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nichtsdesto-TROTZ II

Tagesmail vom 09.04.2021

nichtsdesto-TROTZ II,

„Religion ist auf der anderen Seite auch Rohstoff für Frieden und Gerechtigkeit: Die indische Unabhängigkeitsbewegung unter Gandhi, die Bürgerrechtsbewegung in den USA, das Ende der Apartheid in Südafrika oder die Wende in der DDR sind ohne religiös motivierte Menschen nicht vorstellbar. Der Widerstand gegen Umweltzerstörung wie am Amazonas wird auch von Gläubigen getragen, in vielen „failed states“ halten Kirchen und Religionsgemeinschaften die Gesellschaften zusammen.“ (TAZ.de)

Viele religiöse Menschen sind humanistisch: ist ihr Humanismus Religion?

Viele Humanisten sind religiös: ist ihre Religion humanistisch?

Müssen Umweltschützer fromm werden, um Klimaschutz voran zu bringen?

Ist die FFF-Jugend zur Unwirksamkeit verdammt, solange sie keinen Glauben vorweisen kann?

Wäre Bernhard Töpper von seiner These wirklich überzeugt: ohne Religion kein Umweltschutz, müsste er dann seinen Job nicht an den Nagel hängen und Prediger werden, um Menschen von der Dringlichkeit des Klimaschützens zu überzeugen?

So weit geht er freilich nicht, dass er behauptet: allein durch den Glauben (sola fide) werde Naturschützen nachhaltig und effektiv. Wenn aber viele Wege nach Rom führen; warum sein Werben für Religion? Oder geht es gar nicht um ein Entweder-Oder, sondern nur um ein Mehr oder Weniger oder ein Sowohl-Als auch? Dann bliebe nur Töppers suggestive Empfehlung: jeder nach seiner Façon, ich freilich halte den Glauben für die effizienteste Methode des ökologischen Engagements.

Es wäre auch eigenartig gewesen, ausgerechnet in einem Küng-Artikel eine Art Unfehlbarkeit zu propagieren.

Küng war ein Riese unter den Gottesgelehrten und hatte überlebensnotwendige Menschheitsfragen gestellt. Kann die Menschheit friedlich zusammenwachsen, solange ihre Religionen sich feindlich gegenüberstehen? Kann sie nicht, lautete seine überzeugende These.

Nach der Formulierung der Frage verließen ihn aber seine Revoluzzerkräfte. Vor den Folgen seiner rebellischen Thesen schreckte er zurück. Die Unfehlbarkeit des Papstes zu attackieren, bedeutet noch lange nicht, die Unfehlbarkeit der christlichen Religion in Frage zu stellen – um den Weg frei zu machen für den Dialog mit anderen Religionen. Der Papst hat die Unfehlbarkeit des Christentums nicht erfunden.

„Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten.“

„Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.“

„Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“

„Aber ihr glaubt nicht, denn ihr gehört nicht zu meinen Schafen. Meine Schafe hören auf meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir nach.

„Also erbarmt er sich nun, wessen er will, verhärtet aber, wen er will. O Mensch, jawohl, wer bist du, dass du mit Gott rechten willst? Wird etwa das Gebilde zum Bildner sagen: Warum hast du mich so gemacht?“

Nur wenige christliche Kirchenbildungen sind nicht unfehlbar – wenn sie sich etwa vom Geist der Aufklärung haben infizieren lassen. Wie etwa die Arminianer in England. Diese „Sekten“ verwandelten Religion hochgradig in aufgeklärte Humanität.

„Das Epochemachende im sozinianischen System liegt in der hellen, scharfen und klaren Durchführung des Prinzips, dass das neue protestantische Christentum sich vor der humanistischen, erasmischen, historisch-kritischen und moralischen Vernunft rechtfertigen müsse.“ (Dilthey II)

Wir ahnen das Prinzip. Der Humanismus der Renaissance, zu dem sich Erasmus zugehörig fühlte, hatte die griechische Vernunft und Toleranz wieder entdeckt und sie dem unerbittlichen Entweder-Oder der Kirchen gegenübergestellt. Nicht nur der Intoleranz der katholischen Kirche, sondern auch des deutschen Reformators, der die Vernunft der Griechen noch mehr hasste als der Vatikan, der sie immerhin in untergeordneten Fragen zuließ. Im eigentlichen Glauben freilich hatte Aristoteles nichts zu suchen. Bei Luther fuhr er sofort in die Hölle.

Das Abendland ist eine Mischgeburt aus Heiden- und Christentum. Im Verlauf der Jahrhunderte konnte sich das Christentum immer weniger dem Einfluss des griechischen Vernunftvirus entziehen. Als der Logos so einflussreich geworden war, dass die Epoche der Aufklärung sich dem Christentum gegenüberstellte und Europa mit Menschenrechten und Demokratie zu beeinflussen begann, änderten die Kirchen ihre Strategie. Bevor sie unterzugehen drohten, setzten sie sich an die Spitze der Gegner und behaupteten dreist: die Errungenschaften der Vernunft sind auf heiligem Boden gewachsen. Demokratie und Menschenrechte sind Pflanzen vom Acker Gottes. Das Unwahrscheinliche geschah: viele Europäer glaubten diesem Wahn. Darunter selbst aufgeklärte Philosophen wie John Locke, der seine Theorie der Demokratie als biblisches Gewächs definierte.

Dem Heidentum saugten die Gottesgelehrten den Saft der Humanität ab und präsentieren sich – bis zum heutigen Tag – als Erfinder der Polis, der Gleichheit und Freiheit des Menschen. Biologen sprechen von Parasitismus:

Parasitismus (auch Schmarotzertum genannt) bezeichnet innerhalb der Tier- und Pflanzenwelt das Phänomen, dass ein Organismus oder Virus (Parasit) einen in der Regel erheblich größeren Organismus einer anderen Art als Wirt missbraucht. Der Wirt dient dem Parasiten für die Nahrungsversorgung (meist in Form von Blut oder anderen Körpersekreten) und in einigen Fällen darüber hinaus auch längerfristig als Lebensraum. Wird dem Wirt hingegen kein Schaden zugefügt, wird das als Probiose bezeichnet.“ (wiki)

Wurde der Aufklärung durch das parasitische Verhalten der Kirchen Schaden zugefügt?

Die Absicht war eindeutig: der heidnischen Vernunft sollte Schaden zugefügt werden. Was auf Gegenseitigkeit beruhte: Vernunft bekämpfte die Vorherrschaft der Kirche als politische Interessengruppe.

Um privaten Glauben geht es dabei nicht. Woran Menschen glauben (und sei es noch so skurril und abwegig) ist für vitale Demokratien ohne Interesse – solange der Glauben die private Schwelle nicht überschreitet, um den öffentlichen Raum zu dominieren. Dann aber gilt er als politische Meinung, die, wie alle anderen Meinungen auch, durch die Polis wahrgenommen und überprüft werden muss. Sollte die Kirche, als Interessengruppe des Glaubens, demokratie-schädlich, ja demokratie-feindlich sein, muss dieser mit allen Mitteln der öffentlichen Debatte und demokratischer Rechtsprechung bekämpft werden.

Die abendländische Entwicklung ist ein Schwanken zwischen Vernunft und Glauben. Renaissance, das 17. Und 18. Jahrhundert waren glänzende Epochen der menschlichen Selbstfindung und politischen Autonomie. Unvermeidlich gab es gefährliche Rückschläge: in Deutschland regredierte der vernunfthassende Luther ins Urchristentum. Die europäische Romantik beendete die Aufklärung und träumte vom christlichen Europa des Mittelalters.

Danach gab es viele Überlappungen und Kompromissbildungen. In Deutschland kam es zur dialektischen Symbiose, einem Versöhnungswahn, der nichts weniger wollte als die Synthese des Unvereinbaren.

Der demokratische Geist erlebte in Deutschland gewisse Hochzeiten. Doch zu einer standfesten Herrschaft des Volkes reichte es nie. Immer wurden die Freiheitsfreunde von den Lakaien der Obrigkeit übertölpelt und in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt.

Der wirtschaftliche und wissenschaftliche Aufschwung des 19. Jahrhunderts köderte die letzten Freunde des Vormärz, die allesamt zu Anhängern Bismarcks wurden. Was erfolgreich ist, auf dem ruht der Segen des Herrn. Eine strenge Obrigkeit ist allemal besser als eine chaotische Pöbelherrschaft. Die Weimarer Republik wurde von der gesamten intellektuellen und politischen Elite des Landes abgelehnt. Die deutschen Führungsschichten indes warteten auf die eschatologische Vollendung ihrer Heilsgeschichte.

Die Nachkriegsepoche war der bisherige Gipfel der demokratischen Entwicklung, die viele aufstrebende Länder als begehrenswertes Ziel ihrer Entwicklung empfanden. Amerika war ein souveräner Anführer dieses globalen Zusammenwachsens, das selbst die Gefahren des Kalten Krieges überstand. Die UNO wurde zum Parlament der Völker, die UN-Charta zur ethischen Norm der Mehrheit der Nationen.

Dann der Rückschlag. In den USA kamen religiöse Kräfte nach oben, die das Ziel einer friedlichen Menschheit langweilig, abscheulich und blasphemisch fanden. Sie lasen in ihren heiligen Büchern und der Rausch der Endzeit kam über sie. Die fundamentalistischen Frommen, die lange den weltlichen Reigen gebilligt hatten, weil er den Ruhm von Gods own country in aller Welt gemehrt hatte, begannen gegen die Dominanz des Internationalen zu wüten.

Wirtschaftliche und militärische Fehlschläge, schließlich die Katastrophe von 9/11, ließen das Fass überlaufen. Ab Dabbelju ließ der amerikanische Glanz rapide nach. Obama konnte die schlimmsten Fehlleistungen nur geringfügig korrigieren, an der Gesamtentwicklung zurück zum einzig auserwählten Volk konnte er nichts ändern. Trump wurde zum hemmungslosen Vollender der Verbarrikadierung des endzeitsüchtigen Volkes.

Biden wird die schlimmsten Fehlleistungen seines Vorgängers rückgängig machen. Doch auch er ist ein frommer Mann. Nie wird er die religiösen Traditionen seines Landes bekämpfen, die er als biblischen Segen anbetet.

Bereits im Mittelalter sind die ersten parasitischen Akte der Klerikalen zu erkennen.

„Es waren die Griechen und Römer, von denen das mittelalterliche Europa die Vorstellung übernahm, dass es einmal einen Naturzustand gegeben habe, darin man weder Unterschiede des Stands und Wohlstands kannte, noch irgendeiner von einem andern unterdrückt oder ausgebeutet wurde, einen Zustand, den der gute Wille, brüderliche Liebe, gelegentlich die Gemeinsamkeit jeder Habe charakterisierten.“ (Norman Cohn)

Das blieb keine folgenlose Erinnerung an eine goldene Urzeit: das vorbildliche Verhalten dieser Ahnen wurde zum neuen Maßstab einer demokratischen Aufklärungsbewegung in Athen. Das „Naturrecht der Schwachen“ wurde zur Grundlage der neuen Menschenrechtsbewegung in den sokratischen Schulen.

Die Stoiker fassten diese Strömungen der neuen Humanität zusammen:

„Wie die griechischen Stoiker schon im dritten vorchristlichen Jahrhundert kategorisch erklärten, seien alle Menschen Brüder und von Natur aus frei und gleich gewesen. Das von der Sonne gespendete Licht galt manchen als erhabenes Vorbild für soziale Gerechtigkeit.“ (ebenda)

Die Ideen blieben nicht ohne Wirkung bei den Scholastikern des Mittelalters. Sie übernahmen das Naturrecht der Schwachen und verfälschten es in ein göttliches Naturrecht, das sie mit dem „Naturrecht der Starken“ zu beliebig verwendbaren totalitären Rechtsgrundlagen verpanschten. Das war der erste Großraub der Kirchen am Gedankengut der Heiden, womit sie das Erbe der Griechen zu verdrängen gedachten.

„Der Begriff vom egalitären Urzustand der Natur wurde von den Kirchenvätern übernommen und in die politische Theorie eingebaut.“ (ebenda)

Die Ausbeutung heidnischer Gedanken zur Veredlung der christlichen wurde zum standardisierten Schema der europäischen Geschichte bis zum heutigen Tage – nur mit dem Unterschied, dass im Laufe der Zeit die Transformation des griechischen Erbes in religiöse Offenbarung immer dreister und unverschämter wurde.

Zwei Faktoren unterstützten diese Großlügen:

a) Das schlechte Gewissen der „graecophilen“ Intellektuellen – unter ihnen viele Pastorensöhne –, die ihrem Kinderglauben nicht untreu werden wollten, aber seine vernunftfeindliche Art nicht ertrugen. Die Dialektik Hegels kam ihnen wie gerufen, um Gottes Symbiose aller Widersprüche peu à peu zu beenden.

b) Das Kirchenvolk wurde dumm gehalten, damit es den Predigern nicht auf die Finger schauen konnte. Die willkürlichen Deutungen der Theologen konnten sich hemmungslos austoben.

Hegel hatte Vorgänger schon im „finsteren“ Mittelalter:

„Ambrosius, der Kirchenvater übernahm das Naturrecht der Stoiker. Zur Untermauerung zitiert er nicht nur die Stoiker, sondern auch die Schöpfungsgeschichte, als seien sie völlig übereinstimmende Autoritäten.“ (ebenda)

Das stoische Naturrecht lautete, in der Formulierung Senecas:

„Die Natur hat alle Schätze für alle Menschen als gemeinsamen Besitz hervorgebracht. Denn Gott befahl allen Dingen, so zu werden, dass die Nahrung allen gehört und die Erde Gemeineigentum ist.“

Das Naturrecht der katholischen Kirche wurde zur beliebigen Allzweckwaffe. (Lutheraner benötigten kein Naturrecht. Natur war für sie hoffnungslos sündig und minderwertig, die gottgleiche Obrigkeit konnte nach Belieben schalten und walten.) War Nächstenliebe angesagt, um die unvergleichliche Kompetenz der Kirche in sozialen Fragen zu beweisen, zitierten sie ihr Naturrecht in der Form des „Naturrechts der Schwachen“. Ging es aber um Kreuzzüge und nationalsozialistische Kriege gegen den gottlosen Bolschewismus, musste das „Naturrecht der Starken“ herhalten. Die antinomische Struktur der göttlichen Moral lässt die Kirche nie im Regen stehen.

Letztes Beispiel: ein Kirchenvater zitiert zustimmend einen griechischen Philosophen:

„Denn die Nutzung aller Dinge dieser Welt hätte allen Menschen zustehen müssen; nun aber sagt ein törichter Mensch, das gehöre ihm, ein anderer, es sei sein und so entsteht unter Sterblichen Uneinigkeit und Streit.“ Viele Jahre später wird diese Stelle zustimmend von einem Mönch zitiert, „aber nicht mehr als Ausspruch eines Heiden, sondern als des Papstes eigene Ansicht. Und zur Verstärkung seines Arguments lässt er den Papst das vierte Kapitel der Apostelgeschichte zitieren:

„Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele …“

Norman Cohn spricht von „hybriden, halb-christlichen, halb-stoischen Fassungen“ der abendländischen Symbiosen. Was zur Folge hatte, dass christliche Politik alles absegnen kann, was die jeweilige Zeit- und Interessenlage erforderlich macht. Das gilt für Katholiken wie für Protestanten gleichermaßen, was man an der hybriden Biegsamkeit des Merkel‘schen Repertoires sehen kann: einmal ein almosenhaftes Flüchtlings-Willkommen, dann aber das machiavellistische Todesurteil über die Hilfesuchenden.

Dasselbe gilt für die soziale Frage: einerseits hypermoralisch im Dienst des Nächsten, andererseits die unveränderbare Kälte der civitas diaboli:

„Die Kirche blieb dabei, dass ein Leben in freiwilliger Armut „die vollkommenere Lebensform“ sei; sie bestand jedoch darauf, dass in einer unter den Folgen des Sündenfalls leidenden, verdorbenen Welt dieses Ideal nur Auserwählten zur Verwirklichung vorbehalten sei.“ (ebenda)

Brauchen wir Religion zur Lösung unserer ansteigenden und „komplexen“ Probleme? Wenn jemand eine religiöse Motivation benötigt, um moralisch zu sein – nur zu. Hier muss jeder selber zusehen, woher er seine Kräfte nimmt. Voraussetzung aber bleibt: diese Kraftquelle bleibt privat und wird nicht als Propagandamittel für eine bestimmte Religion verwendet. Wird sie jedoch dazu verwendet, muss diese Religion öffentlich bis auf die Knochen entlarvt werden.

Wer seine Humanität aus heiligen Schriften ableitet, hat jedes Recht dazu. Doch eine Riesengefahr besteht, die er zumeist nicht wahrhaben will. Das Berufen auf eine Religion ermuntert andere, ihre Schandtaten aus derselben Religion abzuleiten – die sie in textgetreuer Orthodoxie interpretieren. Humanisierer der Texte wollen nicht wahrhaben, dass sie die Machenschaften totalitärer Zwangsbeglücker ungewollt unterstützen.

Der Humanismus des Einzelnen, den er als gutgemeinte, aber falsche Interpretation einer totalitären Theokratie gewonnen hat, darf nicht benutzt werden, um eine amoralische Religion zu unterstützen. Wer sich aus humanen Gründen Christ nennt, der muss daran erinnert werden, dass die Originalversion dieser Religion dazu gedient hat, die schlimmsten Kriege, Folterungen, Versklavungen und Hexenjagden mit dem Segen des Himmels zu rechtfertigen.

Es ist einfach, sich durch Selektion gewisser Schriftworte mit Nächstenliebe zu schmücken. Das Neue Testament hat sich intensiv mit der Ethik griechischer Philosophen auseinandergesetzt. Deren Thesen aber durch Einfügen in Seligkeitsverheißung und Höllendrohung ins Gegenteil verfälscht.

„Liebe – und tu, was du willst.“

„Sündige tapfer, aber glaube.“

Das sind göttliche Legitimationen sowohl für einen Franz von Assisi wie für einen Adolf Hitler.

Wenn in Deutschland von Glauben die Rede ist, gibt es immer nur einen Glauben. Der kann eine emotionale und dogmatische Nebelbildung sein: wenn ich an Gott denke, spüre ich ein Kribbeln im Bauch. Ergo wird das Kribbeln Glauben genannt. Dass es viele Arten von Göttern und viele Formen von Glauben gibt, hat sich im besten Touristenland der Welt noch nicht herumgesprochen.

Den Hauptunterschied zwischen Natur- und Erlöserreligionen kennt kein Merkel-Bewunderer. Sowenig er daran interessiert ist, seine Hausbibel aus dem Keller zu holen und kritisch zu lesen, so sehr hängt er am wohligen Gefühl, dass seine Nation durch Tüchtigkeit die Verbrechen seiner Väter (und Mütter) getilgt und den Ruhm einer besonderen Nation zurückerobert habe.

Weshalb sich die Deutschen so gern mit anderen Nationen vergleichen. Sind sie besser als andere, muss das vergleichsweise Bessere auch das an sich Gute sein. Sind sie schlechter, besteht Gefahr für die geliebte und verehrte Mutter Germania. Die Coronakrise könnte zum Kipppunkt werden. Solange wir relativ gut abschneiden, wird Merkel einen sicheren Platz in den Geschichtsbüchern erhalten. Doch wehe den Oberen, wenn den Untertanen bewusst wird, dass sich in Merkels Amtszeit der „failed state“ sich bis in den letzten Winkel ausgebreitet hat.

Brauchen wir Religion, um der Klimakatastrophe zu begegnen? Selbst wenn, welcher Religion? Sind denn alle in gleichem Maße naturgemäß?

In seinem Buch „Projekt Weltethos“ zitiert Küng seinen protestantischen Kollegen Tillich, der dem Buddhismus die „Identifikation mit der Natur“ zuordnet und dem Christentum: „Beherrschung der Natur“ bescheinigt. Wer Natur beherrschen will, kann keine Eintracht mit ihr suchen. Ergo müsste das Christentum als Religion der Ökologie ausscheiden.

Wie wär‘s mit Buddhismus oder südamerikanischen Naturreligionen der Pachamama? Hier schlagen deutsche Intellektuelle die Hände über dem Kopf zusammen und warnen vor Naturschwärmern, Esoterikern und sonstigen Schamanen.

Gegen einen Schöpfer aus Nichts, der seine erste Schöpfung dem Tod zuführt, um sie durch eine zweite zu ersetzen: gegen einen solch irrationalen Wunder- und Zerstörungsglauben haben sie freilich nicht die geringsten Bedenken.

Brauchen wir Religion, Herr Küng, um unsere Pflichten zu erfüllen?

„Auch der Mensch ohne Religion kann ein echtes menschliches, als humanes und in diesem Sinne moralisches Leben führen; eben dies ist der Ausdruck der innerweltlichen Autonomie des Menschen.“ (Küng)

Geht doch! Wozu also Religion? Weil es noch weitaus Besseres geben soll als irdische Autonomie?

„Gott ist das einzig Unbedingte in allem Bedingten, das die Unbedingtheit und Universalität ethischer Forderungen begründen kann. Dieser Urgrund ist für den Menschen keine Fremdbestimmung. Richtig verstanden ist Theonomie nicht Heteronomie, sondern Grund und Garantie menschlicher Autonomie. Nur die Bindung an ein Unendliches schenkt Freiheit gegenüber allem Endlichen.“ (ebenda)

Warum, Herr Küng, konnte Sokrates auf jegliche Götter verzichten und seiner Moral dennoch sicher sein? Brauchen wir noch andere Beweise für die Richtigkeit unserer Moral als die Erfahrung, mit Humanität Hass und Feindschaft überwinden zu können? Moral kennt nur ein Falsifikationsmittel: verschärft sie die Spannungen und Konflikte zwischen den Menschen – oder rücken wir enger zusammen, wenn wir uns von humanen Ideen leiten lassen?

Wir brauchen keinen Glauben an illusorische Götter, wir brauchen das Vertrauen in den lernfähigen Menschen, der sich vom Makel des Bösen und Erbsündigen befreit hat.

Werter Herr Küng, lassen Sie uns mit dem Zitat eines Heiden schließen, der sein Volk mit friedlichen Mitteln aus den Händen seiner Eroberer befreite. Seine nicht-christlichen Worte würden Sie vermutlich als sündigen Hochmut empfinden.

„Die Tatsache, dass noch so viele Menschen leben, ist doch nicht auf die Macht der Waffen zurückzuführen, sondern auf die Macht der Wahrheit und der Liebe. Das ist der größte und unanfechtbarste Beweis für den Erfolg der Macht der Liebe, trotz so vieler Kriege in dieser Welt.“ (Gandhi)

Fortsetzung folgt.