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Tagesmail

Arbeit und Liebe

Hello, Freunde der Arbeit,

eines fernen Tages wird die Menschheit sich an die Epoche des Kapitalismus zurück erinnern und nicht mehr verstehen, was ihre Vorfahren bewog, sich eine unüberbietbar ungerechte und selbstzerstörerische Wirtschaftsform zuzulegen.

„Etwas ist faul im Kapitalismus,“ überschreibt der SPIEGEL die Besprechung des kritischen Buches eines Franzosen über eine Ökonomie, in der alles ins Unendliche auseinanderdriftet.

Etwas? Eine Kleinigkeit? Geht’s noch harmloser und niedlicher? Auf welche Verteilungsrate zwischen Habenden und Nichtshabenden warten die Klugen und Weisen noch, bis sie dem ganzen Spektakel den Stecker rausziehen? Das Bild von der steigenden Flut, auf der das kleinste Boot im selben Maße steigt wie die Luxusyacht, ist eine Farce.

Die Springflut kommt von oben, versenkt die Kleinen und lässt immer weniger Große übrig, bis am erwartbaren Ende – Noah mit Namen Bill Gates, Warren Buffett, Carlos Slim, Abramowitsch oder Wang Jianlin einsam und allein auf der Plastikflut herumdümpelt.

Hollywood hat mit seinem Noah-Film die nächste Zukunft präpariert. Die Mehrheit der Weltbevölkerung soll davon überzeugt werden, dass es mit rechten Dingen zugeht, wenn sie von der Weltbühne abtritt und nur Erwählte das Land Kanaan betreten. Eintritt für 99,9% der massa perditionis verboten: steht am Eingangsschild zum Schlaraffenland.

Jeder Zeitungsleser weiß, dass die Kluft zwischen Oben und Unten in

schöner Regelmäßigkeit größer wird. Wie gut, dass Ökonomieprofessoren auch die Gazetten lesen und schlauer werden. Unter ihnen der Franzose Thomas Piketty, der das ganze globale Elend mit Zahlen unterfüttert.

1978 verdiente der Durchschnittsamerikaner 48 000 Dollar, heute nur noch 33 000 Dollar. Der Reiche hingegen verdiente früher 390 000 Dollar, heute hingegen 1,1 Millionen. „Die 400 reichsten Amerikaner besitzen so viel wie die 150 Millionen Bürger ganz unten zusammen“. (SPIEGEL Online)

Lässt sich etwas ändern? Kleinigkeiten nützen nichts, so Piketty:

„Effektiv seien nur radikale Maßnahmen: erstens eine Vermögensteuer, die bei einem Vermögen von 200.000 Euro mit einem Prozent jährlich beginnt, bei mehr als eine Million Euro auf zwei Prozent steigt und bei Milliardenvermögen auch bis zu zehn Prozent betragen kann. Zweitens eine Einkommensteuer von bis zu 80 Prozent für Spitzenverdiener. Das klingt schockierend, doch in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg lag dort der höchste Steuersatz nie unter 70 Prozent.“

Doch ein Zahlenfeuerwerk genügt auch nicht. Zahlen überzeugen nur, wenn sie mit Gedanken unterfüttert sind. Die Menschen werden sich nur ändern, wenn sie die Änderung als gerecht betrachten.

Der Frage nach der Gerechtigkeit gehen Ökonomen, Politiker und Medien aus dem Weg. Platon suchte den gerechten Staat und fand – den Urfaschismus. Also hinweg mit dem gerechten Staat, so die Logik der Oberschlauen.

Wie wär‘s mit der Forderung: weg mit der teuren Krebsforschung, bis heute hat sie nichts gebracht? Weg mit dem sicheren Auto, noch immer gibt’s Verkehrstote? Weg mit der Hilfe für unterentwickelte Länder, noch immer verrecken Arme und Schwache? Platons Forderung nach einem gerechten Staat war notwendig, seine Lösung des Problems war falsch.

Sagt irgendjemand: Schluss mit dem Christentum, es propagiert die gerechte Stadt, die Gerechtigkeit Gottes? „Wir haben hier keine bleibende Stadt, die zukünftige suchen wir“. Das war die Antwort der Urchristen auf das gescheiterte Projekt des Heiden Platon.

Was Menschen ersinnen und erbauen, ist Schrott. Gott selbst muss die vollkommene Polis bauen, wenn es mit der gerechten Utopie was werden soll. „Daher schämt sich Gott nicht, ihr Gott genannt zu werden, denn er hat ihnen eine Stadt bereitet.“ Gottes perfekte Stadt im Jenseits gegen die perfekte Menschenstadt im Diesseits.

Doch beide Modelle waren faschistisch, denn beide waren Zwangsbeglückungen. Bei Platon herrschten die perfekten Weisen, im Hebräerbrief gebietet der allmächtige Schöpfer. Platon war nicht nur Rivale, er war auch heidnischer Vorläufer der christlichen Theokratie, die man himmlischen Superfaschismus nennen könnte.

Ohne das Ziel zu debattieren und festzulegen, werden wir den rechten Kurs nie herausfinden. Wir brauchen eine Utopie, auf die wir uns einigen können. Ohne klares Ziel kein klarer Kurs. Das Karussellprinzip: unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts, wird uns demnächst in ein Delirium tremens stürzen, aber kein Argument liefern, wie viele Steuern wir den Milliardären abknöpfen müssen, um eine gerechte und stabile Demokratie zu erhalten.

Diese wäre eine Demokratie von Dauer – und schon ist sie begraben. Denn Dauerhaftes gestattet eine Zeit nicht, die sich täglich neu erfinden und alles Sinnvolle und Bewährte als Altes begraben muss.

Der Begriff Dauer ist so negativ besetzt, dass selbst die Ökologen sich nicht trauen, von dauerhaften Verhältnissen in der Natur zu reden. Stattdessen schwiemeln sie von ökonomischer Nachhaltigkeit. Wie lang darf die Nachhaltigkeit dauern, bis der Furor der Erneuerung sie wegfegen kann, um dem neuesten Harakiri Platz zu schaffen?

Warum sind die Grünen so platt wie alle Parteien? Warum ist die ökologische Bewegung so gut wie nichtexistent? Weil sie von des Gedankens Blässe ereilt wurden. Sie müsste den Bedingungen stabiler Gesellschaften in einer dauerhaft verlässlichen Natur nachdenken. Darf sie aber nicht. Zeitgeist hat was dagegen. Welcher Zeitgeist? Die neuzeitliche Philosophie der Zeit oder der Geschichte, die nichts mehr hasst als die Dauer.

Dauer ist der Kern der griechischen Naturphilosophie. Der Kosmos ist von ewiger Schönheit und Dauer. Die christliche Theologie verwarf die heidnische Anbetung einer verlässlichen Natur. An ihre Stelle setzte sie die sich unablässig verändernde Heilsgeschichte. Zwar ist auch der Schöpfer von Ewigkeit zu Ewigkeit, aber nicht seine minderwertige Natur. Bei den Griechen gab‘s keinen Schöpfer, nur der Kosmos war von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Welche Philosophie wird der Natur gerecht? Diese Frage müsste eine Ökologie beantworten, die ihrem Namen gerecht werden will. Will sie eine ewige Gegenwart (nunc stans) der Natur, kann sie mit der schnell fließenden und alle Stabilitäten vernichtenden Heilsgeschichte nicht zurecht kommen, deren Ziel fest liegt: die alte Natur wird vernichtet, eine neue himmlische wird von oben erwartet.

Die deutschen Christen leben in theologischer Demenz, die amerikanischen Wiedergeborenen sind auf Kriegsfuß mit der deutschen Ökologie, die sie als heidnische Vermessenheit betrachten. Genau genommen ist es eine heidnische Wahrheit unter falschem Christen-Etikett.

Halten wir fest:

a) Wir brauchen eine finale Utopie im Einklang mit der Natur. Natur ist von Dauer, also muss Utopie von Dauer sein. Mit christlicher Heilsgeschichte werden wir keinen Einklang mit der Natur schaffen, die vernichtet werden muss, um eine neue göttliche Natur zu schaffen.

b) Eine menschliche Utopie ist kein Himmel, den wir auf die Erde holen – um eine Hölle einzurichten. Das befürchtete Popper, der sich unter Utopie nur eine totalitäre Zwangsbeglückung vorstellen konnte. Eine rationale Utopie wird nicht mit einem Donnerschlag und wie aus einem Guss herbeigezaubert.

Popper weist selbst den Weg, wenn er von Stückwerktechnologie spricht. Die menschliche Entwicklung ist ein Lernprozess in unendlich vielen Etappen, in Fortschritt und Regression, in Versuch und Irrtum. Was aber nicht bedeuten muss, dass wir uns ewig im Kreis drehen müssen.

Nur mit der Vorstellung eines stabilen Ziels, einer dauerhaften Utopie, werden wir den Kapitalismus in die Knie zwingen. Alle Änderungsvorschläge bleiben beliebig, wenn wir sie nicht an unserer gerechten Wunschgesellschaft messen können.

Die Frage: Sind wir auf dem richtigen Weg? können wir nur beantworten, wenn der Weg in ein rationales Ziel mündet. Nur unter dem Kriterium eines klaren Ziels, nur unter dem Kriterium einer Norm können wir den jetzigen Stand der Dinge beurteilen. Das Ist kann nur vom Soll bewertet werden.

Für Thomas Steinfeld ist Pikettys Buch viel Empirie zu einem illusionären Zweck. Es genügt, Utopie auszurufen und schon ist alles vom Tisch.

Bei technischen Utopien wie den exterrestrischen Google-Phantasien fühlt Steinberg sich nicht genötigt, sein Anathema zu sprechen. Technische Utopien sind atemberaubend und konjunkturfördernd, moralische Utopien sind Blendwerke von gestern.

„Pikettys Utopie indessen ist auch ein Urteil über das „Kapital im 21. Jahrhundert“. Denn was ist von so viel Empirie zu halten, wenn die Konsequenz daraus nur ein wenig Empörung ist – und ein Vorschlag, über dessen illusionären Charakter man sich sofort einigen kann?“ (Thomas Steinfeld in Süddeutsche.de)

Was ist gerecht? Den Verfechtern der jetzigen Kluft-Wirtschaft ist gerecht, was der Evolution, dem Überleben der Stärksten, dem Gesetz der Natur entspricht. Hätte es sich durchsetzen können, wenn es nicht dem Willen der Natur entspräche?

Auch Marxens Gerechtigkeit war die Folge eines Naturgesetzes. Von Gerechtigkeit im Namen autonomer Moral wollte Marx nichts wissen. Moral ohne Absegnung durch Geschichte hielt er für utopisch. Formell ist seine Gerechtigkeit dieselbe wie die der heutigen Neoliberalen. Nur der Ablauf seiner Geschichte war anders.

c) Wir müssen Moral als unsere Einsicht definieren. Nicht als Gehorsam gegen über-menschliche Instanzen. Lernen kann man aus allem. Doch was wir als Erkenntnis übernehmen, bestimmen wir selber.

Im Einklang mit der Natur leben, ist kein Diktat der Natur, sondern unsere Erkenntnis – durch Betrachtung der Natur gewonnen. Würden wir befolgen, was nicht durch unseren Kopf gegangen ist, würden wir nur einer fremden Offenbarung folgen.

Gerechte Demokratie ist eine Gesellschaft, in der alle Mitglieder das Recht einer gleichen Grundakzeptanz besitzen – unabhängig von auferlegten Bedingungen, elitär definierten Leistungen, wirtschaftlichem Erfolg, technischer und sonstiger Brillanz. Die Würde des Menschen muss nicht verdient werden. In einer gerechten Gesellschaft verlieren selbst Verbrecher nicht ihre Würde.

Um die Würde jedes Menschen zu erhalten, bedarf es bestimmter Bedingungen. Die Machtunterschiede zwischen den BürgerInnen dürfen ein bestimmtes Maß nicht überschreiten. Geldverhältnisse sind Machtverhältnisse.

Wenn die Reichen sich in geschlossenen Inseln der Seligkeit absondern, um mit Armen keine Berührung zu haben, dann ist die Würde der Ausgeschlossenen gefährdet.

Wenn die Armen materiell so benachteiligt sind, dass sie am Leben der Gemeinschaft nicht mehr teilnehmen können, sind sie stigmatisiert.

Es müssen Grenzwerte des Reichseins definiert werden, die nicht überschritten werden dürfen. Die Kluftbildung würde sich sonst ins Unendliche fortsetzen. Das Volk muss entscheiden, wie vielmal reicher der reichste Mensch im Verhältnis zum ärmsten sein darf. Wie viel der Ärmste zur Verfügung haben muss, um gleichberechtigt am Leben der Gesellschaft teilzunehmen.

Das Volk muss über die Höhe des Mindeststandards eines Lebens bestimmen, keine abgehobenen Bürokraten, die ihre Straf- oder Verachtungsbedürfnisse ausagieren. Das Volk muss entscheiden, wie hoch das größte Vermögen der Reichen sein darf, ohne dass der Reichtum als illegitime Macht eingesetzt werden kann.

Je akzeptierter die Menschen sind, je freudiger sind sie bereit, der Gesellschaft zurückzugeben, was sie von ihr erhalten. Träge und faule Menschen gibt es nicht, nur durch Verachtung gezeichnete, die kein Selbstbewusstsein mehr haben, um ihre Fähigkeiten zu entwickeln und zum Wohlgefühl der Gesellschaft beizutragen.

Dem notwendigen BGE entspricht das MHE, das maximale Höchsteinkommen. Das eine darf nie unter-, das andere nie überschritten werden. Die Vermögen dürfen nicht in den Himmel wachsen, sowenig, wie die Armen im Elend versinken dürfen. 100%ig muss weggesteuert werden, was die Maximalgrenzen des zulässigen Reichtums überschreitet, andernfalls wäre die Gefahr der grenzenlosen Kluftbildung nicht gebannt.

Wenn Menschen sich in gleichem Maße angenommen fühlen, werden sie keine Probleme haben, ihr Eigentum zum Wohle aller einzusetzen.

d) Die Würde des demokratischen Menschen muss von christlicher Arbeitspflicht gelöst werden. „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“, ist das paulinische Todesurteil über alle Menschen, die nicht malochen wollen.

Anerkannte Menschen sind immer bereit, ihren Teil zum Erhalt der Gesellschaft beizutragen. Dazu müssen sie nicht erpresst oder gezwungen werden. Es ist ihnen ein Herzensbedürfnis, sich nützlich zu machen. Scharfe Gebote sind Misstrauenserklärungen, die am ehesten dazu führen, dass die Verachteten sich an der Gesellschaft rächen und sich auf ihre Kosten durchschlagen.

Unbeschädigte Menschen sind leistungswillig und arbeitsfreudig. Erst durch Androhen von entwürdigenden Sanktionen werden sie zu Leistungsverweigerern, die aus Rache die Gesellschaft schädigen.

Was für den „unteren Rand“ der Gesellschaft gilt, gilt auch für den „oberen Rand“. Wer sich himmelweit über seine Zeitgenossen erhebt, fühlt sich nicht mehr als gleichberechtigter Bürger. Er erhebt sich zum Erwählten, der immer mehr Privilegien für sich reklamiert. Unterschiede in Macht und Besitz dürfen ein festgelegtes Maximum nicht überschreiten, wenn jeder Demokrat sich in jedem wieder erkennen will.

e) Arbeit darf keine Strafe sein, sonst wird sie zum würdelosen Malochen. In christlichen Gesellschaften ist Arbeit eine lebenslange Strafe als Folge der angeborenen Sünde. Dieser Strafcharakter der Arbeit verseucht die ganze Gesellschaft und raubt den Menschen die Freude an ihrer Tätigkeit.

Überfordert- und Ausgebranntsein sind nicht nur die Folgen übermäßiger Anforderungen profitgieriger Ausbeuter. Sie sind auch das Ergebnis des penetranten Gefühls, für Dinge bestraft zu werden, die nur in der defekten Phantasie der Priester und Propheten stattgefunden haben.

Über kapitalistischen Gesellschaften liegt die Stimmung verdrängter Unlust und resignativer Freudlosigkeit. Der Sinn rationaler Arbeit ist Überleben und heitere Lebenskunst. Nicht die zwanghafte Ansammlung überflüssiger Dinge, die nichts zum Glück der Menschen beitragen, nur Natur und Umwelt schädigen können.

f) Was ist der „Endzweck der Jagd nach Reichtum, Macht und Vorrang“ – wie der schottische Urahn des rationalen Kapitalismus, Adam Smith, formulierte? „Ist es der, den natürlichen Bedürfnissen Genüge zu tun?“ Nein, antwortet er sich. Der Lohn des geringsten Arbeiters reiche aus, um jene zu befriedigen.

Was also ist der Zweck des ganzen Hastens, Mühens und Raffens? „Dass man uns bemerkt, dass man auf uns Acht hat, dass man von uns Kenntnis nimmt, das sind alle Vorteile, die wir daraus zu gewinnen hoffen dürfen. Es ist die Eitelkeit, nicht das Wohlbefinden oder das Vergnügen, was uns daran anzieht.“

Hier irrt der stoische Philosoph. Das Bedürfnis nach Sympathie, Akzeptanz und Wohlwollen ist keine Eitelkeit. Sondern das Grundbedürfnis aller Menschen, von ihren Mitmenschen geschätzt, ja geliebt zu werden.

Da wir unfähig sind, diese Urbedürfnisse zu äußern und bei anderen zu befriedigen, sind wir gezwungen, mächtig und reich zu werden, um sie den anderen abzutrotzen und abzunötigen.

Wäre es nicht sinnvoller, den defekten Umweg zu lassen, die schädliche Nötigung zu verschmähen und unsere Bedürfnisse direkt zu äußern? Indem wir uns frei und wohlwollend als wertvolle und liebenswerte Menschen anerkennen?

Sollte die Analyse zutreffen, wäre der Kapitalismus ein gigantisches Täuschungsunternehmen, das uns verheimlichen soll, wie liebesbedürftig und liebesunfähig wir im Grunde sind.