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Natur und Freiheit

Hello, Freunde des Gärens,

unterdrückte Völker begehren auf, freie Völker fallen zurück. Der arabische Frühling ist nicht gescheitert, er hat einen Etappensieg errungen. Was auf dem Tahrirplatz in Kairo geschah, hat sich ins nationale Bewusstsein und Unbewusste des Volkes eingegraben. Die nächste Revolte wird weiter kommen, der Gang in die Freiheit ist lang, mühsam und beschwerlich. Sollten Deutsche das nicht besonders gut wissen?

Auch die Französische Revolution brachte nicht das Paradies nach Europa, sondern den Code Napoleon mit der Emanzipation vieler Klassen, aber nicht aller: die Gleichberechtigung der Frau war nicht dabei. Napoleon brachte Fortschritt und Despotie. Das brach den jungen Deutschen, die die Revolution begeistert begrüßt hatten, fast das Genick. Aus Franzosenbewunderern wurden Napoleonhasser.

Bis heute haben die Deutschen diesen Schock nicht verkraftet und halten Aufklärung für totalitär. Was sie nicht in perfekter Version auf dem Tablett serviert erhalten, ist für sie Betrug und Rosstäuscherei. Alles oder Nichts: das ist noch immer ihre kindische Verheißungs- und Erfüllungsformel.

Bei ihrem Geschichtsgott, der längst seine Versprechungen hätte einhalten müssen, schauen sie gnädig durch die Finger. Von ihren Mitmenschen aber erwarten sie Alles oder jene werden im Nichts versenkt. Was nicht göttlich ist für sie, ist eine List des Teufels.

Nein, auch ohne Napoleon war die Aufklärung nicht perfekt. Noch in vieler Hinsicht

war sie von Heiligem kontaminiert. Etwa in der Frage der Fortschrittseuphorie durch Technik und Naturwissenschaft.

Was der Mensch in seinem moralischen Tun und Handeln nicht schafft, wird keine intelligente Maschine stellvertretend für ihn schaffen. Das pro-nobis-Prinzip funktioniert weder in der Religion noch in der Politik.

Es gibt keine automatische Heilsgeschichte, die uns auf Adelers Flügeln in den Garten Eden tragen wird. Was wir nicht selber tun, bleibt ewig ungetan. Das ist das Grundgesetz der Menschheit, die sich nur auf sich selbst verlässt und weder auf Erlöser noch auf Maschinenerlöser hoffen kann.

Die Menschheit lernt nicht linear, sondern im Rhythmus der Echternacher Springprozession: drei Schritte vor und zwei zurück.

Hegels dialektische Spirale meint nichts anderes. Der Fortgang der Geschichte besteht nicht aus lockeren Thesen, die widerstandslos durch die Zeiten ins Reich der Freiheit streben. Erst müssen sie den Widerspruch der faktischen Antithesen bestehen, sich mit ihnen auseinandersetzen, sie überzeugen, Kompromisse schließen, neue Anfänge wagen, bis aus These und dem Streit der Antithesen eine – vorübergehende – Synthese werden kann, die als These auf erhöhtem Niveau eine neue Lernepoche der Geschichte einleiten kann.

Die Geschichte der Menschheit ist eine Lerngeschichte. Lernen ist aus der Mode gekommen. Ursprünglich war Lernen fortlaufendes eigenständiges Erkennen. Erkennen der Wahrheit im Modus des Staunens.

Doch wie kann ich erstaunen, wenn ich meine eigene Wahrheit als Konstruktion in die Welt projiziere? Umgekehrt müsste die Welt – sofern es sie gibt – über mich und meinen genialen Konstruktivismus staunen.

Das wird der Wahrheit näher kommen: die Natur – sofern es sie gibt – wird sich über den Menschen, seine genialste und kreativste Erfindung – so glaubt die Erfindung – erheblich wundern. Nein, nicht wundern, denn das hängt mit Wunder zusammen. Sie wird erstaunen, was das geistbegabte Wesen, der Höhepunkt der Evolution, der Mittelpunkt des Seins, Daseins und Soseins an artistischen Kunststücken fertig bringt.

Oh Mutter Natur, warum hast du einen solchen Bettvorleger mit Geist konstruiert, der das Zusammenleben mit Dir so schätzt wie ein Mafiapate die Gegenwart eines Staatsanwalts und alles unternimmt, um Dir mit Lichtgeschwindigkeit zu entkommen? Bist Du wirklich so, wie unser Meisterdichter Dich beschrieben hat:

Auch das Unnatürlichste ist Natur, auch die plumpste Philisterei hat etwas von ihrem Genie. Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte. Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg und schwer, und schüttelt ihn immer wieder auf. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. (Fragment über die Natur von Goethe)

Der Mensch kann so unnatürlich sein wie er will und dennoch bleibt er Natur? Oh Mutter Natur, Du gibst Rätsel auf. Vater Gott hält Dich für teuflisch, grausam, minderwertig – und verführerisch. Teuflisch und grausam ist er selbst, da muss er sich nicht lumpen lassen. Doch verführerisch – nein, das kann er nicht. Er verführt mit dem Dreschflegel, schreckt mit der Hölle und lockt mit jenseitigen Freuden, die er nie einlösen wird.

Sie ist ganz, und doch immer unvollendet.

Ist das nicht frech, Dich unvollendet zu nennen? Kennen wir Besseres? Vater Gott nennt sich vollkommen, ohne rot zu werden. Dabei pfuscht er seine Schöpfung zusammen – alles auf Kosten seiner Kreaturen – dass Gott erbarm. Äh, Natur erbarm.

Oh Mutter Natur, was hältst Du von deinem männlichen Rivalen, der vieles von Dir abgeschaut hat und Dich tatsächlich ersetzen will, obgleich er – noch mehr als Du – in seinen Widersprüchen erstickt, dies aber nicht zugibt und seine Unfähigkeiten seinen Geschöpfen, also uns Menschen, in die Schuhe schiebt?

Ist das nicht unverschämt, wie dieser fremde Onkel mit uns umgehen darf und Du guckst seelenruhig zu? Hast Du diesem hergelaufenen Erbschleicher mal die Meinung gegeigt? Wie bitte, das überlässt Du uns? Du bist mir vielleicht eine treusorgende und gütige Mutter!

Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ihr Verdienst.

Der Johann Wolfgang scheint Dich zu lieben. Aber so ganz überzeugt klingt es dennoch nicht: Du wirst Dein Werk schon nicht hassen. Muss man dies glauben? War Glauben nicht das Alleinstellungsmerkmal Deines männlichen Rivalen, der sich anheischig macht, ein Vater zu sein?

Alles ist Dein Verdienst? Und wo bleibt unser Verdienst? Du sprichst ja schon wie Gott Vater, der auch allen Erfolg für sich reklamiert.

Du hättest uns erschaffen, also seien unsere Fähigkeiten auch Deine? Jetzt redest Du wie unsere irdischen Eltern. Wenn wir Erfolg haben, sind sie stolz wie Oskar, wenn wir Mist bauen, sind wir an allem Oh stopp! Da bist Du anders als Dein lächerlicher Rivale. Alles ist dein Verdienst, alles Deine Schuld.

Da ist Gottvater anders. Alles Gute hat er selbst erschaffen, für alles Schlechte sind wir zuständig. Das ist fies. Aber die Menschen lassen sich‘s gefallen, als ob sie stolz wären, wenn sie alle Schuld auf ihren schwachen Schultern tragen dürften. Und siehe, schon hat‘s Gottvater gemerkt, schon raubt er unsern Sündenstolz und lässt seinen Sohn unsere Schuld auf seinem Buckel davontragen.

Sind wir Menschen denn für gar nichts gut? Nicht mal schuldfähig dürfen wir sein? Sind wir nur eure Marionetten? Doch halt, einen Unterschied erkenne ich: Du spielst zwar gelegentlich Schabernack mit uns, aber Du machst uns nicht klein, Du demütigst uns nicht.

Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.

Langsam versteh ich, was Dich von Deinem Rivalen trennt. Zwar sprichst Du ständig mit uns, doch Deine Geheimnisse verrätst Du uns nicht.

Gottvater aber bindet uns alles auf die Nase und wir müssen glauben. Er spricht von Offenbarung. Wenn wir unseren Kopf nicht beim nächsten Priester an der Garderobe abgeben – macht er uns denselben runter. Bei ihm müssen wir alles nachplappern und in Bausch und Bogen für richtig halten. Wie ist es bei Dir?

Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht.

Jetzt fällt der Groschen. Du willst, dass wir für Dich reden. Wir sollen Dich verstehen lernen und aller Welt mitteilen, wie Du tickst. Kann es sein, oh meine Schöne, dass Du uns verführst – mit Denken? Mit Wahrnehmen, Staunen und Erkennen? Mit Wahrheit? Mit Deiner Wahrheit, an der wir nicht herum gepfuscht haben?

Gottvater überlässt uns nichts, er will alles in allem sein, immer muss er im Mittelpunkt stehen, ohne ihn soll nichts gehen. Unsere Fähigkeiten verhöhnt er, unser Erkennen und Sehen macht er zur Minna. Glauben sollen wir, blind glauben. Ohne zu sehen und zu denken. Lebenslanges Lernen ist Unzucht und Hurerei für ihn. Selbstredend ohne jedes Ergebnis.

Kann es sein, oh Mutter Natur, dass Dein Rivale ein paranoider Profilneurotiker ist, den Du zur Therapie schicken müsstest? Weil er es uns nicht gönnt, Menschen mit Fähigkeiten zu sein?

Da kommt mir die Frage: Kennt Ihr euch eigentlich? Wie kannst Du diesen Autisten ertragen? Oder seid ihr unverträglich, wenn ich eine Vermutung äußern darf?

Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.

Jetzt hab ich‘s: ihr beide seid unverträglich. Du liebst das Leben, und der Tod ist nur Dein Trick, viel Leben zu schaffen. Bei Gottvater umgekehrt: er hasst den Tod und will ihn auslöschen – um das Leben auf Erden zu vertilgen. Stattdessen phantasiert er vom ewigen Leben. Vernichtung des Todes und ewiges Leben haben nur einen Sinn: das natürliche Leben auf Erden zu tilgen.

Das sind Widersprüche, die keine Hegel‘sche Spirale auflösen kann. Also doch wieder ein Entweder–Oder, ein Alles oder Nichts zwischen Dir und Deinem Wettbewerber? Ist das nicht die Vernichtungswaffe Deines Konkurrenten, dass er nur Schwarz oder Weiß malen kann? Dass er alles vernichtet, was seiner Wahrheit widerspricht?

Gemach oh junger Freund, sprach Mutter Natur – nicht. Denn direkt spricht sie nicht mit uns. Sie will, dass wir selber sprechen, selber erkennen. Also müssen wir Ihr unsere Stimme leihen:

Gemach, was ähnlich aussieht, muss es noch lange nicht sein. Es gibt einen klitzekleinen Unterschied zwischen Wahrheit der Natur und Wahrheit eines Gottes, der mehr sein will als Natur. Alle Wahrheiten, die ihm widersprechen, muss er zerstören. Widerworte erträgt er nicht.

Mutter Natur hingegen hat nicht die geringsten Probleme mit Ketzern und Dissidenten. Der Mensch soll die Möglichkeit haben, zu irren und Unfug zu reden. Die Natur vertraut ihren Geschöpfen, dass sie ihre Irrtümer einsehen und die richtigen Konsequenzen ziehen können. Sie weiß, dass der Mensch lernen kann.

Lernfähige Wesen sind in der Lage, ihre Dummheiten und Torheiten selbst zu korrigieren. Dazu brauchen sie keine Offenbarungen. Im Gegenteil. Wer sie mit Gewalt indoktrinieren will, der macht sie erst recht verstockt.

Der Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des Weges wohl bewusst. Nicht immer, nicht sofort, nicht rechtzeitig. Es können schreckliche Irrtümer passieren. Und sie sind passiert.

Und Dennoch und Dennoch. Aus den grauenhaftesten Sackgassen kann der Mensch umkehren. Nicht durch Zwang, sondern durch selbst erworbene Einsicht, die er im Gespräch und Streit mit seinen Mitmenschen gewinnen kann. In Freiheit ist alles möglich. Selbst – das Gute.

In den Völkern gärt es. Gären ist Lernen. Doch bewusstes Lernen will selbst gelernt werden. Das selbstbewusste Lernen, identisch mit Erkennen, wird in demokratischen Wohlstands- und Profitländern verpönt.

Lernen will, dass Einsicht regiert. Der Kapitalismus will, dass Macht regiert. Die Macht des Geldes, der Technik und der Waffen. Im westlichen Kapitalismus ist Lernen zum Indoktrinieren von Machterwerbsmethoden verkommen. Wer will noch Einsicht, wenn er von Kindesbeinen an Macht erwerben muss?

Wissen ist Macht, also muss er sich Wissen eintrichtern, das Macht verspricht. Wissen, das ohne Macht daherkommt, wird im christlichen Westen dämonisiert als irdische Weisheit, die vor Gott eine Torheit ist. Da sie in Schulen und Universitäten gezwungen sind, durch Macht gottähnlich zu werden, müssen sie machtloses Wissen als heidnische Torheit ablehnen.

Wahrheit als Ziel ihres Erkennens müssen sie deshalb verwerfen. Sie könnte dem Imponiergehabe ihres Machtwissens gefährlich werden.

Wahrheit ist subversiv. Viele Regimes haben gelernt, subversive Wahrheit zu zähmen, bevor sie entstehen konnte. Sie müssen nur die Macht der Gottesgelehrten und jene Philosophien schützen, die Wahrheit für gestrig, unbotmäßig und gottlos halten.

Wer lässig viele Wahrheiten predigt, kann sich den Schein toleranter Vielfalt zulegen. Dann bleibt unbemerkt, dass die vielen Wahrheiten sich gegenseitig außer Gefecht setzen und die Wahrheit der herrschenden Mächte ungehindert passieren lassen. Teile und herrsche: das ist der hinterlistige Zweck der unterdrückenden Scheintoleranz.

Die wahre Toleranz beginnt, wenn man alle Wahrheiten überprüft – unter dem Aspekt der Wahrheit. Sollen nur leblose Waren und Dinge miteinander konkurrieren?

Echte Konkurrenz, die uns weiterbringt, ist nicht das laue Nebeneinander von Wahrheiten, die im unüberprüften Zustand verfaulen und die herrschenden Mächte alternativlos anbeten. Sondern jene Wahrheiten, die sich in der Debatte auf der Agora bewähren müssen.

Um diesen einzig sinnvollen Wettbewerb – den Wettbewerb um die Wahrheit – zu verhindern, zwingt der Kapitalismus die Menschen, sich nur noch dem malochenden Überleben und dem gierigen Profit zu widmen. Sie sollen keine Zeit und keine Muße haben, um die Frage zu beanworten: warum gibt es überhaupt Kapitalismus und nicht vielmehr humane Gesellschaften im Frieden der Völker?

In Kiew, Rio, Syrien, in Kairo und Istanbul, in den verseuchten Städten Chinas, unter den Frauen Indiens, in Bangladesh und Somalia, in Detroit und Kuba, überall, wo Menschen von Freiheit in einem sicheren und gleichberechtigten Leben träumen, da gärt die Selbstbestimmung der Völker und Menschen.

In Deutschland verflucht Götz Aly das Selbstbestimmungsrecht der Völker, es sei vergiftet und könne nur Unheil anrichten. Völker bestehen aus Individuen. Wer das Selbstbestimmungsrecht der Völker verwirft, verwirft das Selbstbestimmungsrecht der Einzelnen. Er dementiert alle Grundrechte der Demokratie und fällt in gottgewolltes Obrigkeitsdenken zurück.

Wenn nicht die Völker selbst, wer soll dann über sie bestimmen? Ein Historikerausschuss unter der Leitung Götz Alys?

Ja, es gibt Hass zwischen den Völkern. Doch woher kommt er? Daher, dass die Völker selbst über sich bestimmen konnten oder daher, dass sie durch Machtsprüche von oben zusammengepfercht oder auseinandergerissen wurden?

Ja, der Hass zeigt sich erst in vollem Ausmaß, wenn freie Verhältnisse errungen wurden. In unfreien Regimes herrscht politische Über-Ich-Zensur, die alles Unbotmäßige mit Gewalt unterdrückt. Erst im Frühling, wenn Schnee und Eis getaut ist, kann man sehen, welche Blumen blühen und welche Müllhalden ans Licht kommen.

Freiheit ist wie Frühling. Freiheit will gelernt sein. Doch Freiheit kann man nur in Freiheit lernen. Hass kann nur bewältigt werden, wenn er eine Chance erhalten hat, sich unzensiert zu zeigen. Das kann hart werden. Deshalb ist Revolution nicht alles. Doch ohne Revolution ist alles nichts.

Es gibt Hoffnung. In den Völkern der Erde gärt es. Despotische und ausbeutende Verhältnisse ertragen die Menschen nicht mehr.

Ihre Erhebungen, Revolten und Widerstände sind Lernübungen in Freiheit.