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nichtsdesto-Trotz III

Tagesmail vom 12.04.2021

nichtsdesto-Trotz III,

Mütterlein, Mütterlein
Könnt‘ es nochmal so wie früher sein
Als du uns an deiner lieben Hand
Geführt durchs Wirtschaftswunderland
Quälten dich auch Not und Sorgen
Du trugst sie bei dir
Glücklich war ich und geborgen
Denn du warst ja bei mir!

Warum erbarmt sich niemand des tapferen Mütterleins, das seine Not und Sorgen nicht länger verbergen kann? Will niemand sehen, wie überfordert Mütterlein ist, grau im Gesicht, erschöpft, kraftlos, desorientiert und ermattet?

Und doch, wie tapfer sie fortfährt, im selben Schritt und Tritt durch die Zeiten zu stapfen, an ein Ziel, das niemand kennt und niemand kennen darf. Denn es wird von höheren Mächten bestimmt und untersteht nicht dem Willen der Menge. Mutter Germania ist ratlos, aber sie weiß, es muss weiter gehen.

Warum erbarmt sich kein Deutscher seiner kurz vor dem Kollaps stehenden Obrigkeit mit dem leeren Gesicht, das nicht mehr ein noch aus weiß? Doch niemand darf es merken, schon gar nicht darüber reden. Was jeder vor Augen hat, muss ein öffentliches Staatsgeheimnis bleiben.

Alle warten und schauen tatenlos zu, bis sie kraftlos niederfällt, weil sie nicht rufen kann: Deutsche, wo seid ihr? Warum hilft mir niemand? Warum befreit mich niemand aus dem Hamsterrad? Muss ich die Qualen des Sisyphos bis zum bitteren Ende auf mich nehmen?

Seid ihr so grausam, dass ihr meinen Kollaps als öffentliches Schaulaufen benötigt? Ich weiß, längst glaubt ihr, dass ich euren Niedergang verschuldet habe. Und nun inszeniert ihr rachsüchtig den meinen? Dabei hoffte ich, ihr hättet das Prinzip „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ hinter euch gelassen.

Jetzt fürchte ich, es wird schrecklich enden für uns alle – wenn diese Untergangspropheten Recht haben. Und wer kann sie widerlegen? Schon lange lese ich keine Klimaberichte mehr. Denn darin sehe ich die Hand Gottes, der ich blindlings vertraue! – Haben wir es soweit gebracht, dass wir uns gegenseitige Sterbebegleiter geworden sind? Alle denken an den Tod, doch niemand spricht darüber:

„Wir bewegen uns auf Kipppunkte zu, nach deren Verstreichen das Erdsystem irreversibel verändert sein wird. Eine neue Studie legt zum Beispiel nahe, dass das Abschmelzen des Antarktis-Eisschilds möglicherweise nicht mehr aufzuhalten ist. Einer Studie von 2019 zufolge leben auf der Erde derzeit bis zu 630 Millionen Menschen in Regionen, die dann zu Überflutungsgebieten werden. Man wird für das, was dann passiert, ein größeres Wort erfinden müssen als »Flüchtlingskrise«. Zumal parallel riesige Gebiete durch Dürrekatastrophen unbewohnbar werden könnten, darunter Teile der USA und Südeuropas. Wir steuern auf eine Zeit der permanenten globalen Notfälle zu. Wir wissen ja längst, dass das so ist.“ (SPIEGEL.de)

Was ist das für ein unerträglicher Zustand, den wir alle längst ahnten, doch niemand der Mächtigen schlägt Alarm? Niemand der Einflussreichen springt aus seinem Sessel und schreit aus dem Fenster: das Boot sinkt? Und wenn die Pandemie vorüber sein wird, werden wir erst recht gelähmt sein. Jeder wird auf den anderen warten, niemand wird voranstürmen.

Gibt es Politiker, die noch nicht paralysiert wären? Allesamt sind sie kraft- und tatenlos. Unbeteiligt und gelähmt brabbeln sie vor sich hin, als ginge es nicht um das Schicksal ihrer Kinder und der Menschheit. Sie, die Freunde des Neuen und Unerwarteten, retten sich in den Modus des Automatischen und Immergleichen. Was bisher lief, muss weiterhin laufen. Nur keine Eingriffe von außen, keine moralischen Interventionen!

Moralisieren heißt für sie, Mallorca-Urlaubern ins Gesicht, Fleischfressern in die Suppe zu spucken. Wer gegen Moralisieren polemisiert, moralisiert doch selbst!. Gibt es irgendein Verhalten, das nicht moralisch wäre: selbst das Unmoralische ist Moral. Was ist die Alternative der Antimoralisten? Sie sagen es nicht, wir müssen es erraten. Die Gesellschaft ist kein lebend Ding, keine Gemeinschaft vitaler Wesen. Sie ist ein mechanisch Ding – oder eine Maschine.

Man muss die mechanischen Gesetze der Maschine kennen, muss wissen, welche Knöpfe und Hebel bedient werden müssen, um das Gefährt voran zu bringen. Wer weiß, wie etwas funktioniert: kann der sich wirklich Moral ersparen? Auf keinen Fall. Ohnehin sind die meisten nicht gegen Moral allergisch, sondern gegen Predigen von Oben. Predigen ist das Gegenteil selbstbestimmter Moral. Alle Politik ist moralisch, was sollte sie sonst sein? Indem ich die beste Politik wähle, habe ich die beste politische Moral gewählt.

Warum sind wir so gelähmt? Weil Politik als Mythos Maschine gerade kollabiert. Kam eine unerfahrene Pastorentochter aus dem befreiten Osten und hielt sich für kompetent, politische Führerin zu spielen. Warum gelang es ihr? Sie musste nur eines lernen: wie funktioniert die Maschine? Als sie die Mechanismen erkundet hatte, war sie unschlagbar. Nicht in Politik, aber im Bedienen der Maschine. Politik als Gestaltung des Irdischen lehnt sie ab. Das Leben auf Erden ist trostlos und muss so bleiben. Über ihre religiösen Grundsätze spricht sie nicht. Deutschland wird nach Prinzipien regiert, die niemand kennt und niemand kennen will. Das nennt man hierzulande eine moderne Politik.

Jetzt, in der Krise, zerbricht die Maschine – und alle Macht- und Maschinenführer drehen durch. Sie müssten echte Politik mit vitalen Menschen machen. Mit Menschen umgehen ist etwas ganz anderes als Maschinen bedienen. Die Neue kann Physik, jubelten deutsche Medien, sie ist die beste Politikerin, sachlich und nüchtern, sie kann sich Kleinigkeiten merken und in mechanische Formeln einsetzen.

Was war geschehen? War Politik nicht schon immer eine Maschine? Schon seit vielen Jahrhunderten – aber nur in männlichen Hochkulturen, in denen der Mensch, besonders die Frauen, dem Willen der Männer ausgeliefert waren.

Die Geschichte der Machtmaschine wird von Lewis Mumford in seinem genialen Buch „Mythos der Maschine“ erzählt. Das Buch müsste in jeder Schule gelesen werden. Doch die Schulen der Machtmaschinen legen keinen Wert darauf, dass der Nachwuchs erfährt, in welche Gesellschaft er hineinwächst. Sie brauchen nur Mechaniker nationaler Maschinen, um dem eigenen Volk zum Sieg zu verhelfen. Woher die Gesetze der Maschine stammen, und ob sie sinnvoll sind, das soll niemanden interessieren. Die Weltmaschine muss heiß laufen. Jetzt steht sie kurz vor der Explosion.

Die erste Phase der Maschine war das Ensemble menschlich erfundener Machtmechanismen.

Die zweite Phase war die Staatsmaschine mit Hilfe natürlicher Gesetze. Es war der Beginn der modernen Naturwissenschaft mit Galilei, Newton und Kepler.

Galilei knüpfe an die Griechen an – aber mit bedeutsamen Unterschieden:

„So kam es zur Erneuerung der Wissenschaft, aber leider, anstatt weite Bereiche zu umfassen, wie Aristoteles es getan hatte, erhielt die Erforschung der „physikalischen Welt“ Vorrang vor der Erforschung der Natur des Lebens und seiner Umwelt. Aristoteles war der Philosoph der lebenden Organismen, die mit Selbständigkeit und Willen ausgestattet sind, fähig, sich zu organisieren und zu reproduzieren. Galilei und seine Schüler waren Philosophen der unbelebten Prozesse, die dann in den neuen Maschinen angewandt wurden.“ (Mumford)

Feudale Despotien erniedrigten ihre Untertanen zu leblosen Rädchen ihrer Machtmaschinen. Demokratien sind einen Schritt weiter: sie behandeln ihre Untertanen wie Menschen – die wie Rädchen funktionieren sollen. Was ist der Unterschied? Mit Rädchen spricht man nicht. Mit demokratischen Untertanen spricht man zwei Wörter, damit sie das Gefühl erhalten, wichtig zu sein. Nach dem scheinbaren Gespräch sollen sie wieder funktionieren wie Rädchen. Gespräche sind verkommen zu verbalen Mechanismen.

Formeln wie: man muss die Menschen an die Hand nehmen, Politiker sollten sich in die Welt ihrer Wähler versetzen, zeigen, dass sie in einer anderen Dimension leben. Bei Medialen nicht anders. Um etwas zu recherchieren, machen sich auf die Spur von … . Echte Gespräche zwischen den Welten gibt es nicht.

Es waren Naturwissenschaften, die Pate gestanden hatten bei den modernen Maschinen. Wie sie die Gesetze der Natur erkennen, sich aber ihrer Dominanz unterwerfen müssen, um die Natur zu beherrschen, so treiben es Politiker und Ökonomen. Sie verwandeln das Terrain der Gesellschaft in vermeintliche Gesetze, die die Strenge der Naturgesetze anstreben. Naturgesetze bestehen aus Quantitäten, die man mit Hilfe berechenbarer Formeln regulieren kann. Alles Qualitative wie sinnliche Eindrücke, Worte, Gespräche und Gefühle werden ausgeschieden:

„Der Geist begreift ein Ding umso klarer, je näher es sich auf reine Quantitäten zurückführen lässt: je weiter es sich aber von Quantitäten entfernt, desto mehr Dunkelheit und Irrtum wohnen ihm inne.“ Was bedeutet, je menschlicher und vitaler etwas wird, umso weniger berechenbar wird es.

„Die Sprache der Natur ist die Mathematik, seine Buchstaben sind Dreiecke; Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es unmöglich ist, auch nur ein einziges Wort zu verstehen.“

Durch den Sieg der mathematischen Naturwissenschaften wurden die Geisteswissenschaften zu minderwertigen, nicht quantifizierbaren Erkenntnissen degradiert. Eben noch waren sie als Theologie und Philosophie führende Fakultäten der Universitäten. Nun der Absturz: Wörter und Begriffe der Urschrift konnten beliebig gedeutet werden. Mit Präzision hatte das nichts mehr zu tun.

Diesen Absturz wollten sich die Geisteswissenschaften nicht bieten lassen. Also gingen sie dran, auch in ihren Fächern Gesetze zu suchen, die sie – nicht mit Hilfe strenger Mathematik, aber immerhin mit statistischen Wahrscheinlichkeiten – berechnen konnten. Inzwischen glauben sie, die Präzision der Naturwissenschaften fast schon erreicht zu haben. Ihre statistischen Gesetze präsentieren sie wie eherne Naturgesetze.

Das ist Rosstäuscherei. Die Zahlen, mit denen sie hantieren, sind der Natur nicht in beliebig wiederholbaren Experimenten abgelauscht, sondern das Ergebnis subjektiver Fragen, Eindrücke und Bewertungen. Die Durchschnittsintelligenz einer Klasse hängt ab von emotionalen, willkürlich schwankenden Noten. Deutschaufsätze wurden in verschiedenen Schulen schon von eins bis sechs bewertet.

Umfragen sind stets suggestive Fragen, die von jedem Antwortgeber verschieden verstanden werden. Solche Zahlen sind keine Erkenntnisse, die man der Natur abgeschaut (gemessen) hätte, sondern den Antwortenden suggestiv vorgeschwatzt hat. Politische Umfragen werden in hohem Maße durch Antworten entschieden, die sich auf der Höhe der Zeit präsentieren wollen. Unliebsame Antworten werden oft verschwiegen, aus Angst, sich bei den Fragern unbeliebt  zu machen.

Auch Marx wollte ein exakter Naturwissenschaftler sein, indem er der Realität – den materiellen Verhältnissen – exakte Ökonomiegesetze ablauschen wollte. Seine materiellen Verhältnisse waren Naturverhältnisse ohne menschlichen Geist, den er, als Philosophie, zur belanglosen Interpretationskünstlerin erniedrigte. Dennoch blieb er Geschichtsprophet, der den Verlauf der Geschichte aus historischen Fakten glaubte folgern zu können.

Ein schlechter Scherz, doch äußerst wirksam für die Massen der Proleten, die, ihren Popen gerade entkommen, eine handfeste Hoffnung zu ihrer Seelenberuhigung benötigten.

„Marx beging den großen Fehler, die ökonomische Organisation als einen eigengesetzlichen, vom Willen der Menschen unabhängigen Faktor zu behandeln, während diese Art der Materialisierung doch nur eine der vielen Formen ist, in denen die gärenden Ideen einer Kultur akzeptiert wird.“

Dass Marx in Deutschland bis heute nicht aufgearbeitet wurde, hängt an der latenten Messiaserwartung der Einheimischen, die sie sich aber nicht zugestehen wollen. Immer, wenn der Neoliberalismus ins Trudeln kommt, erscheinen Standard-Artikel in linken Gazetten mit Schlagzeilen wie: was Marx schon wusste, Zeit, bei Marx nachzuschlagen.

Was früher Bibel war, ist heute Marx geworden. Die Grünen haben sich mit Marx nie gründlich auseinandergesetzt, die Linken wissen noch immer nicht, ob sie marxistisch sein wollen oder nicht. Christliche Parteien haben auch keine Ahnung von ihrer Ideologie. Das aber schwächt nicht die Absegnungswirkung, die von ihnen erwartet wird. Merkels Tranquilizerwirkung wäre ohne christliche Prägung des nationalen Unbewussten unmöglich. Wer bestehende Herrschaftsverhältnisse demontieren will, muss schärfere Waffen aufbringen als Beruhigungspillen aus dem Kanzleramt.

Deutschland fehlt es an philosophischer Auseinandersetzung. Das spürt das Land, begnügt sich aber mit unscharfen Ersatzbegriffen wie links, rechts, halblinks, Identitätspolitik, Cancel Culture etc. Kein Begriff wird scharf definiert, mit seinem Widerspruch konfrontiert, weshalb „Streitgespräche“ ein Haschen nach Wind werden.

Die Mechanisierung der Welt wurde von Descartes nur dem Leibe verschrieben, der Geist blieb frei. Das hatte den Effekt, dass der ungebändigte Geist noch lange von den Theologen beherrscht wurde. Mit dem unguten Effekt, dass die Grundlagen methodischer Streitgespräche bis zum heutigen Tag nicht erarbeitet wurden. Anstatt Argument für Argument in scharfer Form gegeneinander zu setzen, werden rhetorische Aerosole ausgetauscht. Sophistische Wortverdreher haben den Kampf gegen akkurate Begriffsverwender gewonnen. Die Kunst des scharfen Dialogs ist verloren gegangen.

Dialoge sind Ringkämpfe mit Hilfe von Begriffen und logischen Schlussfolgerungen. Es geht darum, den Gegner auf die Matte zu legen. Undenkbar in modernen Zeiten, wo Besserwissen eine schrecklichere Sünde ist als Brudermord. Lieber will man seine Gegner mit Exportüberschüssen zur Strecke bringen oder mit Androhen schrecklicher Waffen. Wo man sich nicht geistig auseinandersetzen kann, muss man zur ökonomischen Überrumpelung oder gar zur Haubitze greifen.

Wozu brauchte man die Verwandlung von saftigem Leben in leblose mechanische Gesetze? Um Macht über Natur und Leben zu gewinnen. Bald bildete sich der Mensch ein, seine Maschinen wären lebendige Wesen und er der Schöpfer dieser Wesen ex nihilo. Das Geschöpf wollte sich emanzipieren, indem es sich zu einem gottgleichen Wesen emporschwang.

Was für die Natur galt, galt auch für die politische Gemeinschaft, die von ihren Machtfiguren in eine Maschine verwandelt wurde, um leise schnurrend zu funktionieren.

Der französische Aufklärer de la Mettrie begnügte sich nicht mit einer halben Umwandlung des Menschen in eine Maschine. Er komplettierte das Werk Descartes und definierte den Menschen als vollständige Maschine. Das erzeugte einen Sturm der Entrüstung, besonders bei deutschen Romantikern. Der freie Wille verschwand im Räderwerk der Mechanismen. Ein aufgeklärter Glaube an den freien Willen konnte hier nicht mehr mitmachen:

„Julien Offray de La Mettrie war der erste der Aufklärer, der so weit ging, zu behaupten, die Materie organisiere alles aus sich selbst heraus, Anorganisches wie Organisches, der Mensch sei nichts weiter als eine kompliziertere Maschine, es gebe keine Grenze zwischen tot und lebendig, keinen Gott, kein Leben nach dem Tod, keine natürliche Moral, und vor allem sei es Unsinn, wegen irgendwelcher Handlungen ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Gelehrtenwelt war außer sich.“

Demokratie lebt vom freien Willen des entscheidungsfähigen Menschen. Tatsächlich wird der Mensch durch fremdsteuernde Werbung in eine verführbare Konsummaschine verwandelt. Der Mensch soll nicht bemerken, mit welchen Mitteln er den ganzen Tag von unsichtbaren Fäden gezogen wird. De la Mettrie, damals schwer angegriffen und verfolgt, hat sich heute flächendeckend durchgesetzt. Nicht zuletzt Skinners faschistische Konditionierungen haben das zoon politicon zur Marionette geheimer Beeinflussungsmethoden verbogen.

Wer es nur mit toten Maschinen zu tun hat, braucht keine subtilen Argumente, um Menschen von einer humanen Moral zu überzeugen. Der Fortschritt der Maschinen führte zur Eliminierung der praktischen Vernunft:

„Die Gleichsetzung von technischem und moralischem Fortschritt wurde im Westen zur allgemein anerkannten Doktrin verfälscht. Hinzu kam die Überzeugung vom unvermeidlichen Fortschritt, der in halsbrecherischer Hektik ohne jede Selbstkritik zur Realität der Gegenwart wurde“:

„Denken Sie daran, meine Herren, nichts geht rückwärts, alles bewegt sich vorwärts.“ (Victor Cousin)

Das war der Aufruf, alles Vergangene zu leugnen und gehetzt in eine futurische Fata Morgana zu blicken.

Das Alte zu negieren und ständig einem Neuen entgegenzublicken, das ist noch immer biblisches Ideengut, transformiert in Technik und blinden Fortschritt. Humane Gedanken sind überflüssig. Der Gang des Fortschritts ist in sich das nonplusultra. Nicht eine menschliche Zukunft wird angepeilt, sondern eine Götterfamilie, die mit Hilfe seelenloser Maschinen die Erde zu einem totalitär beherrschten Revier deformieren kann.

„Voltaires höhnische Formel für Fortschritt – den letzten König mit den Eingeweiden des letzten Pfaffen zu erdrosseln – darf hier nicht unterschlagen werden.“

Was Maschinen zur Naturbeherrschung beitrugen, trug die staatliche Gesamtmaschine zur Beherrschung des Menschen bei:

„Ein Staat ist ein einfacher moralischer Körper, dessen Theile den allergenauesten Zusammenhang mit einander haben. Er ist eine Maschine, dessen Räder und Triebfedern sehr wohl zueinander passen müssen, wenn die Maschine alle Kräfte und Thätigkeit zeigen soll, deren sie fähig ist. Es ist nicht einmal zureichend, dass alle Triebwerke wohl in einander passen; die Theile selbst müssen ein genaues Verhältnis gegen einander haben und vollkommen mit einander übereinstimmen.“ (J.H.G. v. Justi, 1759)

Die Mechanisierung der demokratischen Gesellschaft kommt von der Dominanz der durchmechanisierten Industrie. Als Merkel Kanzlerin wurde, lief das Schifflein wie geschmiert. Kein Wunder, ein jahrhundertealtes Industriesystem hatte nach der Katastrophe als erstes System seine alte Effizienz zurückgewonnen und den Deutschen den Respekt der Welt durch VW eingetragen. Das ging so lange gut, solange die trunkenen Weltmeister ihren Erfolg nicht anders zu steigern wussten als die Welt – zu betrügen. Die Dekadenz der Tüchtigen begann.

Wie es der Teufel wollte, begann Corona zeitgleich mit dem Verfall der automatisierten Staatsmaschine zu wüten. Der Mythos Maschine begann zu bröckeln, der physikalisch reduzierte Verstand der Kanzlerin stand im Regen. Bis heute weiß sie nicht, wohin sie sich bewegen soll. Denken selbstkritischer Menschen ist bei Trittbrettfahrern des Zeitgeistes äußerst unbeliebt. Entweder hetzen sie oder sie stellen sich tot: Merkel hetzt nicht mehr.

Jetzt wäre eine günstige Gelegenheit, den Mythos der Maschine aus der Gesellschaft zu verjagen und die Polis als Gemeinschaft lebendiger, fühlender, nachdenklicher Mitmenschen zu betrachten. Technischer Fortschritt ist kein humaner. Wir aber brauchen einen humanen, um dem Unheil des technischen Fortschritts Einhalt zu gebieten.

Wie die sozialen Strukturen der Gesellschaft durch Mechanisierung bereits zerrüttet sind, zeigt der folgende Artikel über die Loslösung der Kinder von ihren Eltern:

„Eltern sollten sich von ihren zweijährigen Kindern lösen, damit es ihnen 20 Jahre später leichter fällt, die Kinder ziehen zu lassen? So kann man es ausdrücken. Das Kind mit seinen Gefühlen und Eigenheiten anzuerkennen heißt nicht, ihm die Führung in der Familie zu überlassen. Und schließlich die Hochphase der Pubertät, in der Kinder damit beschäftigt sind, sich wirklich aus dem Elternhaus loszueisen. Sich auch von den Wertvorstellungen der Eltern abzugrenzen. Nach meiner Auffassung sollten die Eltern spätestens nach 24 Monaten, also wenn das Kind zwei Jahre alt ist, dafür sorgen, dass sie beide als Partner und Partnerin wieder im Mittelpunkt ihres Lebens stehen. Und die Kinder schwirren wie Satelliten drum rum.“ (SPIEGEL.de)

Viel Bemühen, Kinder nahtlos ins Räderwerk der Gesellschaft auszugliedern. Keine Rede von politisch-philosophischer Auseinandersetzung. Positionen der Eltern müssen per se falsch sein und wortlos verlassen werden. Es geht um Führung. Wer schwirrt um wen herum? In einer lebendigen Familie – möglichst Großfamilie – schwirrt jeder um jeden herum. Jedes Kind braucht ein Dorf, kein mechanisches Satellitensystem, in dem der Trennungszwang im Vordergrund steht. Was, wenn in einer Familie sich der Einzelne entwickeln, seine Meinung äußern und dennoch mit seinen Lieben zusammenbleiben wollte? Eine Familie kann, unglaublich, aber wahr, zur verlässlichen Gemeinschaft aller Mitglieder werden. Es geht nicht darum, Kindern etwas vorzuschreiben oder zu verbieten, sondern darum, dass sie selbst entscheiden und ihre Erfahrungen selbst machen dürfen. Wie stellt man sich das Verhältnis der Kinder zu den Eltern vor, wenn diese ins Alter kommen und auf Hilfe angewiesen wären? Wieder abschieben, wie in der Kita, wieder den Imperativen eines erbarmungslosen Kapitalismus folgen? Kann man Menschlichkeit delegieren, in Scheiben schneiden, von Periode zu Periode ausdünnen, um ja den Aufstieg nicht zu verpassen und Karriere in Übersee zu machen?

Was wird aus solchen Kleinfamilien, die sich mit Absicht auseinanderdividieren?

„Vater, Mutter, Kind – und das Leben ist gut? Eine Illusion, findet die österreichische Politikwissenschaftlerin und Autorin Mariam Irene Tazi-Preve. Sie fordert radikales Umdenken. Das ist es, was ich sagen will: Alleine geht es nicht, zu zweit geht es auch nicht besonders gut. Wir müssen Familie größer denken.“ (Sueddeutsche.de)

Das ist das Ergebnis systematischer Loslösungen: eine desolate Gesellschaft, zerstörte Familien.

Corona wäre nicht so schlimm, wenn Familien mehr Nestwärme in humanen Wohnungen zu bieten hätten. Wohnungen als Betonsärge für die Armen sind des Teufels.

Über Merkels Führungsqualitäten kann man denken, was man will – sie kann es nicht, sie sollte gehen. Dennoch bleibt sie ein Mensch. Die Deutschen haben sie verhätschelt und zur Mutter Germania erhoben. Viel früher hätten sie die Überforderte mit Argumenten zum Rückzug auffordern sollen. Kein einziger ihrer Politfreunde ist weit und breit zu sehen, der sie mit Wärme und Verständnis erklären würde.

Die deutsche Staatsmaschine muss eine Kältemaschine sein. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. In einer Demokratie trägt jeder Mensch Verantwortung für die ganze Gesellschaft. Es war das Volk, das zuerst versagt hat. Es kennt keine Kriterien einer vernünftigen Politik. Hätte Bertold Brecht die Lösung gehabt?

„Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Fortsetzung folgt.