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Natur brüllt! XXXVIII,

Tagesmail vom 04.12.2023

Natur brüllt! XXXVIII,

„In den letzten fast 60 Jahren hat uns die ganze Welt erlaubt, die Palästinenser zu unterdrücken und ihnen ihre Rechte als Menschen und Bürger zu verwehren. Das macht die Idee von einem jüdischen und demokratischen Israel sehr, sehr schwer.“ (SPIEGEL.de)

Was Tom Segev in einem SPIEGEL-Interview formuliert, dürfte kein Deutscher im Straßenkampf wiederholen – wenn er nicht von der Polizei belästigt werden will.

Ohne den Namen des UNO-Generalsekretärs zu nennen, erklärt Segev den Sinn des abstrakten Guterres-Satzes von der Mitschuld Israels:

„Guterres sagte aber auch, die Angriffe der radikalislamischen Palästinenserorganisation seien „nicht im luftleeren Raum erfolgt“. Die Palästinenser würden seit 56 Jahren unter „erstickender Besatzung“ leiden.“ (Tagesschau.de)

Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz gab Guterres völlig recht:

„Guterres ist ein sehr besonnener Mann«, sagte er am Dienstagabend im »heute-journal«. »Wenn er auf die (…) 56 Jahre Besatzung der Palästinensergebiete hinweist, dann ist (das) genau das, was in geltendem Völkerrecht in Uno-Resolutionen genauso drinsteht. Die letzte Resolution sagt, dass die Besatzung eine flagrante Verletzung des Völkerrechts ist.« (SPIEGEL.de)

BILD und die heftigsten Verteidiger der israelischen Unfehlbarkeit hingegen hätten die Vertreter des Völkerrechts am liebsten auf den Mond geschossen.

Ohnehin fällt der universale Begriff Völker- und Menschenrecht kein einziges Mal in der innerdeutschen Debatte. Spätestens unter Kanzlerin Merkel wird in Deutschland nicht mehr zwischen universaler und nationaler Politethik unterschieden. Was egoistischen Interessen dient, ist heilig und unfehlbar.

Versteht sich, dass auch im Gespräch mit Segev der Interviewer mit keinem Wörtchen nach dem Widerspruch zwischen UNO-Politik und Nationalstaat-Politik fragt. Zuviel der Klarheit für deutsche Edelschreiber.

Das war die Reaktion der Israelis und ihrer menschenrechtsblinden deutschen Verbündeten:

„Noch am Dienstag forderte Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gilad Erdan, Guterres zum Rücktritt auf. Dessen Aussage sei eine »reine Blutverleumdung«, sagte Erdan in New York. Das Leid der israelischen Zivilbevölkerung sei dem Uno-Chef egal. »Ich denke, dass der Generalsekretär zurücktreten muss«, sagte Erdan.“

Schlimm der Hamas-Terror, verhängnisvoller aber die deutsche Bewertung aller Taten, die die UN-Charta als Maßstab allen Rechts ablehnt.

An dieser Stelle müsste die Frage beantwortet werden, ob Deutschland aus seiner Nachkriegsgeschichte gelernt hat. Im Punkt der obersten Verbindlichkeit allen internationalen Rechts, als Recht für alle und als Unrecht für alle: auf keinen Fall. Eine Schande für Deutschland und Israel.

Sein Urverbrechen an den Juden hat Deutschland zu einem religiösen Ereignis verformt, das mit nichts auf der Welt verglichen werden darf. Doch der Übergang zur Charta-Norm erfolgt nur auf dem Papier. Alles andere wird bis heute als verantwortungsloses Moralisieren verhöhnt.

Weder Juden noch Deutsche haben die rettende Universalität der UNO-Charta verstanden. Beide Staaten, einst Opfer und Täter, sind zurückgefallen in eine nationale Anbetung ihrer eigenen Macht und Selbstherrlichkeit.

Die Täter haben sich geschworen, die politischen Fehler ihrer Opfer niemals der Kritik zu unterziehen. Das nennen sie die Einhaltung der Doktrin „Nie wieder“.

Hier stehen beide Nationen und die Welt fragt immer dringlicher: Und nun, wie soll’s weitergehen? Wie soll der Krieg beendet werden?

Tom Segev verurteilt die Politik seiner Heimat aufs schärfste:

„Das war Netanyahus Idee: Dass man Frieden mit der arabischen Welt schließen kann, ohne Frieden mit den Palästinensern zu machen. Wir können jetzt nach Dubai fahren, wow! Auch bei den Demonstrationen gegen die Justizreform wurde kein einziges Wort über die Palästinenser gesagt. Weil man fürchtete, dass es bei diesem Thema keine Einigkeit gibt. Also hat man es weggelassen. Eine richtige Linke, die sich für Frieden mit den Palästinensern einsetzt, gibt es gar nicht mehr. Und gleichzeitig war noch nie in der Geschichte Israels eine so rechtsradikale, rassistische und antidemokratische Regierung im Amt wie jetzt.“

Wer in Deutschland die Schuld beider Länder gegeneinander hält – ohne sie für identisch zu halten, gilt als Antisemit. Die Zahl israelischer Unrechtstaten an Palästinensern über Jahrzehnte hinweg übersteigt die Zahl der Hamas-Untaten beträchtlich. Quantitative Vergleiche auf der Basis der Gleichheit sind deshalb verboten. Nur die Grausamkeit der Taten soll affektiv bewertet werden. Die sind schreckenerregend genug. Doch wenn sie benutzt werden, um die alleinige Schuld der einen Seite und die alleinige Unschuld der anderen zu beweisen, liegt die Welt des Rechts in Trümmern.

Wie immer es jetzt weitergeht, wenn dieses Urproblem der Täter und Opfer ungelöst bleibt: es kann nur noch das internationale Chaos folgen.

Wie kommt es, dass Segev auf seiner Reise durch Deutschland nie antisemitisch behelligt wurde?

„SPIEGEL: Sie haben eine enge Beziehung zum Land Ihrer Eltern und sind gerade von einer Lesereise aus Deutschland zurückgekehrt, wo Sie Ihr aktuelles Buch … vorgestellt haben. Wie haben Sie die Stimmung wahrgenommen?

Segev: Ich habe dauernd wirklich sehr, sehr viele Worte des Mitgefühls und der Solidarität mit Israel gehört. Mir gegenüber hat sich niemand antisemitisch oder allzu israelkritisch geäußert. Obwohl es das sicher gibt. Der Antisemitismus in Deutschland braucht keine israelische Ausrede.“

Hier entlarvt sich die angebliche Antisemitismus-Schwemme in Deutschland in hohem Grade als affektive Reaktion der meisten Deutschen auf die israelische Unrechtspolitik. Wetten, dass die Welle im Moment des Friedensschlusses der beiden Staaten abrupt zurückgehen wird?

These: nicht nur in Deutschland, auch sonst in der Welt besteht der höchste Anteil des internationalen Antisemitismus aus Protest gegen die Unrechtspolitik Israels: gegen die Unterdrückung jenes arabischen Volkes, dessen Land sich die Zionisten als Revier ihres neuen Staates einverleibt haben.

Jahrhundertelang hatten Juden in den Maghrebstaaten völlig friedlich mit Muslimen zusammen gelebt. Als ihnen am Anfang der Neuzeit in Spanien verboten wurde, ihre Religion auszuüben, flohen viele in osmanische Länder, wo sie zwar nicht gleichberechtigt, aber unbehelligt ihr Leben verbringen konnten.

Bis zu jenem Einschnitt der Geschichte, als ein neuer scharfer Geist die Regie in Europa übernahm, hatten alle drei Religionen keinerlei Probleme miteinander. Im Gegenteil. Ihre Zusammenarbeit in akademischen Übersetzungen von Aristoteles ins Arabische und von dort ins Lateinische war in jeder Hinsicht vorbildlich.

Erlösungsreligionen haben schreckliche Seiten. In Zeiten, in denen diese dominieren, gibt’s Mord und Totschlag. Doch das ist nur die eine Seite. Die andere ist, bei allen drei Religionen, die beachtenswerte, allmähliche Verwandlung heiliger Verfluchungen in die aufkommende griechische Ethik.

In allen drei Religionen gibt es zwei Gruppen: die Selbstdenker und die buchstabengetreuen Theokraten.

Moses Mendelssohns und Hermann Cohens Ableitungen ihrer kantischen Ethik aus dem Alten Testament muss man nicht übernehmen, aber großartig sind sie dennoch. Gewiss haben sie noch beträchtliche Mängel, denn wer sich auf die Bibel beruft, kann mit Leichtigkeit auch eine konträre Botschaft ableiten. Vernunft entsteht nicht durch Gehorsam gegen Gottes Diktat, Vernunft beruht auf irdischer Autonomie.

Auch heute noch gibt es in jeder Erlösungsreligion mordgierige Theokraten. Fundamentalisten des Bible Belt stürzten den amerikanischen Nachkriegsfrieden um und schalteten zurück in eine Konkurrenz mit Feuer und Flammen gegen alle „Nichtgläubige“.

Was die meisten nicht wissen, auch gar nicht wissen sollen: jede Erlöserreligion hat zwei inkompatible Seiten, die nach Belieben aktiviert werden können: a) Militante Bekämpfung oder Vernichtung der Gegner, um die eigne Unfehlbarkeit zu beweisen oder b) mit „Liebe deinen Nächsten“ Andersgläubige für sich zu gewinnen.

Nehmen wir den christlichen Glauben. Die eine Seite klingt wie ein Liebesangebot an die ganze Welt:

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen.[5] 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,[6] 45 auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? 48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

Die andere Seite aber ist ein ewiger Fluch:

„Als der König eintrat, um sich die Gäste anzusehen, bemerkte er unter ihnen einen Menschen, der kein Hochzeitsgewand anhatte. 12 Er sagte zu ihm: Freund, wie bist du hier ohne Hochzeitsgewand hereingekommen? Der aber blieb stumm. 13 Da befahl der König seinen Dienern: Bindet ihm Hände und Füße und werft ihn hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein. 14 Denn viele sind gerufen, wenige aber auserwählt.“

Beide Seiten sind unverträglich. Sie sind ein Mischprodukt aus jenen Zeiten, in denen die Völker des Vorderen Orients ihre uralte Rachemoral ablegen wollten, um sich mit dem neuen hellenischen Kosmopolitismus zu humanisieren.

Predigt eine Moral zwei gegensätzliche Seiten, die unverträglich sind, ist sie – im kantischen Sinn – keine aufgeklärte oder humanistische Moral. Ein wahrhaft gütiger Gott kann seinen Schafen nicht nach Belieben Verträglichkeit oder Totschlag verordnen.

Gott ist kein Logiker, sondern ein unberechenbarer – Trump. Oder umgekehrt: Trump spielt einen unberechenbaren Gott, dem alles erlaubt und nichts verboten ist. Das zieht jene Christen an, die es satt haben, ein braves und zuverlässiges Leben zu führen und daher immer ungeduldiger einen Messias erwarten, der sich über alle Grenzen hinwegsetzt, die Welt schreddert und alles von neuem beginnen lässt.

Das ist die Stimmung unserer Gegenwart, die eigentlich genau weiß – oder wissen könnte – was sie tun müsste, um Klima und Natur zu retten. Doch nein, sie hat die Schnauze voll von allem Moralisieren und Predigen. Jetzt will sie es wissen und sich an die Spitze der Welt setzen. Komm Herr, ach komme bald.

Schon Hegel hatte die Figur des „Kammerdieners der Moral“ abschreckend geschildert.

„Das Prinzip der Moral bei den Griechen wurde der Anfang des Verderbens, in Athen als offener Leichtsinn, in Sparta als Privatverderben. … Es fehlt das sich selbst Erfassen des Gedankens, die Unendlichkeit des Selbstbewusstseins, dass, was mir als Recht und Sittlichkeit gelten soll, sich in mir, aus dem Zeugnis meines Geistes, bestätigte.“ (Bd 12, S. 323)

Mit schlichten Worten: die Deutschen stehen im Schlamm gepredigter Moral bis zum Hals. Aber es ist nicht ihr selbstverfertigter Schlamm. Es ist das Abfallprodukt jahrhundertelanger Predigten, die sie nie kapiert haben. Weshalb sie ständig schwanken zwischen süßlicher Nächstenliebe und erbarmungsloser Mordlust.

Das westliche Abendland ist ausgedörrt von unendlichen Wortkaskaden – wechselnd aus guten und bösen Vorschriften und Zwangserziehungen. Alle sind sie Möchtegern-Trumps, antinomische Jünger eines unberechenbaren Willkürgottes. In einem Akt sind sie Prediger der bigotten Moral, die die Gefolgsleute dieser maßlosen Zweideutigkeiten am liebsten in den Abgrund der Heuchler stürzen würden..

Trump, vielleicht der nächste Präsident der USA, wird sich als finaler Messias präsentieren: aus der Pfalz auf die Erde gekommen zu richten die Lebendigen und die Toten. ER ist Inbegriff der freien Moral, der Heros deutscher Freiheitschaoten namens Döpfner und Poschardt, die ihren Lesern, beibringen wollen, was echte, hemmungslose Freiheit ist.

Längst haben die Deutschen ihre Kostümmoral abgelegt und sich in das wirklich Wahre und Gute gestürzt: in das Paradies käuflicher und wiederverkäuflicher Dinge, die sie im Modus digitalen Befehlens durch die Welt hetzen.

Ihr göttliches Motto: alles ist käuflich, austauschbar und grenzenlos. So frei wie ihr Peter Thiel und ihr Elon Musk, die sie jetzt schon auf dem Mars tanzen sehen.

Netanjahu weiß, was als Nächstes geschehen wird. Mit wildgewordener Energie wird er seine vorletzten Feinde töten. Dann erst wird der Letzte Tag der Heilszeit anbrechen.

„Die Vereinigten Staaten sind inzwischen dabei, eine Nation von Fanatikern zu werden, die mit der Bibel zuschlagen und buchstäblich bereit sind, überall in der Welt im Krieg gegen „Ungläubige für Christus zu töten.“ Ein solcher Krieg könnte auch gegen „ungläubige, islamische Terroristen“ im grenzenlosen „Krieg gegen den Terror“ des amerikanischen Präsidenten geführt werden.“

Was dann? Dann das selige Ende für die Gläubigen und das Gegenteil für die Verfluchten:

„Diese Endzeit wird die Erde zerstören, aber die wahren Gläubigen werden in heiliger Verzückung plötzlich in den Himmel geholt und von den üblen Aspekten des (nuklearen) Holocaust verschont bleiben.“

Herr, komm, ach komme bald!

Fortsetzung folgt.