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Natur brüllt! XL

Tagesmail vom 11.12.2023

Natur brüllt! XL,

Solange es solche Menschen gibt, wird die Welt nicht untergehen:

„Die Iranerin Narges Mohammadi ist mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Stellvertretend für die 51-Jährige, die in ihrer Heimat in Haft sitzt, nahmen ihre Kinder Kiana und Ali Rahmani die Auszeichnung im Rathaus von Oslo entgegen. Die 17-jährigen Zwillinge verlasen die Rede ihrer Mutter, die diese im Gefängnis verfasst hatte. Für Mohammadi stand symbolisch ein leerer Stuhl auf der Bühne.“ (Tagesschau.de)

Solange Menschenrechte gelten, auch wenn sie von allen Seiten angegriffen werden, wird der Mensch eine Chance haben, auf Erden zu existieren – sofern auch die Natur mitmacht.

„75 Jahre ist es her, da proklamierte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in San Francisco mit 48 Ja-Stimmen, darunter die USA und China, und acht Enthaltungen, darunter die Sowjetunion, die Allgemeine Erklärung. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Willkürherrschaft und deren vollkommener Entrechtung wurde ein Programm formuliert, dessen wichtigster Artikel 1 lautet: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren«. Sogar in Deutschland oder in Europa ist es keine Selbstverständlichkeit, dass diese Rechte verwirklicht werden. Und an vielen Orten der Welt würde es eine geradezu revolutionäre Verbesserung der Situation Einzelner bedeuten. Viele der sozialen Krisen und Ungleichheiten von heute sind auch darauf zurückzuführen, dass der liberale Westen seine ökonomischen und politischen Freiheitsideen immer auch als einen Freifahrtschein für Vorherrschaft und Ausbeutung verstand.“ (SPIEGEL.de)

Für den Neoliberalismus ist Freiheit die ungezügelte Möglichkeit der Starken, über die Schwachen hinwegzubrettern.

Für WELT-Schreiber ist Freiheit jede Möglichkeit, moralische Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft zu ignorieren. Wer Menschheitsverbrechen begangen hat, setzt an die Stelle der Menschenrechte Auschwitz, um seine früheren Opfer von allen Verpflichtungen freizusprechen.

Nur endlose Schuld berechtigt die Täter, die Opfer der Taten von aller Schuld freizusprechen.

„Die Grausamkeit des Staates Israel gegenüber den Palästinensern widerspricht dem Gebot der Thora, alle Geschöpfe gerecht und barmherzig zu behandeln.“ (Im Namen der Thora von Yakov Rabkin)

Der WELT-Herausgeber Mathias Döpfner widerspricht nicht nur seiner eigenen lässigen Rede von der Neutralität seines Blattes gegen alle Seiten, nicht nur dem Motto: audiatur et altera pars, sondern der universellen Bedeutung der UN-Charta für alle Menschen.

Die Charta gilt für alle Menschen. Nur nicht für die Zionisten in Israel, die a priori keine Schuld haben können:

„Ich wollte es nicht für möglich halten, dass der UN-Generalsekretär Antonio Guterres öffentlich erklärt, dass der Terror-Krieg der Hamas nicht „im luftleeren Raum stattfand“. Und der ehemalige Ministerialdirektor der Abteilung für Außenpolitik des Kanzleramtes von Angela Merkel und seit kurzem Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz Christoph Heusgen sich dem öffentlich anschließt. Was im Klartext heißt: Die Juden müssen sich nicht wundern, wenn sie abgeschlachtet werden. Oder noch klarer: Sie sind selbst dran schuld.“ (WELT.de)

Alle Menschenrechtsverletzungen der Israelis werden von Döpfner mit Hinweis auf die Shoa stillschweigend begraben.

Die Rechtfertigung ihrer Sünden allein durch die Tatsache, Opfer der Deutschen gewesen zu sein, kommentiert Jeshajahu Leibowitz:

„Die Shoa ist ein Werkzeug, das häufig verwendet wird. Ein Zyniker könnte behaupten, dass sie eines der nützlichsten Mittel zur Manipulation der Öffentlichkeit ist, insbesondere der jüdischen, und zwar in Israel wie auch außerhalb.“ (ebenda)

In Israel gibt es Zionisten und Charedim, deren Moralen sich zueinander verhalten wie Heidentum und Thoragläubige.

„Der Zionismus verherrlicht das Ideal von Stärke und Heidentum, während die Charedim dies nicht teilen, sondern überhaupt nicht wahrnehmen.“ (ebenda)

Was muss das für ein Ethos der Netanjahu-Regierung sein, die aus Zionisten und Gläubigen besteht? Was ist ein Kompromiss aus militanter Wut und dem Motto: wen Gott liebt, den straft er?

In Deutschland will man nichts von internen Problemen des Staates Israel wissen. Die Erben der Täter haben sich auf eine neue Religion geeinigt: die Religion des Holocaust. Wer zu den Opfern gehörte, darf alles. Einmal Opfer, immer Opfer.

„Unser Leid hat uns eine Art moralischen Ablass erteilt oder eine moralische carte blanche ausgestellt. Nach all dem, was uns diese schmutzigen Gojim angetan haben, darf uns keiner von Ihnen Moral predigen. Wir aber dürfen alles, weil wir die Opfer waren, und weil wir so viel gelitten haben. Einmal Opfer, immer Opfer – und ein Opfer hat natürlich Anspruch auf moralische Indulgenz.“ (Amos Oz)

Das hat Auswirkungen auf die Politik des jungen Staates, der im Konfliktfall immer Recht hat.

„Der Staat Israel schlägt auf vielfältige Weise Kapital aus dem Gedenken an die Shoa. Jahrzehntelang bezogen sich israelische Diplomaten auf den Genozid an den Juden Europas, um jede Kritik an einem Staat zurückzuweisen, der ihrer Meinung nach kollektiver Erbe der sechs Millionen Opfer geworden war. Aber dieses Verfahren verliert nach und nach seine Wirkung. Immer häufiger äußert sich Unmut, dass Israel dieses starke Argument missbraucht.“ (ebenda)

Ist Israel heute in der Welt gefährdet? Ja, aber durch eigene Schuld, meinen jüdische Kritiker des Volkes. Denn der schlimmste Hass zwischen Zionisten und Gläubigen wütet im Lande selbst.

„Nirgends fürchtet und hasst man die Charedim so sehr wie in Israel. Israel ist eine Festung des klassischen Antisemitismus, der sich nicht gegen alle Juden wendet, sondern gegen die ultra-orthodoxen, die „zu jüdischen“ Juden.“ (Efron, 1991)

Schon im Jahr 1994 schrieb Leibowitz:

„Ich glaube nicht, dass der Antisemitismus heute ein wirksamer Faktor in der Welt ist. Anti-jüdische Stimmungen sind auch heute in der christlichen Welt verbreitet, aber Chinesen und Inder haben davon nichts gehört, das sind mehr als zwei Milliarden Menschen. Aber auch in der westlichen Welt heute kommt der anti-jüdischen Stimmung keine gesellschaftliche oder politische Bedeutung zu.“ (Gespräche über Gott und die Welt)

Wie soll sich binnen weniger Jahre ein Antisemitismus in den Völkern entwickelt haben, der in Europa Tausende von Jahren benötigte, um konfliktfähig zu werden? Nein, es handelt sich um Abneigung gegen Israelis, die eine unmenschliche Politik betreiben. Um einen hasserfüllten Affekt gegen den gesamten Westen, den der Nichtwesten in Israel verkörpert sieht.

Nein, Israel ist das Vorzeigegeschöpf des Westens, der ihm viele Sünden vergibt, die er in seinen früheren kolonialen Zeiten selbst begangen hat.

Da aber die weltpolitische Lage mittlerweilen höchst brisant geworden ist, wird Israel besonders scharf unter die Lupe genommen. Natürlich war der Hamas-Terror unverzeihlich, aber war er – angesichts der jahrzehntelangen Unterdrückungspolitik der Israelis – nicht als Rache verstehbar?

In Deutschland wird das ganze Thema auf den Terrorakt des Hamas reduziert. Der mache es doch überaus verständlich, dass Israel in blinder Wut zurückschlage. Vielleicht mehr aus gekränkter Eitelkeit, denn aus bloßer Rache. Ausgerechnet einer führenden KI-Nation sei es nicht gelungen, solch einen primitiven Überraschungsschlag abzuwehren?

Selbst die militantesten Israelis geben inzwischen zu, dass sie möglicherweise an Wachsamkeit nachgelassen haben. Sind sie – ohne sich es bewusst zu machen – dem Ratschlag der Frömmsten gefolgt, das neue Land nicht mehr zu verteidigen, sondern in Ergebenheit ihrem Gott zu überlassen?

„Die Vorstellung, wir könnten alles machen, was wir wollen, jeder Versuchung nachgeben oder jeder dummen Selbstverherrlichung frönen, ohne Strafe zu fürchten, vorgeblich deshalb, weil wir eine privilegierte Beziehung zu Gott haben, diese Vorstellung steht in absolutem Widerspruch zum religiösen Glauben. Tatsächlich aber ist es Lästerung Gottes, dessen Macht, den Gang der Geschichte zu lenken, wir usurpieren. … In Wirklichkeit ist solcher blinde Glaube nicht Glaube an Gott, sondern Glaube an uns selbst.“ (Sober)

Diese Warnung richtet sich gegen die immer stärker werdende Tendenz, Gott zu militärische Zwecken zu „rekrutieren“.

Döpfner giftet gegen den „luftleeren Raum“, den es nicht gegeben habe und den Guterres als Grund der Rache der Hamas nennt.

Da hätte Döpfner mal Ruth Blau lesen müssen – die alles vorausgesehen hat:

„Hätten die Zionisten nur ein Gramm gesunden Menschenverstand, würden sie den arabischen Staaten anbieten, eine Konföderation zu gründen, die auch die Palästinenser mit einbezieht, wodurch diese ihre Rechte zurückerhielten. … Der Hass der Araber wird immer stärker werden, sie wollen Vergeltung. Und die Zionisten haben sich jetzt Hunderttausende Feinde innerhalb ihrer Grenzen gemacht. Fortan schweben wir alle, die wir hier leben, in großer Gefahr.“

Es kann keine Rede davon sein, dass plötzlich eine riesige Antisemitismus-Welle die Völker überschwemmt. Die meisten wissen gar nicht, was Juden sind, geschweige dass sie wüssten, woher die uralten Probleme zwischen Christen und Juden kommen.

Die Völker sehen nur, dass da im Nahen Osten ein junges Volk von jenen schrecklich überfallen wurde, die sie seit Jahrzehnten unterdrücken – ohne geringste Hoffnung auf Freiheit.

Sie sehen, dass die fürchterliche Rache eine Gegenrache ausgelöst hat – und nun wird endlos gestritten, welcher Racheakt schlimmer ist.

In Deutschland gilt jeder als Antisemit, der den Hamas-Akt nicht für wesentlich schlimmer hält als die vielen Opfer des israelischen Rachefeldzugs.

Israel ist gefährdet. Nicht durch den angeborenen Hass der anderen, sondern durch eigene Schuld: durch eigene, unbewältigte Konflikte zwischen weltlichen Zionisten und frommen Gläubigen.

Deshalb müssen die Deutschen verständnisvoll und kritisch sein. Ein echter Freundschaftsdienst ist nie blind oder liebedienerisch, sondern realitätsgerecht und dennoch aufbauend: durch Zumutung der subjektiven Wahrheit, die im Dialog um Objektivität kämpft.

Juden und Christen glauben angeblich beide an die Bibel – selbst wenn das Alte Testament für Christen nicht ganz so heilig ist – ausgenommen bei den Calvinisten.

Dort, im Alten Testament, könnten sie in den Sprüchen der Väter lesen:

„Besser ein Langmütiger als ein Kriegsheld, besser, wer sich selbst beherrscht, als wer Städte erobert.“ (Sprüche 16, 32)

Fortsetzung folgt.