrichten lassen?

Die Romantiker ertrugen nicht mehr die Last kategorischer Verpflichtungen, die ihnen die Aufklärer vermacht hatten. Endlich frei sein und ledig aller endlosen Vorschriften: das waren ihre phantastischen Zukunftsvisionen. Ihre Kunstwerke waren Artefakte, die, dem Schein verpflichtet, weder praktischen Zwecken noch wissenschaftlichen Erkenntnissen dienten. Kunst ist Selbstzweck, l’art pour l’art, die „keinerlei Abhängigkeit oder Wirkung in Bezug auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zugesteht. Das Ästhetische grenzt sich vollständig gegen jegliche praktische Wirksamkeit ab. Sie ist „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“.“ (ebenda)

„Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ war Kants Definition des Schönen. Was nicht bedeutete, dass bei dem Königsberger die Kunst der Mittelpunkt des Lebens gewesen sei. Kunst war ein Teil der gesellschaftlichen Realität. Im Mittelpunkt standen Denken und Tun des mündigen Menschen.

Diesen Mittelpunkt verschmähten die Romantiker. Ihre phantastische Allmachtswelt war ihr Ein und Alles. Die Politik ging verloren und verwandelte sich in amoralisch-ästhetischen Weltverlust. An die Stelle der Gesellschaft trat der Einzelne.

Max Stirners Philosophie war nichts anderes als die scharfe Formulierung der romantischen Politikferne und Vereinsamung in privatistischen Ich-Vorstellungen:

„Wie die Welt als Eigentum zu einem Material geworden ist, mit welchem Ich anfange, was Ich will, so muß auch der Geist als Eigentum zu einem Material herabsinken, vor dem Ich keine heilige Scheu mehr trage.“ (Stirner)

Vertreibt Kunst die politische Moral, wird sie zur Politik der Amoral, die die ganze Gesellschaft dominiert. Mangels anderer Leitideen wird sie zum Mittelpunkt des nationalen Lebens. Da Kunst nur sich selbst verpflichtet ist, kann sie keine sachlichen Debatten und Dialogformen entwickeln. Anstatt sich mit Worten und Argumenten zu verständigen, erhebt sie sich zur Tyrannin, die anderen die Regeln ihrer Regellosigkeiten vorschreibt – und wenn nicht anders, dann mit Gewalt.

Höhepunkt der romantischen Ästhetik war Richard Wagner, dessen messianische Bühnenwerke 100 Jahre später zum politischen Vorbild eines vom deutschen Volk gesuchten und erwählten Führers wurde.

Die totalitäre Beglückungspolitik der nationalozialistischen Epoche gründete in der Romantik, die alle Vorstellungen autonomer Moral mit Schwärmereien und heiligen Phantasien verabschiedet hatte. Seit jener Zeit ist das Gute in Deutschland verfemt.

Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg mussten sie zwar wegen der vorgeschriebenen Umerziehung die demokratische Ethik übernehmen. Doch diese Pflicht versandete als oberflächliche Wiedergutmachung. Die wirklichen Eliten blieben im Bann des Bösen – zumeist nicht auf offener Ebene der Politik, sondern im Revier akademischer Elitenzirkel.

Feuilletonisten wettern nicht frank und frei gegen rationale Politik. Sie munkeln mit Ersatzbegriffen – wie etwa mit „Gutmenschenpolitik.“

Georg Diez hat dieses verräterische Wort auf die Schippe genommen:

„Gut + Mensch = schlecht. Die Deutschen schaffen das: Sie nehmen zwei positive Wörter und machen daraus ein negatives. Das ist verquere deutsche Sprachmathematik. Plus plus plus gleich minus.“ (SPIEGEL.de)

Wenn eine menschenrechtliche Politik als moralisch korrekte abgelehnt wird: welche Politik bleibt dann als alleinige Alternative übrig? Eine machiavellistische Politik, die, auf Kosten anderer Völker, nur die Machtakkumulation der eigenen Nation im Auge hat. Kein Mittel ist verboten, um diesen Zweck mit Schrecken und Gewalt zu erreichen. Nehmen wir Bohrers Lieblingsschriftsteller Ernst Jünger, der zur kriegstreibenden Konservativen Revolution gehörte, die sich begeistert dem Führer angeschlossen hatte – obgleich sie ihn anfänglich für einen Narren hielt.

„Es bleibt bezeichnend für diesen Nationalismus, dass er sich mitten im Frieden den Krieg zum Vater aller Dinge erkor, dass diese Männer sich auch im Frieden als ein Geschlecht von Kriegern empfanden, die gegen die Krämernaturen des „Systems“ zum Aufstand bliesen.“ (Kurt Sontheimer)

„Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht, und wir erkennen mit Stolz unsere Herkunft an. Daher sollen unsere Wertungen auch heroische, auch Wertungen von Kriegern und nicht solche von Krämern sein, die die Welt mit ihrer Elle messen möchten.“ (Ernst Jünger)

Das bedeutet nicht, dass alle Bohrer-Fans Bellizisten oder Reaktionäre sein müssten. Sollten sie tatsächlich eine humane Politik vertreten, wäre es aber nicht wegen, sondern trotz ihres romantischen Ästhetizismus.

Bohrer wird von einem kritischeren ZEIT-Genossen so beschrieben:

„Übrigens war er der sanfteste, gutmütigste, hilfsbereiteste Mensch.“ (ZEIT.de)

Selbstverständlich ist der Mensch moralisch – privat. Mit Politik hat das nichts zu tun.

„Von 1966 bis 1982 war Bohrer Feuilletonredakteur der FAZ, 1974 von Marcel Reich-Ranicki als Leiter des Literaturressorts abgelöst und bald als Kulturkorrespondent nach London geschickt worden. Diese Exilierung Bohrers wurde allgemein als konservativer Putsch gesehen. Warum? Weil Bohrer die Fahne der Avantgarde, der komplizierten literarischen Experimente hochgehalten hatte, was damals als links galt, während Reich-Ranickis publikumsfreundlicher Populismus als bürgerlich und somit als rechts galt. Das waren die politisch-ästhetischen Kategorien der Zeit, mögen sie heute auch unverständlich erscheinen. Sie hatten nichts mit sozialem Engagement zu tun, aber gaben Bohrer gewissermaßen einen lang anhaftenden linken Stallgeruch, der ihn auch wirklich Linken satisfaktionsfähig erscheinen ließ.“

Hört, hört: er galt. Warum galt er als links? Weil er die Fahne der Avantgarde hochhielt. Warum galt Reich-Ranicki als rechts? Weil er publikumsfreundlich redete und schrieb? Reich-Ranicki verstand sich als Aufklärer, der den Deutschen ihre Shoa-Vergangenheit penibel erklären wollte. Das soll, in den Augen der Linken, rechts gewesen sein?

Hier verschwammen die Kategorien einer denkenden Demokratie. Hier galt nicht mehr die Substanz, sondern der bloße Schein einer Haltung. Weil Bohrer mit exklusiver Bildung brillieren wollte, wurde er absurderweise zum Linken erhoben, während Reich-Ranicki sich um Klärung der Vergangenheit bemühte, um mit einem rechten Etikett bestraft zu werden.

Merke: wer verständlich ist, muss ein populistischer Rattenfänger sein. Das wahre Genie ist nur Erwählten zugänglich, die selbst genial sein müssen. Ohne Genieverehrung ist romantischer Ästhetizismus nicht denkbar.

Was ist ein Genie? Wer all seine Erkenntnisse und Fähigkeiten aus den unergründlichen Tiefen seines Selbst hervorzaubert. Er lernt nicht, weder von der Natur noch von anderen Menschen, schon gar nicht von heidnischen Griechen. Er ist ein Gott, der alles nach seinem Bilde formt.

„Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.“ (Goethe)

Goethe konnte die neurotischen Jüngelchen der Romantik nicht leiden: „Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke.“ Gleichwohl hatte auch er mit seiner Neigung zum Romantischen zu kämpfen.

Begonnen hatte die deutsche Fehlentwicklung vom Politischen zum Theatralischen bei Schiller, der sich von der Französischen Revolution angewidert abgewandt hatte:

„Wenn die Idee der Französischen Revolution in der gewaltsamen Herstellung neuer äußerer Verhältnisse bestand, aus denen auch neue Menschen hervorgehen sollten, war die Idee der deutschen Klassik die umgekehrte: die Erziehung neuer Menschen auf rein innerlichem Wege, die dann organisch auch zu einer neuen, humaneren Gesellschaft führen werde.“ (Korff, Geist der Goethezeit)

Wie vereinbart sich die Erziehung der Menschen mit einer Kunst, deren Botschaft lautet: alles ist euch erlaubt? Greift nur bedenkenlos zu und erobert die Welt mit eurem stählernen Willen zur Macht?

Das Schiller-Experiment misslang. Die Erziehung der Deutschen zu guten Menschen durch die Bühne war ein kompletter Fehlschlag. Nichts kann den Menschen ändern – außer seine eigene Selbsterkenntnis.

Kunst muss frei sein, sie ist sinnliche Darstellung des Es, Ich und Über-Ich des Menschen. Hier müssen die verbrecherischsten Bestrebungen des Menschen dem Dunkel entrissen und dem rationalen Urteilsvermögen zugeführt werden.

Aber … Der Künstler muss den Unterschied zwischen subjektiven Besessenheiten und der objektiven Realität scharf und unmissverständlich herausarbeiten. Seine bewusst gewordenen Triebregungen muss jeder mit sich selber ausmachen: durch Erinnerung, Selbstbesinnung und empathische Gespräche. Mörderische Instinkte kann niemand eins zu eins in politische Realität verwandeln. Just diesen Kardinalfehler begingen die deutschen Künstler, die nicht nur Herren der Bühne, Leinwand und Dichtung bleiben, sondern die Wirklichkeit nach ihrem Bild formen wollten. Hitlers Identifizierung mit Wagners Rienzi verführte ihn, sich zum messianischen Führer der Deutschen zu erheben.

Kunst muss frei bleiben von allen Einschränkungen des Ich und Über-Ich. Nie darf sie die Wirklichkeit als ihre ästhetische Bühne betrachten und die Gesellschaft in Untertanen verzaubern.

Eben diesen Kardinalfehler begingen die Deutschen und entwickelten sich zu einem Bayreuther Kunstwerk mit politischer Erlösung und wirklichem Mord und Totschlag.

Die Deutschen kennen keine Normalität in ihrer historischen Entwicklung. Stets fallen sie aus einer Mördergrube in die nächste antisemitische Schandtat. Zu einer nennenswerten demokratischen Revolte brachten sie es nie. Stets fielen sie zurück in religiöse Barbareien, ohne die geringste Fähigkeit, sich ihrer gottgegebenen Obrigkeiten zu entledigen.

Und was ist die neueste Entwicklung in der jetzigen Krise? Der Ruf: nur eine wirksame Führerschaft kann uns retten:

„Merkel hat diesen Konflikt während ihrer langen Kanzlerinnenschaft so gelöst, dass sie den Bürgern ein Minimum an Führung zumutete. 16 Jahre lang hat sie der Bevölkerung so wenig wie möglich abverlangt. Es gab keine grundlegenden Reformen, keine Visionen, keine großen Pläne, keine weitreichenden Projekte. Die Bürger sollten unter stabilen Bedingungen ihr Leben gestalten können, weitgehend unbehelligt von der Politik. Nur wenn große Krisen auftraten, sorgte »Mutti« dafür, dass die Dinge nicht aus dem Ruder liefen – damit es danach weitergehen konnte wie zuvor. Der Weg zur Klimaneutralität ist weit. Deutschland hinkt hinter anderen westlichen Staaten her. Wo Führung fehlt, wächst die Verunsicherung. Um Veränderungen auf den Weg zu bringen, braucht es Führung. Politische Führung in freiheitlichen Gesellschaften hat nur eine Chance, wenn sie in der Lage ist, die Bürger zu überzeugen. Es geht ums Erzählen glaubwürdiger Geschichten. Schlüssige Erzählungen haben die Macht, die kollektive Wahrnehmung der Realität zu verändern.“ (SPIEGEL.de)

Mutter soll ihren doofen Kindern schöne Geschichten erzählen, um sie von ihrem laisser faire zu überzeugen? Glaubt man das? Ein Journalist fordert nicht, dass jeder sich an der streitbaren Debatte aktiv beteiligen soll, sondern dass alle sich von schönen Märchen einlullen lassen.

Henrik Müller kann nur noch von Margot Kässmann übertrumpft werden, die den Deutschen zuruft: Landsleute, verzagt nicht, hört das Wort der Offenbarung. Unter der Kanzel werdet ihr Erzählungen von einem zauberhaften Himmelreich vernehmen. Sollte auch dieses letzte Erlösungsmittel versagen – werdet ihr für immer verloren sein. Gnade euren verlorenen Seelen.

Fortsetzung folgt.