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Natur brüllt! XXXVII

Tagesmail vom 01.12.2023

Natur brüllt! XXXVII,

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus
Deutschland.“ (Celan)

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ (Adorno)

War Paul Celan aus Czernowitz ein Antisemit, weil er ein Gedicht über das deutsche Menschheitsverbrechen schrieb?

Gedichte und Verbrechen entziehen sich dem irdischen Verstehen? Der Herr der Rüden „schenkt uns ein Grab in der Luft“?

Gibt es überhaupt ein Verstehen zwischen Deutschen und Juden? Oder offenbart der Terrorismus das Ende der deutsch-jüdischen Aussöhnung – mit vulgären Worten?

Ist es etwa das, was Eva Illouz meinte, als sie schrieb?

„Die Konfrontation zwischen Israel und der Hamas hat einen Prozess ans Licht gebracht, der sich in den letzten Jahrzehnten im Verborgenen vollzogen hat: Unsere Gedankenwelt hat sich eingetrübt, unsere analytischen und moralischen Kategorien wurden verwirrt und vernebelt. Immer häufiger verweisen die Worte auf ihr Gegenteil, etwa wenn die grausamen Massaker vom 7. Oktober als Akte der Gerechtigkeit und der Befreiung gefeiert wurden. Dunkle Zeiten, so sagte Hannah Arendt, sind Zeiten, in denen unsere Theorien das Reale nicht mehr beschreiben oder erklären können. Psychoanalytiker oder Dichter leben von dieser Ent-artikulation von Worten und Wirklichkeit. Aber wir übrigen haben mit etwas zu kämpfen, das man nur als epistemologische Krankheit bezeichnen kann: mit der Schwierigkeit, die Welt zu verstehen, weil unsere Worte ins Gegenteil verkehrt oder von der Realität abgekoppelt erscheinen.“ (der-Freitag.de)

Opfer und Täter: sprechen sie überhaupt dieselbe Sprache? Oder öffnet sich gerade der Abgrund zwischen beiden – und wir erkennen, dass wir nichts erkennen?

Der Alltag planiert die Unterschiede. Wenn das Wesentliche erscheint, stehen wir – und gucken in die Luft.

Kam ein Hund daher gerannt;
Hännslein blickte unverwandt
In die Luft.
Niemand ruft:
„Hanns! gib acht, der Hund ist nah!“
Was geschah?
Pauz! Perdauz! — da liegen zwei!
Hund und Hännschen nebenbei.

Sind wir Luftikusse? Realitätsverächter? Wirklichkeits-Erblindete? Müssen wir nach Oben schauen, um das Unten zu erblicken?

Warum verstehen wir uns nicht: wir Juden und Deutsche?

Hören wir uns mal um:

„Zentral für die Wahrnehmung der Juden in der westlichen (und christlichen) Welt ist die Vorstellung, es gebe einen angeborenen Unterschied, der sich in der „jüdischen“ Art des Umgangs mit Sprache zeige, sei es die jeweilige Landessprache, sei es die Sprache der Religion und des Ritus. Die Sprache der Juden wird dabei als verdorben betrachtet, als eine Sprache, die alles „zersetze“, womit sie in Kontakt kommt. Das gilt von frühchristlicher Zeit an bis heute. Die frühen Christen sahen in der Weigerung der Juden, Jesus als den Messias anzuerkennen und sich zum Christentum zu bekehren, einen Beweis für ihre „Minderwertigkeit“. Diese „Blindheit“ und „Starrköpfigkeit“ waren die psychologischen Mängel, die Juden in ihren Augen von vorneherein davon ausschlossen, jemals wirklich „zivilisierte“ Mitglieder der westlichen Gesellschaft zu werden. Die Sprache der Juden ent-hülle oder ver-hülle ihr korruptes Wesen. In dieser Tradition gelten Juden grundsätzlich als unfähig, irgendeine „westliche“, eine Kultursprache wirklich zu beherrschen. Der „Jude ist nicht unseres Blutes“, wie sich Erzbischof Frings von Köln ausdrückte. Die Sprache der Juden ist für andere das Spiegelbild ihrer Verderbtheit und der Verderbtheit ihres Diskurses.“ (Sander L. Gilman, Jüdischer Selbsthass)

Ist „Mauscheln“ unverträglich mit der hohen Sprache Goethes und Schillers? Waren die ersten gleichberechtigten Juden deshalb so vernarrt in Schillers betörende Verse:

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder! über’m Sternenzelt
muß ein lieber Vater wohnen.

Haben wir denn einen gemeinsamen Vater? Oder sind wir nur stolz, unseren eigenen zu besitzen – der andere Vätergötter hasst?

Wie ist es möglich, derselben Heiligen Familie zu entstammen, und dennoch nichts miteinander anfangen zu können? Kain und Abel? Na klar!

Doch geht mir weg mit diesen uralten Sprüchen:

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Doch dies sollte man tun und jenes nicht lassen. 24 Ihr blinden Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt! 25 Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier! 26 Du blinder Pharisäer, reinige zuerst das Innere des Bechers, damit auch das Äußere rein werde! 27 Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr seid wie die übertünchten Gräber, die von außen hübsch scheinen, aber innen sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat.“

Übertünchte Gräber gegen wiedergeborene Menschen? Wie sollen diese fremdgewordenen Geschwister einander verstehen? Sind Jesu Nachfolger den Gesetzestreuen wirklich überlegen?

Wer kann den religiösen Wirrwarr der Jahrhunderte entziffern? Er versteht nicht mal die Sprache seiner eigenen Religion! Wie könnte es gemeinsame Synoden geben, auf denen Priester und Schriftgelehrte sich miteinander streiten?

Die Juden hegten die Hoffnung, die Deutschen würden, nach dem Hamas-Attentat, ihre nationalen Schmerzen verstehen. Doch nichts geschah! Und wenn doch, waren es obrigkeitliche Veranstaltungen. Da war kein Herz, kein Mitgefühl zu spüren.

Und die Deutschen? Haben bis heute nicht verstanden, warum die hier lebenden Juden ausgerechnet von ihnen, den Abgefallenen, Empathie erwarten.

Ja, geht es denn um religiöse Differenzen? Um strittige Schriftauslegungen? Geht es nicht um reale Politik? Ja, um Weltpolitik? Geht es noch immer um Streitigkeiten zwischen Mose, Jesus und Mohammed?

Die ARD weiß es. Ihr Magazin „Kontraste“ brachte einen Film über BILDs besten Netanjahu-Interpreten mit Namen Ronzheimer. Der erhielt als einziger Deutscher ein umfassendes Interview, in welchem der Premierminister die Lage erläuterte:

„Es gab eine Entnazifizierung, die Kultur hat sich verändert. Deutschland ist ein völlig anderes Land als in den 1930er Jahren. Wie wurde das erreicht? Dies wurde durch den totalen militärischen Sieg und die Veränderung der Kultur, der Bildung und des Lernens über die Fehler der Vergangenheit erreicht. —- Unser Ziel ist es sicherzustellen, dass Gaza nicht zu der schrecklichen Bedrohung wird, die es für Israel vor dem Krieg darstellte. Das muss getan werden. Ich hoffe, dass wir es so schnell wie möglich schaffen können, aber wir werden weiterhin die vorrangige militärische Verantwortung tragen, denn sonst sehen wir niemanden, der es tun wird, der die Terroristen bekämpfen wird, die nach der Zerstörung der Hamas weitermachen wollen.“
Gaza war vorher „eine schreckliche Bedrohung. Wir haben die vorrangige militärische Verantwortung“. (BILD.de)

Habermas, der vorsichtige Denker, steht absolut auf der Seite der „Opfer“. Doch der israelische Rachefeldzug muss verhältnismäßig bleiben, erläuterte der weltbekannte Philosoph, der vor Jahren mit dem ganzen Thema nichts zu tun haben wollte.

Na klar, nickte Netanjahu: wir wollen Hamas lediglich vernichten. Eine totale, aber verhältnismäßige Vernichtung: welche Sprache schreit hier gen Himmel?

Was ist das Ziel des schrecklichen Krieges – so wurde dieser Tage immer intensiver gefragt. Na was wohl? Die totale Auslöschung des widerlichen Feindes, so die Antwort. Noch immer hält der Westen Netanjahu für einen verhältnismäßig-humanen Staatsmann, der nicht mit blinder Empörung zuschlägt.

Doch was, wenn der Westen sich irrt – weil er die Sprache des Heiligen Landes nicht verstanden hat?

Den raffinierten Unterschied zwischen der Sprache der Christen und der der Juden, den muss man verstanden haben. Die jüdische Geschichtssprache ist noch immer dieselbe wie früher. Wer die Bibel liest, weiß, was die Juden erwarten: das Ende der Zeiten mit dem Kommen des Herrn.

Die Christen kennen auch die Sprache der kommenden Zeit. Aber das Apokalyptische haben sie verwandelt, säkularisiert in die Sprache des Fortschritts. Dadurch können sie sich über den wahren Gehalt der Zukunft selbst hinters Licht führen. Ist das Hoffen auf die empathische KI kein Hoffen auf Erlösung?

Den wahren Gehalt der letzten Tage der Heilszeit kann sich der Westen verhehlen. Er wartet auf den Sieg Musks über das Universum, nicht auf die Wiederkunft des Herrn. Kurz: die Juden sprechen noch immer biblisch, die Christen aber können sich vorspiegeln, weltlich geworden zu sein und den theologischen Sinn des Fortschritts abgestreift zu haben.

Netanjahu will nicht nur am technischen Fortschritt teilhaben, sondern auch am Ziel der globalen Welteroberung. Solange Hamas der schlimmste Feind bleibt, muss die Terrorgruppe mit allen Mitteln beseitigt werden – oder? Hier kann es keine friedensstiftenden Kompromisse geben – oder?

Die finale Zeit der Christen ist identisch mit dem unbekannten Ziel des phantastischen Fortschritts.

Kurz nach dem Krieg waren es die Hippies, die den Sinn ihres Lebens noch – in Indien suchten. Bald hatten sie die Meditationen der Baghwans satt und sie kehrten zurück ins Fortschrittsdenken ihrer genialen Maschinen, die sie weiter entwickeln wollten. „America first“ wurde zur Formel ihres technischen und militärischen Vorsprungs in der Welt.

Deutschland hinkt in allen Disziplinen hinterher. Bislang begnügten sie sich mit wirtschaftlicher Opulenz. Jetzt müssen sie die KI als Überholung der menschlichen Gattung ins Visier nehmen. Das fällt ihnen schwer, denn es widerstrebt ihrer Resthumanität, in welcher die Spitze der Entwicklung der Mensch bleiben muss.

Vom Hamas-Konflikt fühlen sich die Deutschen genervt. Sie hätten gern gute Beziehungen zu Israel und den Nachbarstaaten. Dass der Holocaust immer wieder zur unterwürfigen Dankbarkeit gegen Juden dienen muss, verstehen sie nicht. Was sie nicht verstehen, kompensieren sie mit hohlen Staatsparaden.

Ihre Politiker verstummen immer mehr, ihre Ziele verschwinden im Nebel. Den Unterschied zwischen Heilszeit und Weltzeit kennen sie nicht. Zukunft hat nichts Verlockendes für sie. Was bleibt ihnen? Die ziellose Hetze.

Ohne apokalyptische Zeiterwartungen, die wie selbsterfüllende Motivationen wirken, hätten wir Stillstand. Mit ihnen erwarten wir einen neuen Himmel und eine neue Erde. Am Ende werden wir gottgleich sein – oder verrucht wie der dämonische Teufel.

„Am Ende wird Christus mit großer Macht herabsteigen, feuriger Glanz geht vor ihm her und eine unzählbare Schar von Engeln. Die Menge der Gottlosen wird ausgetilgt, in Strömen fließt das Blut. Da steigt von Gott Regen der Segnung herab am Morgen und am Abend. Alle Frucht erzeugt die Erde ohne Mühe der Menschen. Honig träufelt von den Felsen, Quellen von Milch und Honig brechen hervor. Die Tiere der Wälder legen ihre Wildheit ab, allen verschafft Gott reichliche und schuldlose Nahrung.“ (Norman Cohn, Die Sehnsucht nach dem Millennium)

Die israelischen Theokraten eilen energisch dem Sieg über alle Völker im Goldenen Jerusalem entgegen. Stumm schwanken die Deutschen hinterdrein. Ihre Heilszeit mit dem erschienenen Herrn haben sie schon hinter sich gebracht. Was soll jetzt noch kommen?

Fortsetzung folgt.