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Natur brüllt! XXXII

Tagesmail vom 13.11.2023

Natur brüllt! XXXII,

Wer ist schuld am Gaza-Konflikt?

Im Prinzip – die Deutschen. Grund? Der Holocaust.

Der Holocaust ist die riesengroße Schuld der Deutschen, die sie verantwortlich macht für jeden Konflikt zwischen Israel und Palästina. Ohne Holocaust gäbe es keinen Staat Israel, ohne Israel keine jahrzehntelange Unterdrückung der Palästinenser und keinen ewigen Streit zwischen den Erben des Zionismus und den Arabern. Richtig?

Zweifellos: die Deutschen sind die Täter des Menschheitsverbrechens an den Juden, Sinti& Roma und anderen minderwertigen Kreaturen. Aber welche Deutschen? Die jetzige Generation? Auf keinen Fall.

Es sind die Väter und Vorväter der heutigen Deutschen. Wir tragen keine Schuld mehr am Verbrechen unserer Vorfahren.

Oder überträgt sich die Schuld der Väter automatisch auf die Nachkommen, deren Nachkommen und so fort? Ist es, noch immer, wie es in unverrückbaren Lettern bei Mose steht:

„Der HERR … sucht heim die Missetat der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied.“

Gibt es in der Heiligen Schrift eine göttliche Sippenhaftung bis ins dritte und vierte Glied? Ist Sippenhaftung noch heute gültiges Recht in verschiedenen Ländern? Schauen wir nach:

„In der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland wäre eine Sippenhaftung nicht mit dem strafrechtlichen Schuldprinzip vereinbar. Auch die zivilrechtliche Verschuldenshaftung setzt eine persönliche Vorwerfbarkeit voraus. Die israelische Regierung praktiziert Sippenhaft und Kollektivstrafen. Sie lässt Häuser mutmaßlicher palästinensischen Terroristen und deren Familie zerstören. Menschenrechtsorganisationen bezeichnen diese Hauszerstörungen auch als Verstöße gegen das Völkerrecht und als Kriegsverbrechen.[12] Infolge internationaler Kritik an der Praxis wurde ab 1989 eine Berufung gegen solche Hauszerstörungen ermöglicht und die Zahl der Zerstörungen ging zeitweise zurück. 2001 schlug der stellvertretende Sicherheitsminister Gideon Esra (Likud/Kadima) vor, Familienmitglieder von mutmaßlichen Terroristen zur Abschreckung zu »eliminieren«;[16] 2002 schlug er vor, Familienmitglieder von Terroristen als menschliche Schutzschilde zu verwenden.[17] Im Juli 2002 gab der Oberste Gerichtshof Israels grünes Licht für die Deportation von Familienangehörigen von Terrorverdächtigen aus dem Westjordanland in den Gazastreifen. Menschenrechtsorganisationen kritisierten auch diese Praxis als Sippenhaft.“

Hat Israel etwa noch nicht das juristische Niveau moderner Demokratien erreicht? Regiert noch der uralte Geist des Mose in Jerusalem? Wie lange müsste Deutschland für die Schuld seiner Nazi-Väter büßen?

Umgekehrt; sollte Israel sein heutiges Revier durch biblischen „Landraub“ ergattert haben: wie könnte es noch schuldlos sein?

Deutschland ist eine Demokratie, die ihnen von den Siegern des Zweiten Weltkriegs geschenkt wurde. Haben wir mit ihr ein biblisches Recht mit Sippenhaftung geerbt oder ein Recht, in dem nur das schuldige Individuum bestraft werden kann?

Dann würden – unausgesprochen – im Konflikt der beiden Länder zwei unvereinbare Rechtssysteme aufeinander prallen.

Solange wir überzeugte Demokraten sind, entscheiden wir uns für das rationale Individualrecht: am Holocaust sind wir persönlich nicht mehr schuldig. Was aber folgt daraus? Dass wir uns das inflationäre Gerede vom Holocaust nicht mehr anhören müssten?

Auf keinen Fall – wenn wir verantwortliche Menschen sein wollen. Denn die Gründe, die unsere Väter zu Menschheitsverbrechern nötigten, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit noch immer Bestandteil unseres Innenlebens. Ein Volk – zumal ein hochgebildetes – kann niemals in einer Generation zur Bestie der Menschheit werden.

Verantwortung übernehmen hingegen ist eine freie Tat, nicht erzwingbar durch einen Gerichtsspruch. Wir fühlen uns freiwillig zuständig, um die desaströsen Folgen schlimmer Taten in menschliche Zustände zu überführen. Da stehen wir.

Logisch, juristisch und politisch sind Verweise auf den Holocaust, um uns demütig und gehorsam zu machen, nicht – zwingen können sie uns demnach zu nichts. Aber als Appelle an unsere Humanität sind die Forderungen überaus wertvoll und politisch notwendig.

Wenn Deutschland kosmopolitisch sein will, muss es Verantwortung übernehmen für alle Völker, ja für alle Individuen dieser Welt. Das wäre jene Utopie, die wir ansteuern müssten und die von den meisten „Realisten“ für abenteuerlich gehalten wird.

Sie ist weder abenteuerlich noch idealistisch oder traumtänzerisch, sie ist lebensnotwendig. Denn wer sich nur um sein eigenes Wohl kümmert, riskiert den Bestandteil der Natur, die allein unser kollektives Überleben garantieren kann.

„Nie wieder“ wäre nicht nur das Motto einer begrenzten Konfliktbereinigung, sondern Lernimperativ für eine gleichberechtigte Völkergemeinde rings um den Globus. Nie wieder dürfen wir Unmenschen werden, wenn wir uns als verlässliche Bewohner der Erde bewähren wollen.

In den Nahen Osten! Wie kommt es, dass – wie in einem plötzlichen Flächenbrand – Israel in der ganzen Welt aggressiv abgelehnt wird? Die Religiösen des Landes wissen es und haben es längst vorausgesehen: die ganze Welt verabscheut das auserwählte Volk. Ja, wir sind, wie immer, an allem schuld!

Die Welt erträgt nicht den Narzissmus eines Volkes, das von Gott eine Sonderrolle erhalten haben will. Und das völlig grundlos.

„Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. 6 Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst. 7 Mose kam und berief die Ältesten des Volks und legte ihnen alle diese Worte vor, die ihm der HERR geboten hatte. 8 Und alles Volk antwortete einmütig und sprach: Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun.“

In den Worten des Märchens vom hässlichen Entlein. „Wie das Entlein werden viele Juden in einem bestimmen Augenblick den anderen zurufen: Ich bin ein herrlicher Schwan und viel schöner als ihr.“

Im Alten Testament heißt es, das jüdische Volk habe in der Wüste beim Berg Sinai einmütig die Entscheidung getroffen, sich von anderen Völkern grundlegend zu unterscheiden. Das gilt noch heute. Was immer ein Jude anpackt, er ist besser als seine Konkurrenten. Er ist klüger, weltkundiger, sprachbegabter, raffinierter und technisch genialer. So die Eigenwerbung – die von der Welt, nicht immer mit Begeisterung, bestätigt wird.

Der wichtigste Unterschied aber bleibt. Das biblische Siegerprinzip lautet: durch Leiden zum Sieg, wen Gott liebt, den züchtigt er. Das haben die Völker der Welt bis heute nicht verstanden.

Wie kann man diesem Volk vorwerfen, es hätte arabischen Nomaden das Land weggenommen? Jenes Land, das Gott ihnen im Alten Testament selbst gegeben hat? Gewiss, die Zionisten suchten verzweifelt ein Terrain, um irgendwo auf der Welt ein Zuhause zu gewinnen. Von Pogromen und Degradierungen hatten sie die Nase voll. Theodor Herzl wäre es gleichgültig gewesen, ob die neue Heimat in Afrika oder im alten Palästina gelegen hätte. Hauptsache, sie konnten selbstbestimmt einen unabhängigen neuen Staat gründen. Es wäre erst der zweite in ihrer langen Geschichte gewesen.

Die Welt von heute hat jedenfalls den Eindruck, der Gaza-Terror sei, verglichen mit den Vertreibungs- und Unterdrückungsmaßnahmen der Zionisten, nur ein Klacks.

Um diesen Terror in Zukunft zu vermeiden, müsste Israel endlich einsehen, was das Völkerrecht ist und dass die Palästinenser nur durch ein solides Völkerrecht existieren könnten. Doch Israel, im religiösen Wahn der Erwählten, lebt in eigenen Kategorien, die nicht identisch sind mit denen der Völker.

Der penetrante Hinweis auf den Holocaust – der doch unvergleichlich sein sollte – brachte nichts als Verwirrung in die Debatte.

„Der Impuls, den Holocaust als Messlatte zu missbrauchen, um Unrecht und Leiden anderer zu verharmlosen, übersieht eine einfache, aber fundamentale Wahrheit. Dass nämlich Leiden, gerade wenn es nicht zum physischen Tode führt, in vielen Fällen schlimmer sein kann als der Tod selbst. Die Politik der israelischen Regierung hat Züge angenommen, die mit den zentralsten Werten des Judentums unvereinbar sind. Der Konflikt mit den Palästinensern korrumpiert die israelische Kultur.“ (H. J. Meyer)

Oder mit den Worten Ben Gurions, der gewöhnlich als gütige Vaterfigur des neuen Staates vorgestellt wird: „Politisch nämlich sind wir die Aggressoren, während sie sich selbst verteidigen … Das Land gehört ihnen, weil sie es bewohnen, während wir ankommen und uns hier niederlassen. Aus ihrer Perspektive wollen wir ihnen das Land wegnehmen, noch bevor wir hier richtig angekommen sind. Der Aufstand ist aktiver Widerstand seitens der Palästinenser gegen das, was sie als Usurpierung ihrer Heimat durch die Juden betrachten … Hinter dem Terrorismus steht eine Bewegung, die zwar primitiv, aber von Idealismus und Selbstaufopferung geprägt ist.“ (In Chomsky, Offene Wunde Nahost)

Dass man sich, auch in brisante geschichtliche Vorgänge, behutsam hineinversetzen muss, um sie zu verstehen, nicht zu verteidigen, ist heute unbekannt. Die Gräuel des Überfalls können nicht teuflisch genug geschildert werden – um die eigne Bösartigkeit als angemessene Reaktion zu rechtfertigen.

Die Deutschen, unfähig, das Ganze zu verstehen, verharren in gefühllos scheinender Kälte. „Mir fehlt jede Empathie, niemand fragt mich: wie geht’s dir“, so etwa lauten die Aussagen vieler Israelis in Holocaust-Deutschland. Unverständnis nach allen Seiten, wohin man blickt.

Unfähigkeit zur wissenden Empathie auf der einen Seite, auf der anderen eine verbissene Vernichtungswut der sogenannten Antisemitismus-Wächter bei BILD und der ganzen SPRINGER-Presse. Auch diese „Verteidiger“ des Heiligen Landes sind völlig ohne Verständnis der Vorgänge, tun aber so, als könnten sie durch Kraftakte das Land alleine schützen.

Gibt es niemanden in Israel, der die verworrene Situation versteht? Natürlich, es sind die wenigen Israelis, die wir linke Humanisten nennen und die für Verständnis und Frieden plädieren. Von Orthodoxen und BILD werden sie Selbsthasser genannt, vermutlich im Gegensatz zu ihnen, den Fremdhassern.

Die Juden gibt es nämlich nicht. Es gibt wenige Ultraorthodoxe, denen es geglückt ist, die Mehrheit der Bevölkerung zu ihrem theokratischen Geist zu bewegen. Und es gibt eine Minderheit von religionskritischen Intellektuellen, die die gesamte Entwicklung als Verhängnis betrachten. Von denen hört man hier in Deutschland fast nichts.

Den hiesigen Orthodoxen ist es geglückt, die kritischen Geister Israels außen vor zu halten. Sie allein präsentieren die Stimme Israels und beschimpfen jeden, der ihnen widersteht, als Antisemiten. Antisemitismus wurde zum Immunisierungsmittel gegen jegliche Form von Kritik an Netanjahu und Co.

Die Mehrheit der israelischen Gesellschaft ist zwar nicht explizit religiös, sie ließ sich aber von den herrschenden Frommen übers Ohr hauen. Erst kurz vor dem Gaza-Angriff begannen sie, auf die Straße zu gehen, um die Deformation der Demokratie aufzuhalten.

Es gibt, neben den Ultras, eine kleine Gruppe humaner Israelis und die Mehrheit der pseudoreligiösen Mitläufer. Wenn wir die Geschichte der humanen Juden betrachten, kommen wir ins Staunen. Sie haben eine Entwicklung gemacht, die selbst den Deutschen nicht gelang: von religiösen Offenbarungsempfängern im Alten Testament zu autonomen Humanisten – die wissen, dass nur aktive Menschenfreundlichkeit die Menschheit retten kann.

Wo begannen sie? Sie begannen mit der alttestamentlichen Auserwählungsformel, über die ein Kenner urteilte: „Dieser intolerante Ausschließlichkeitsanspruch ist religionsgeschichtlich ein Unikum. Denn die antiken Kulte waren gegenseitig duldsam und ließen den Kultteilnehmern freie Hand.“ (G. von Rad)

In der Begegnung mit den Hellenen gelang es ihnen, sich von vielen Lasten der mosaischen Intoleranz zu befreien und sich die freien Elemente der Hellenen anzueignen:

„Vermutlich wurden die radikalen Reformer der Juden von Gedanken der griechischen Aufklärung beeinflusst und versuchten, eine vernünftige Form der Gottesverehrung ohne abergläubische Verfälschung wiederherzustellen. Zugleich strebten sie die völlig Auflösung des jüdischen Eigenwesens und die konsequente Assimilation an ihre hellenistische Umgebung an.“ (M. Hengel, Judentum und Hellenismus)

Ohne diese Beeinflussung wäre nie ein Hillel möglich gewesen mit seinem berühmten Spruch:

„Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht – dies ist die ganze Thora.“

Nichts mehr von Auserwählung, Offenbarung und Narzissmus: hier treffen sich Sokrates und der aufgeklärte Rabbi.

Im Mittelalter war es der Gelehrte Maimonides, der mit stupender Gelehrsamkeit die arabischen Aufklärer ins Lateinische übersetzte und nicht wenig zur kommenden Aufklärung beitrug. Das führte zu Spinozas Vernunft- und Naturgott, weshalb er von seinen Glaubensgenossen rüde aus der Gemeinde ausgeschlossen wurde. Moses Mendelsohn, Vaterfigur der deutsch-jüdischen Aufklärer, diente Lessing als Vorbild für seine eindrucksvollste literarische Figur: Nathan der Weise.

Heute haben die kritischen Intellektuellen in Israel ein Niveau erreicht, verglichen mit dem wir Deutsche nur erbleichen können. Denn nach der deutschen Aufklärung und der deutschen Klassik wurde die Humanitas im 19. Jahrhundert fast völlig eliminiert und ins bestialische Gegenteil der Nazis überführt.

Hören wir die Worte der jüdischen Humanität, die man bei uns nie hören kann. Und wenn doch, nur begleitet von einem höhnischen Gelächter. Besonders aus den Reihen der Springer-Leute, die am schärfsten gegen jeden Moralismus wüten.

„Das Heldentum wird einen bescheideneren Platz neben den Hauptpunkten einnehmen: den Verbrechen gegen die Menschheit und der Vernichtung 1000jähriger Betziehungen zwischen den Juden und Europa. Wir werden nicht nur an uns denken, sondern an die gesamte Menschheit. Es wird ein Tag sein, an dem selbst Israels arabische Bürger als Partner der neuen menschlichen Verpflichtung in feierlichem Schweigen dastehen und ihren eigenen Schmerz betrauern. Immer wieder werden wir schwören, dass „Nie wieder“ alles einschließt: es darf niemandem nirgendwo wieder passieren. Es wird keine Verse mehr geben wie „Gieß deinen Zorn aus über die Heiden , die dich nicht kennen, über jedes Reich, das deinen Namen nicht anruft. Vielmehr wird es heißen wie in einer deutschen Haggadah: „Ergieße deine Liebe über die Völker, die dich kennen und über die Reiche, die deinen Namen anrufen.“

Wer ist schuld am Gaza-Konflikt? Wir alle, die wir nicht dafür gesorgt haben, dass zwei Völker ihre Konflikte in Empathie und Kritik lösen konnten. Uns fehlt es an politischer Humanität.

Fortsetzung folgt.