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Natur brüllt! XXXIII

Tagesmail vom 17.11.2023

Natur brüllt! XXXIII,

Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – dann steht die Finsternis vor der Tür.

Nein, wir sind nicht dazu verurteilt, dem Tumult zu folgen. Heribert Prantl scheint der Einzige zu sein, der die Menschenrechte kennt. Ansonsten gibt es niemanden mehr, der den Rechten für alle Menschen – wenn auch unter Leid und Tränen – das Loblied singt.

„Die Grundregel und Grundlage dieser Weltordnung war und ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Der Respekt vor ihr zeigte sich bisher auch darin, dass Menschenrechtsverletzer ihre Untaten leugneten, versteckten und verheimlichten oder, zumindest nachträglich, bereuten. Das ist vorbei. Die Klandestinität der Verletzung von Menschenrechten wird abgelöst von ihrer demonstrativen, hemmungslosen Missachtung, von offener Brutalität.“ (Sueddeutsche.de)

Das Böse ist zur Staatsraison geworden. Hemmungslos wiehern die Mächtigen über die Guten, die der Spur der Humanität folgen: hemmungs- und skrupellos und vor aller Welt.

Hat die Hamas sich an die Menschenrechte gehalten? Sind es die Israelis, die dem Kurs der Humanität folgen, seitdem sie die Hamas zurück schlagen? Oder etwa die Deutschen, die die Israelis kritiklos unterstützen – und ihre Parteinahme „bedingungslose Staatsraison“ nennen?

Niemand war es – außer einigen Privatpersonen, die der Stimme ihrer empathischen Vernunft folgten und die Mächtigen links liegen ließen.

Niemand war es, weder die bösen Araber noch die Lieblinge des Westens.

Deutschland, wie immer, auf der Seite des unfehlbaren Westens – und den Nachkommen der Opfer ihrer Väter. Schuld verjährt nicht für die Verehrer Jesu, dessen stellvertretende Schuld die Geschicke der Menschen dominiert. Wer einmal schuldig wurde und nicht die Knie beugte vor dem Gottessohn, der ist schuldig für immer.

Haben die Deutschen kein Grundgesetz, die nationale Fassung der universalen Menschenrechte?

Warum sind sie nicht in der Lage, beiden Seiten den Spiegel der UN-Charta vorzuhalten? Sind sie zu feige, ihren Freunden die Wahrheit der Menschenrechte ins Gesicht zu sagen? So, wie ihre Freunde es umgekehrt mit ihnen machen müssten?

Ist Freundschaft keine Begegnung der Menschenliebhaber, die wissen, dass nur Wahrheit ihnen ein fröhliches Leben bieten kann?

Was davon erleben wir im deutsch-israelischen Verhältnis? Das Gegenteil von allem.

„Israel ist eine Demokratie“, erklärte der deutsche Kanzler mit grimmiger Miene – um fortzufahren: wie könnte eine Demokratie Menschenrechtsverletzungen begehen? Ja, ist denn Demokratie eine stets reine und schuldlose Form des Zusammenlebens?

Und ein solcher Lügenkurs gegenüber Israel ist die absolute Staatsraison der Deutschen? Ist Staatsraison als Vernunft des Staates immer schuldlos?

Staatsraison ist ein Kompromiss aus Gott und Teufel.

„Nur zu viele Dinge gibt es, in denen Gott und Teufel zusammengewachsen sind. Zu ihnen gehört, wie Boccalini zuerst gesehen hat, die Staatsraison. Rätselhaft, führerisch und verführerisch schaut sie, seitdem sie den Menschen zu Beginn der neueren Geschichte zum Bewusstsein gekommen ist, ins Leben. Dem handelnden Staatsmanne aber darf sie nur zurufen, dass er Staat und Gott zugleich im Herzen tragen müsse, um den Dämon, den er doch nicht ganz abschütteln kann, nicht übermächtig werden zu lassen.“ (Meinecke, Die Idee der Staatsraison)

Woher kam die Staatsraison, das ewige Schwanken zwischen Gut und Böse?

In der Antike gab es das Naturrecht der Starken und das Naturrecht der Schwachen. Kompromisse überflüssig. Die Starken kannten kein Mitleid mit ihren Gegnern, die Schwachen glaubten an das Gute und erfanden die Menschenrechte. Götter über den Menschen gab es nicht.

Erst das christliche Abendland hatte Gott über die Welt gesetzt, dem beide Naturrechte Rechenschaft ablegen mussten.

Bis ans Ende der Welt liegen beide Reiche miteinander im Clinch und müssen sich mit Kompromissen zufrieden geben. Kein Fürst und sei er noch so böse, durfte hemmungslos den Feind zertrümmern. Immer musste er Gut und Böse in eine akzeptable Mischung bringen. Erst am Ende der Zeit, wenn der Herr kommt, wird dieses Durcheinander aufhören und für klare Verhältnisse sorgen. Am Beginn der Neuzeit geschah es plötzlich:

„Die mitleidlose Staatsraison der antiken Freistaaten schien wieder aufzuleben, und die die bloße Existenz eines einmal gefährlich gewesenen Gegners nicht ertragen konnte und in seiner völligen Vernichtung ihre höchste Aufgabe sah.“ (ebenda)

Die europäischen Staaten lernten Krieg führen, ohne sich vollständig zu eliminieren.. Weshalb sie alle bis heute existieren. Selbst die Bösesten aller Bösen, die Deutschen, wurden zwar grausam bestraft, aber nicht völlig ausgelöscht. Ewiger Kompromiss wurde zur heiligen Staatsraison.

Das Fehlen der Staatsraison war für Meinecke der Grund, warum viele antike Kleinstaaten zugrunde gingen. Doch er übersah, dass Alexander, der Begründer des hellenischen Weltreiches, nur erfolgreich war, weil die Idee des Kosmopolitismus, die Alexander in Athen gelernt hatte, die Völker in hohem Maße überzeugte.

Erst der überlegenen Macht der Römer gelang es, fast das ganze hellenische Weltreich zu erobern, um selbst ein Weltreich auf der Grundlage des stoischen Humanismus zu errichten.

Das römische Reich gäbe es noch heute, wenn es nicht aus inneren Gründen verfault wäre (vor allem wegen Machtmissbrauch eines gewissenlosen Kapitalismus). Erst den anstürmenden „Barbaren“ gelang es, die Grenzen zu zertrümmern und ganz Europa bis Nordafrika neu zu gestalten.

Machiavelli war kein Tugendbold, aber ein nüchterner Analytiker der Macht. Diese konnte nicht walten wie ein Teufel, aber auch nicht wie ein friedlicher Vater im Himmel, um das Terrain des Staates zu bewahren. Das war die Geburtsstunde der Staatsraison: so viel Machterweis, wie nötig, so viel obrigkeitliche Tugend, wie möglich.

Ab jetzt konnten die Nationen aufeinander eindreschen, ohne den Verlust ihrer Existenz befürchten zu müssen. Verlor ein Staat ein wichtiges Scharmützel, konnte er damit rechnen, dass es eine Revanche geben wird. Das waren die unterhaltsamen Kriegsspiele der Europäer, die erst im Westfälischen Frieden gestoppt wurden. Freilich, nur auf dem Papier.

Erst seitdem Frieden und Menschenrechte in der UNO-Charta für alle Völker dieser Erde verbindlich gemacht wurden, begann die große Friedenszeit, in der wir deutschen Nachkriegskinder sorglos aufwachsen konnten.

Da weder Merkel noch Scholz die bedingungslose Loyalität definierten, kann jeder seine eigene Definition einbringen. Deutsche definieren nicht gerne, sie schwadronieren lieber. Ganz im romantischen Sinn, um die Pedanterie der Aufklärung zu brechen. „Das liest sich wie …“

Merkel genügte es stets, gute Vorsätze mit ihren Projekten zu verbinden, das genügte. Wurde sie deshalb kritisiert, hatte sie ihre perfekten Verteidigungssätze: Ich habe mein Bestes getan. Das muss genügen.

Doch nicht von allen wird Merkels gespielte Einfalt gut geheißen. Ausländer schauen gelegentlich schärfer hin:

„Dieses Buch klärt die weit verbreitete Verwechslung von Juden und Israel auf. In beispielhafter Weise brachte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel diese Verwechslung in einer Rede vor dem israelischen Parlament zum Ausdruck: „Deutschland und Israel sind und bleiben durch die Erinnerung in besonderer Weise verbunden.“ (Rabkin, Im Namen der Thora)

Ihre Verteidigung ist rein subjektiv und kann deshalb nicht mehr angegriffen werden. Wenn Israelis angegriffen werden, können sie mit Amos Oz zurückschießen:

„Unser Leid hat eine Art moralischen Ablass erteilt oder eine moralische carte blanche ausgestellt. Nach all dem, was uns diese schmutzigen Gojim (Nicht-Juden) angetan haben, darf uns keiner von ihnen Moral predigen. Wir aber dürfen alles, weil wir so viel gelitten haben. Einmal Opfer, immer Opfer – und ein Opfer hat natürlich Anspruch auf moralische Indulgenz.“

Israel ist ein Sonderfall der westlichen Staatsentwicklung. Als ganz junger Staat muss er im Eilverfahren durchmachen, was die anderen Europäer in vielen 100en Jahren durcharbeiten mussten.

Verglichen mit dem Westen, der schon viele Klärungsprozesse mühsam hinter sich brachte, ähnelt Israel einer nervös brodelnden Küche. Alles, was sich bei ihnen in vielen Jahren ansammelte, ist ins Land eingesickert, manchmal mit Wohlwollen gegen die neue Heimat, manchmal in heftiger Ablehnung.

Vor allem geht es um den Grundsatzstreit zwischen ungläubigen Zionisten und ultrafrommen Gruppierungen – die sich auch noch untereinander streiten. Diese Streitigkeiten können ans Eingemachte gehen:

„Die Feindseligkeit ist ganz und gar nicht neu. Nirgends fürchtet und hasst man die Charedim (die Frommen) so sehr wie in Israel. Israel ist eine Festung des klassischen Antisemitismus, der sich nicht gegen alle Juden wendet, sondern gegen die ultra-orthodoxen, die allzu jüdischen Juden.“ (Rabkin)

Was bedeutet das? Während die christlichen Länder Jahrhunderte zur Verfügung hatten, um ihre schwierigsten Dissonanzen zu glätten, musste es bei den Juden, die erst unter Napoleon gleichberechtigt wurden, im Schnelltempo gehen, um die Christen in ihrer Entwicklung einzuholen und zu überholen.

Man kann sich vorstellen, dass die Frommen (Charedim) nicht daran dachten, ihre Religion aufzugeben. Die Kluft zwischen Progressisten und in sich ruhenden Charedim erweiterte sich ins Grenzenlose.

Als die Zionisten beschlossen, sich eine neue uralte Heimat auf biblischem Gelände zu sichern, waren es die Charedim, die heftigen Protest einlegten. Zwar waren sie überzeugt, dass die messianische Wiederkehr des Herrn im Goldenen Jerusalem stattfinden wird, aber nicht mit Hilfe der Menschen. Nur Gott könne diese finalen Geschichtsmomente durchführen. Der Mensch ist unfähig zur Transformation der Glaubensdinge in Politik. Der Fromme hingegen habe zu beten und zu harren.

Selbst hier taten sich Klüfte auf und es entstanden wartende und vorwärtsdrängende Gruppierungen.

Die meisten Israelis wissen nicht, was sie denken und glauben sollen. Nicht anders als in Deutschland – wo jeder ein Christ sein will, ohne zu wissen, was das bedeutet – kann man in Israel diese entschieden-unwissende Religionsstimmung erkennen. Das war übrigens der Grund, warum es so lange dauerte, bis die Massen auf die Straße gingen, um Netanjahu zum Teufel zu jagen. Der konnte ihnen bislang mit Leichtigkeit ein X für ein U vormachen.

Wie sieht ein Friedensaktivist aus Israel, der durch Hammas seine Eltern verlor, die jetzige Verwirrung?

„Wir müssen anders handeln, wir als Staat Israel: Die internationale Gemeinschaft muss uns zwingen, anders zu handeln, anstatt im Namen von Gewalt, Krieg und Rache zu handeln, müssen wir auf Versöhnung hinarbeiten, nicht auf der Grundlage von „Palästinenser gegen Israelis“. Wir sollten die Dinge aus einer Perspektive der Menschlichkeit gegen den Terror, der Menschlichkeit gegen das Blut betrachten und sowohl auf Israel als auch auf Palästina Druck ausüben, damit sie in Frieden miteinander leben, zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Wenn wir uns weiterhin von Angst, Religion oder Vorherrschaft leiten lassen – ganz gleich, ob es sich dabei um die extremistische Hamas oder jüdische Extremisten handelt –, wenn wir weiterhin Extremisten, einschließlich der israelischen Regierung, unterstützen, dann wird die Zahl der unschuldigen Menschen, die sterben werden, weiter steigen.Im Grunde hat Israel ihnen alle Bürgerrechte genommen, während gleichzeitig die Siedlungen – offiziell und inoffiziell, genehmigt und nicht genehmigt – florieren. Die ethnische Säuberung der Palästinenser unter der israelischen Besatzung ist für jeden, der bereit ist, die Augen zu öffnen, ganz offensichtlich. Aber auch hier hat die Hamas das getan, was man von einer extremistischen, fundamentalistischen, brutalen Terrororganisation erwarten würde: Ihr Ziel ist es, unschuldige Menschen – Zivilisten – zu töten. Das ist es, was Terroristen immer getan haben. Von einem Staat, wie dem Staat Israel mit seinem großen Verteidigungshaushalt, wird erwartet, dass er seine Bürger schützt. Der Staat Israel hat uns verraten: Er hat meine Eltern nicht geschützt. Und dann hat Benjamin Netanjahu, um sein Amt als Premierminister zu behalten, einen Krieg erklärt, um die Hamas auszulöschen. Das alles aus politischen und persönlichen Gründen, nicht um Israel zu verteidigen.“ (Berliner-Zeitung.de)

Das ist kein Beispiel einer Staatsraison, die ohne Gewalt und Hass nicht auskommt, sondern ein wunderbares Beispiel einer Friedensraison, die das Feindbild „Israel – Palästina“ überwinden will.

Nicht Palästinenser haben seine Eltern auf dem Gewissen, sondern Netanjahu persönlich, der aus eitlen Machtgründen alles Nichtjüdische verjagen will.

Es war Netanjahu, der anfänglich die Terroristen unterstützte, um Feinde als Tiere zu bekämpfen. Nun will er reinen Tisch machen, um den Vorstellungen seiner altbiblischen Koalitionäre gerecht zu werden. Sein Ziel ist: ein neuer Staat Israel auf dem Boden der biblischen Vergangenheit.

Und was dann? Erst dann kann der Messias kommen, dem die Ultras den roten Teppich ausrollen wollen.

Der Messias ist ein Thema, das im Westen nicht zur Kenntnis genommen wird. Seitdem es den Christen gelungen ist, ihre religiösen Zukunftsideen in technischen Fortschritt zu verwandeln, legen sie keinen Wert mehr auf die apokalyptische Wiederkehr des Herrn.

Ganz im Gegensatz zu gläubigen Juden, die zwar schwanken zwischen selbsterfüllender Prophezeiung und passivem Abwarten, dennoch aber alles tun, um Israel zum Sieger der Heilsgeschichte zu küren.

Was ist der geheime Motor der gegenwärtigen Wirrnis? Die Angst um Israel. Wie stolz war man einst, den neuen Staat zu präsentieren: den sicheren Zufluchtsort aller gefährdeten Juden. Und heute?

„Israel ist in Gefahr. Die Vorahnung des Unheils, die häufig von den überzeugtesten Zionisten geäußert wird, erscheint paradox. Der Staat Israel. Den sie oft als einzigen Ort darstellen, an dem ein Jude in Ruhe leben kann, wenn er nicht gar seine letzte Zuflucht ist, wurde zu einem der gefährlichsten Orte für Juden. Nicht wenige Israelis fühlen, dass sie und ihre Kinder in eine „blutige Falle geraten sind“.“ (Rabkin)

Und wie müsste deutsche Staatsraison aussehen? Wie der Versuch eines endlosen Dialogs zwischen Israel und Deutschland, um sich seiner nationalen Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen bewusst zu werden.

Staatsraison ist politische Freundschaft, um allen Ländern eine friedliche Zukunft zu erarbeiten. Als „Freunde Israels“ versagen die Deutschen auf der ganzen Linie.

Fortsetzung folgt.