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Natur und Schrift

Hello, Freunde der Geopolitiker,

was verbindet Peter Scholl-Latour mit Helmut Schmidt, Siemens-Chef Kaeser, Gazprom-Schröder, Sportfunktionär Bach, FC Schalke 04, dem ganzen deutschen Sport, Fußball-Funktionär Blatter, Ulrich Grillo, dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und vielen Putin-Bewunderern, Putin-Verstehern und sonstigen Machiavellisten?

Sie beurteilen die Weltlage nach Interessen, Machtverhältnissen, Bataillonen, Wirtschaftsstärken und geopolitischen Einflusssphären. Nicht nach Menschen- und Völkerrechten. Nicht nach demokratischer Kompetenz. Nicht nach Moral.

Demokratische Grundsätze – sagen sie – sind nur für Demokraten. Punkt. Menschenrechte sind nur für den Westen. Punkt. Völkerrechte sind fürs Papier. Punkt. Noch Fragen, Kienzle?

Helmut Schmidt verteidigt gern Despoten und Autokraten. Wenn der Westen China wegen Menschenrechtsverletzungen kritisiert, wird Schmidt-Schnauze deutlich. Solche Kritik ärgere nur die Chinesen. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit nicht weniger als 2000 Toten verteidigt der ZEIT-Herausgeber mit den einfühlsamen Worten: „Die Soldaten hätten nur schießen gelernt.“

Was, wenn die Chinesen sich für diese freundlichen Worte mit dem Satz bedanken würden: Die deutschen

Völkerverbrechen im II. Weltkrieg seien doch nachvollziehbar. Schließlich hätten die Deutschen seit der Romantik nur Völkerverbrechen gelernt?

Scholl-Latour erwidert Leuten, die sich für die Einhaltung der Völkerrechte einsetzen – gerade im Hinblick auf die schreckliche Vergangenheit der Deutschen: Halt die Schnauze.

Bis vor kurzem bestritt der Ex-Kanzler, dass es Beweise für den Einsatz von Giftgaswaffen durch Assad gäbe. Hat er seitdem sein Urteil über den syrischen Schlächter revidiert?

Für Siemens-Chef Kaeser ist Putin ein ganz normaler Kunde. Gerade jetzt strömen deutsche Industrielle in den Kreml. Die machiavellistische Atmosphäre im Zentrum der rechtsfreien Politzone scheint ein Aphrodisiakum für die Wirtschaftstycoons zu sein – gegen das langweilige Einerlei ihres sonstigen Geldscheffelns.

Blatter hält den Fußball für das Opfer der Politiker. Wieso mengen diese nervösen Populisten sich ein, wenn’s um den belanglosen Tod vieler Sklavenarbeiter in Katar geht und stören die lukrativen Beuteverhältnisse eines internationalen Herrenclubs?

Ähnlich Ärgerliches in Rios Favelas. Dort mengt sich das Lumpenproletariat in die Geschäfte der vor der Tür stehenden Fußball-Weltmeisterschaft. Kann man denn nirgendwo auf der Welt ungestört seine Raubzüge veranstalten?

Die deutschen Sportler fühlen sich ähnlich belästigt durch die unruhigen politischen Verhältnisse rund um den Globus. Ja, sollen sie sich denn um alles kümmern? Gibt’s für die belanglose Sparte Politik nicht Politiker, die dafür bezahlt werden, dass das Rodeln deutscher Abwärtsspezialisten von niemandem gestört werde? (Warum sind Deutsche im Rodeln unschlagbar? Sie liegen ärschlings auf dem Schlitten, blicken gläubig nach oben und rasen blind in den Abgrund.)

Gewiss, man sollte das Gespräch mit niemandem abbrechen. Gewiss, man sollte verstehen. Gewiss, man sollte die Lage nicht eskalieren. Dennoch: soll man kriechen vor dem, den man verstehen will? Schließt Verstehen klares Urteilen aus? Ist Verstehen gleich Absegnen? Muss ich für richtig halten, wofür ich Verständnis aufbringe?

Nikolaus Blomes Unterscheidung zwischen Verstehen und Verständnis ist nicht trennscharf genug, um den Sachverhalt zu klären: Schmidt „finde Wladimir Putins Vorgehen „verständlich“, und darum „gefährlich“, dass sich der Westen so „furchtbar aufregt“. Was er dabei verwischt, ist der Unterschied zwischen Verstehen und Verständnis. Wer wie Europäische Union und USA gerade versucht, Wladimir Putins Beweggründe zu verstehen, muss deshalb noch lange kein Verständnis für dessen Handeln aufbringen.“ (Nikolaus Blome im SPIEGEL)

Wer einen Vorgang verstanden hat, hat Verständnis für ihn gewonnen. Verständnis haben bedeutet nicht, das Verstandene eo ipso zu billigen.

Ich habe Verständnis für deine Situation, sagt der Lehrer, wenn der Schüler einem Test fern blieb, weil er Prüfungsangst hatte. Dennoch kann er das Fernbleiben nicht billigen. Er rät ihm, einen Fachmann gegen Prüfungsängste zu konsultieren. So verbindet er Verstehen, Beurteilen und fürsorgliches Handeln im Interesse seines Schutzbefohlenen.

Entweder verstehen die Deutschen, dann beurteilen sie nicht und rechtfertigen das Verstandene, als sei es moralisch in Ordnung. Oder sie beurteilen und verstehen nichts, um der Gefahr kritikloser Zustimmung zu entgehen.

Die Linken verstehen Putin, geben aber nicht zu erkennen, ob sie sein Völkerbrechen stillschweigend billigen. Die Kritiker Putins hingegen verurteilen nur, ohne verstanden zu haben, warum der Kreml seine rechtlose Tat beging. Muss man verstanden haben, was man beurteilen soll?

Wer die Welt erkennen will, muss sie beurteilen und verstehen. Erkennen ist ein doppelter Akt. Er nimmt wahr, was ist und beurteilt, warum es ist oder wie es sein sollte. Verständnisloses Zensieren ist in gleichem Maße kontraproduktiv wie beurteilungsloses Verstehen.

Das mag akademisch klingen. Welche weitreichenden politischen Folgen die Unfähigkeit der Deutschen – zu verstehen wie zu beurteilen – nach sich zieht, zeigt die wirre Debatte, ob Putin für seine Regelverletzung bestraft werden soll – oder ob man weiterhin business as usual betreibt.

Wer nichts versteht, wird zum uneinfühlsamen Zensor, wer nicht urteilssicher ist, zum feigen Mitläufer der Geschichte. Die Politik uneinfühlsamen Zensierens führt zur hasserregenden Überheblichkeit; die Unfähigkeit, seine Position zu zeigen, zur charakterlosen Feigheit.

Zwischen beiden Polen schlingert und schwankt die deutsche Innen- und Außenpolitik. Wer nicht dieselbe Exportquote wie Deutschland erreicht, wird mit unflätiger Arroganz an den Pranger gestellt, wie im Fall Griechenland, Spanien oder Italien. Wer penetrant gegen Völker- und Menschenrechte verstößt wie Amerika oder Israel, als Freund Deutschlands aber das Recht auf Verständnis einfordern kann, dessen arrogantes Tun wird mit verständnisvoller Urteilsenthaltung begleitet. Die einen würgen sie am Hals, den anderen küssen sie die Füße.

Wer die Deutschen verstehen will, muss ihre nationale Biografie verstanden haben. Ihre verspätete und schwache Epoche der Aufklärung hat geurteilt, aber wenig verstanden. Ihre bis heute anhaltende Epoche der Romantik hat alles verstanden, aber keine moralische Position mehr bezogen. In Deutschland siegte die Romantik über die Aufklärung.

Der Urtypos der nationalen Persönlichkeitsspaltung liegt – wie in allen Dingen – im Gebiet des Heiligen. Genauer, im Verhältnis der Deutschen zur Schrift, dem offenbarten Willen ihres christlichen Gottes.

Die wenigen, die sich ein kritisches Urteil über die Schrift erlauben, verschwenden wenig Mühe, den Inhalt des Buches als menschliche Äußerungen zu verstehen. Denn die Offenbarung Gottes ist die Offenbarung eines Menschen, der all seine Gedanken jenem Gott zuschreibt, der das Produkt seiner Einbildungskraft ist.

Der Mensch teilt sich der Menschheit mit, indem er seine Botschaft einem Gott in den Mund legt, auf dass die Welt die Meinungen eines Menschleins als Offenbarung eines irrtumslosen Gottes akzeptieren möge.

Das ist der Grund, warum es sinnvoll ist, das Buch der Bücher als Buch vieler Menschen zu verstehen. Hat dieses Buch gar die Welt erobert, ist es absolut notwendig, seine überirdisch sein wollende Theologie als irdische Philosophie zu verstehen.

Wenn schon die Religiösen die Gottlosen verständnislos verfluchen, so sollten die Gottlosen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern selbst da verstehen und beurteilen, wo sie in die Hölle verdammt werden. Weigern sie sich, die Religiösen besser zu verstehen, als diese sich selbst, stellen sie sich mit jenen auf dieselbe Stufe des Ablehnens und Verdammens.

Der Anspruch, das Wort Gottes als Worte der Menschen zu verstehen, klingt nach Arroganz. Doch hier muss man Goethe in Anspruch nehmen: „Nur die Lumpe sind bescheiden. Brave freuen sich der Tat.“

Die Religiösen sprechen mit der Arroganz der Erleuchteten, mit der sie auf die Unerleuchteten herabschauen. Die Gottlosen antworten mit der Arroganz der Verständnisvollen, die keine Angst haben, die Religion auch zu bewerten.

Dies ist die Frontstellung, meine Brüder und Schwestern im Herrn. Lasset uns streiten.

Doch Vorsicht: Falle. Wer miteinander streitet, steht mit seinem Streitpartner auf gleicher Augenhöhe. Er muss die Position des Erleuchteten verlassen haben, wenn er sich in einen demokratischen Streit einlässt.

Gläubige haben den Text der Schrift zu verstehen – und für irrtumslos richtig zu halten. Kritisches Bewerten wäre Sünde und ist nicht vorgesehen. In diesem Sinn schließt Verstehen Bewerten aus. Bewerten ist Ja– und Neinsagen, was bei einem göttlichen Text unmöglich ist.

Doch was geschieht, wenn der Text – ab der historisch-kritischen Arbeit – nicht mehr als irrtumsloses Wort Gottes gilt? Dann müsste der Text beurteilt werden. Was aber, wenn die Gläubigen nicht mehr an die irrtumslose Verbalinspiration der Bibel glauben, sich aber dennoch nicht trauen, den göttlichen Text wie einen weltlichen Text zu zerlegen und zu beurteilen?

Das ist die deutsche Situation von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum heutigen Tag. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: die frommen Bibelleser glauben zwar nicht mehr an die Vollkommenheit des Textes, dennoch behandeln sie den Text, als sei er noch immer vollkommen.

Wie ist das möglich? Durch Deutung. Der Text bleibt unverändert, wie er ist. Durch Deutung aber kann er jedem Zeitgeist beliebig angepasst werden. Auf dem Sockel ewiger Unveränderlichkeit erhebt sich das Meer unendlich vieler willkürlicher Deutungen und Meinungen.

Das ist so genial wie verblendet. Einerseits sind die Gläubigen der Pflicht enthoben, den Text zu kritisieren, denn er bleibt in seiner Urfassung unverändert: niemand kann den Gläubigen den Vorwurf widergöttlicher Renitenz machen. Andererseits sind sie auf der Ebene der Deutung fähig, jede subjektive Meinung als Wort Gottes auszugeben.

So sind sie kritisch und gläubig, heterodox und orthodox, antiautoritär und autoritär in einem Akt. Sie haben das Wunder vollbracht, zwei unvereinbare Widersprüche – autonomes und heteronomes Lesen – zur Einheit zu bringen. Das ist die Psychologie der Deutschen seit zwei Jahrhunderten.

A) Das Wort, sie sollen lassen stahn.

B) Das Wort wird beliebig allen wechselnden Zeitgeistphilosophien angepasst.

Generalisiert kann man sagen:

a) die Deutschen geben der Obrigkeit, den Eliten und Autoritäten immer recht.

b) die Deutschen grummeln ununterbrochen gegen alle Autoritäten und würden sie am liebsten zum Teufel jagen. Doch siehe unter a).

Am Stammtisch, am Küchentisch, vor dem Fernseher werden die Eliten zerfetzt. Kaum betritt ein Prominenter das Studio und sagt Triviales, brandet der typische deutsche Beifall auf: endlich sagt‘s jemand. Die Deutschen haben das permanente Gefühl, sie dürften nicht sagen, was sie wollten, obgleich sie noch nie in der Geschichte eine so weitreichende Meinungsfreiheit hatten.

Woher kommt diese „kognitive Dissonanz“?

Sie kommt von der Feigheit, gottgegebenen Autoritäten nicht widersprechen zu dürfen. Im Fall der unfehlbaren Schrift haben wir es gesehen. Im Fall der Politik gilt im parallelen Sinn: jedermann sei untertan der Obrigkeit, es gibt keine, die nicht von Gott wäre. (In diesem Sinn war auch Hitler eine gottgegebene Obrigkeit.)

Während die Franzosen alle Obrigkeiten und Autoritäten in der Französischen Revolution offiziell zum Teufel jagten (wenn auch später in hohem Maße wieder zurückriefen), haben es die Deutschen bis heute noch nicht zu einer fulminanten und radikalen Flurbereinigung gebracht. Dennoch haben sie eine Demokratie mit freier Meinungsäußerung! Wie reimt sich das?

Jedermann weiß, Demokratie wurde ihnen zweimal als Ergebnis eines verlorenen Krieges von den Siegern aufoktroyiert. Zwar sind sie heute demokratisch, aber nur in ihrem Über-Ich. Ihr kollektives Es lebt noch immer in vordemokratischen Zeiten, sodass ihr Ich in der Mitte gespalten ist. Mit zunehmender Tendenz, wieder ins Vordemokratische zu regredieren. Grund: auch Amerika, seit Kriegsende das große Vorbild der Deutschen, fällt in vordemokratische Zeiten zurück.

Um diesen Prozess zu stoppen, müssten die Deutschen nicht nur sich, sondern vor allem ihre mächtigen Befreier kritisieren. Tun sie das nicht? Woher kommt der Eindruck, sie seien Antiamerikaner?

Emotional sind sie wahrlich amerikakritisch bis amerikaallergisch. Doch offiziell kriegen sie das Maul nicht auf. Die Äußerungen der Eliten sind devot-amerikafreundlich. Sie begründen es mit der Rationalisierung, Deutschland sei abhängig von der überlegenen Wirtschaftskraft und dem militärischen Schutz Washingtons.

Selbst im Fall der schändlichen Überwachung unserer Kanzlerin durch die NSA gab es weder Aufschrei noch Widerstand. Würde Obama heute vor dem Brandenburger Tor erneut eine charismatische Rede halten, wäre der Beifall nicht geringer als vor Jahren, da er als strahlender Jung-Siegfried die Welt erlösen wollte.

Die Deutschen sind ein fleißiges und bemühtes, aber kein mutiges und aufrechtes Volk. Weder vor ihrer Religion, noch vor ihren Befreiern, noch vor Israel, ihren historischen Opfern, weder vor der Wahrheit, noch vor den ökologischen und wirtschaftlichen Problemen der Welt. Sie lesen ihre Gazetten mit den Hiobsbotschaften – und grummeln in sich hinein.

Wie gespalten sie ihre heilige Schrift anbeten und ablehnen, so gespalten traktieren sie die Natur. Ab Spinoza und Galileo rückte die Natur immer mehr an die Stelle der Heiligen Schrift. Gott schrieb, so Galileo, seine Botschaft nicht nur in der Bibel, sondern in der Natur mit mathematischen Symbolen.

Um die unverfälschte Wahrheit Gottes zu erkennen, müsste der Mensch die Natur mathematisch lesen und erkennen. Nicht anders, als der fromme Mensch die Bibel lesen muss, um den Willen Gottes zu erforschen.

Jetzt das Problem: was, wenn der kritisch gewordene Mensch (in der Aufklärung) sich nicht mehr der Wahrheit Gottes bedingungslos ausliefern will?

Im Falle der Bibel sahen wir, dass der nominelle Text zwar unverändert bleibt, die subjektiven Deutungen aber keine Grenzen kennen. Einerseits bleibt der Mensch sklavisch an den Urtext gebunden, andererseits verändert er ihn hermeneutisch ins Bodenlose.

Ersetzen wir Schrift durch Natur, erhalten wir die Erkenntnistheorie Kants. Nach Kant ist Natur, das „Ding an sich“, unerkennbar. Wir erkennen nur, was wir selber in sie hineindeuten. Der menschliche Verstand erkennt nur, was er in seinem Entwurf selbst hervorbringt.

Übersetzen wir diesen Satz in hermeneutische Begriffe, kommen wir zum obigen Ergebnis: Der Bibelleser erkennt nur das in der Schrift, was er in eigenem Entwurf in die Schrift hineinprojiziert.

Der romantische Theologe Friedrich Schleiermacher hat als erster dieses „hermeneutische Prinzip“ auf den Begriff gebracht. Ohne es zu bemerken, hat er die kantische Erkenntnistheorie als Vorlage benutzt.

Kant verbindet die beiden Seiten „Gehorsam gegen die objektive Natur“ und „subjektives Erkennen“ zur fragwürdigen Einheit. Einerseits bleibt der Naturwissenschaftler in seinem Erkenntniswillen absolut von der Natur abhängig. Natur bleibt die unhinterfragbare Quelle aller wissenschaftlichen Erkenntnisse. Andererseits wird sie als unerkennbares Ding an sich aus dem Verkehr gezogen. Der Mensch erkennt nur, was er selbst in die Natur hineingedeutet hat.

Der Mensch erkennt, wenn er die Natur erkennt, nur sich selbst. Naturerkenntnis ist Selbsterkenntnis. Bei Schleiermacher nicht anders: Schrifterkenntnis ist keine Gotteserkenntnis – Gott bleibt als „Ding an sich“ unerkennbar –, Schrifterkenntnis ist Selbsterkenntnis des Menschen. Mit anderen Worten: was der Mensch an sich selbst erkennt, will er als Erkenntnis Gottes präsentieren.

Bei Fichte vollends wird das menschliche Ich zur göttlichen Instanz, die alles beliebig setzen und verwerfen kann. Was auch immer er erkennt, er erkennt nur seine eigenen Machenschaften. Jedwede objektive Natur verschwindet im Nebel des Unerkennbaren. Übrig bleibt das unendliche subjektive Ich.

Der Deutsche wird zum Master of Universe, lange vor den Zockern der Wallstreet. Es waren die Schergen des Nationalsozialismus, die dieses omnipotente Machtgefühl in Politik übersetzten. Das deutsche Ich macht aus der Welt, was immer es will. Es beherrscht die – an sich unerkennbare – Realität mit seinem allmächtigen Willen.

Wie die Theologen jeden Text gottgleich in ihrem Sinne deuten, verdrehen und manipulieren, so die Naturwissenschaftler die Natur, die sie nach Belieben ausbeuten und beherrschen.

Hier enden die Ähnlichkeiten zwischen Schrift und Natur. Die Schrift bietet der allmächtigen Deutungswillkür des Menschen keinen Widerstand – Papier ist unendlich geduldig. Doch die Natur lässt sich nur bis zu einem gewissen Grad für menschliche Zwecke einspannen. Ihre Geduld mit dem Menschen, der sie besonders gut verstehen will, sie aber nur besonders infam drangsaliert, scheint allmählich zu Ende zu gehen.

Der Mensch wird lernen müssen, auf die wahre Stimme der Natur zu hören. Oder es wird ihm Hören und Sehen vergehen.