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Natur brüllt! XXXI

Tagesmail vom 10.11.2023

Natur brüllt! XXXI,

Was war das für ein Tag, den unsere Gewählten gestern so feierlich begingen?

Ein Tag der Erinnerung an Nazi-Gräuel? Ein Tag der bedingungslosen Loyalität für ein palästina-feindliches Israel? Eine schreckliche Mischung aus beiden?

Beide Elemente sollten sich ausschließen. Für die Regierungen beider Länder hingegen sind sie eine Einheit.

„Israelische Politiker wie Sharon, Netanjahu und viele andere haben offen zugegeben, dass sie den Antisemitismus nicht fürchten, sondern sogar begrüßen, da er die Juden nach Israel treibt. „Israel beschützt nicht die Juden vor dem Antisemitismus, sondern im Gegenteil – Israel produziert und exportiert Antisemitismus und gefährdet damit die Juden überall auf der Welt.“ (Uri Avnery in A .Melzer, Die Antisemitenmacher, Wie die Neue Rechte Kritik an der Politik Israels verhindert)

„Die Aggressivität von israelisch-jüdischer Seite gegenüber den Palästinensern im Nahen Osten, wie auch der Anspruch auf das gesamte Gebiet Palästinas aufgrund biblischer Quellen, den eine nicht geringe Zahl rechts orientierter jüdischer Israelis erheben, hat leider einen negativen Einfluss auf unsere ganze Welt. Sie sind ja „nur“ die Auswüchse einer schon seit 37 Jahren (geschrieben im Jahr 2004) andauernden, grausamen und menschenunwürdigen Besatzung, die von dem mächtigsten Land der heutigen Zeit, den Vereinigten Staaten, explizit gebilligt und zum Teil finanziert wird. … Da die Unterdrückten einem arabischen und größtenteils islamischen Volk zugehören, ist der Nahostkonflikt zum geopolitischen Brennpunkt einer mehr als tausend Jahre alten Spannung zwischen dem Islam und dem – wenn auch weitgehend säkularisierten – christlichen Westen geworden. … Ohne Beendigung dieses Konflikts ist eine endgültige Lösung der Spannung zwischen beiden Welten überhaupt nicht denkbar.“

Woher kommt „das Böse“ in der Netanjahu-Regierung der Ultrarechten? „Es kommt in erster Linie dadurch zustande, dass anstelle einer toleranten, zwischenmenschlichen Ethik ein Wertesystem substituiert wird, das die Gleichwertigkeit aller Menschen leugnet. … Dadurch ist es auch völlig uneins mit der von der Menschheit anerkannten universellen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948.“

Die Bibel, das Alte Testament oder der Talmud sind unvereinbar mit dem universalen Humanismus moderner Demokratien. Indem Netanjahu & Co ihr Land immer mehr alttestamentarisch regieren, zerstören sie immer mehr ihre Demokratie im Nahen Osten.

Was Sie hier lesen, ist eine Kampfschrift gegen diesen Geist der religiösen Intoleranz – angelehnt an das Buch von Avraham Burg „Hitler besiegen, Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss“.

Das heißt nicht, dass jede Erinnerung an deutsches Nazi-Unrecht gestrichen werden müsste. Im Gegenteil.

„Sicher dürfen wir nicht vergessen, aber gleichzeitig sollten wir auch nicht ewig Geiseln der Erinnerung bleiben. Wir sollten nicht in der Vergangenheit leben, sondern von ihr geheilt werden. Wenn Israel Deutschland freigibt, wird es der Welt besser gehen. Das wird unser Beitrag für die Leidenden der Welt und die gegenwärtig Verfolgten sein … An dem Tag, an dem wir frei sind, werden wir auch Deutschland freigeben.“ (Burg)

Welche politische Utopie vertritt Burg?

„Wir werden nicht nur an uns denken, sondern an die gesamte Menschheit … Es wird ein Tag des „Nie wieder“ sein: Nie wieder Gewalt, nie wieder Fremdenfeindlichkeit, nie wieder Diskriminierung, nie wieder Rassismus. …Wir werden die Entstehung von Gewalt und Aggression zu verstehen versuchen und die Möglichkeiten sie auszumerzen; wir werden gegen Tyrannei kämpfen und uns in Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden üben. … Vor allem werden wir gemeinsam mit den zivilisierten Ländern in vorderster Front im weltweiten Kampf gegen Hass stehen, wo immer er auch sein mag.“ (ebenda)

Was bedeutet das konkret?

„Der Holocaust ist vorbei; es ist Zeit, dass wir uns aus seiner Asche erheben. Die einzig erfolgversprechende Antwort auf Hitler ist der Zusammenschluss aller guten Menschen der Welt gegen die Koalition des Bösen, der auch einige meines Volkes angehören. Israelischer Humanismus muss begreifen, dass die Antwort auf die israelische Besatzung nicht nur im Rückzug aus den besetzten Gebieten besteht, sondern auch in der Schaffung einer neuen jüdischen Identität.“

Wie sieht diese Identität aus?

„Die Zeit ist reif für eine Überarbeitung der Gebete. Wir müssen ein neues Gebetbuch schreiben, in dem der arrogante Satz: »Du hast uns auserwählt unter allen Völkern« ersetzt wird durch »Du hast uns auserwählt mit allen Völkern«.“

Gläubige müssen sich ändern und ihre Auserwähltheit in Gleichheit aller Völker verwandeln. Ungläubige müssen ihre Gebete nicht ändern, sie haben keine. Allerdings müssen sie ihren nationalen Eigensinn aufgeben zugunsten einer menschheitsumspannenden Verbundenheit.

„In Israel gibt es derzeit erschreckende Elemente von Rassismus, die sich im Grunde nicht sonderlich von dem Rassismus unterscheiden, der viele unserer Vorfahren vernichtet hat. Dieser Rassismus ist scheinheilig und raffiniert.“

Die jüdische Einzigartigkeit muss – bei den Ultras – bewahrt werden durch die Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit des Holocaust. „Alles neben der Shoa erscheint zwergenhaft und klein. Alles ist uns erlaubt, weil wir die Shoa durchgemacht haben und niemand uns sagen darf, was wir zu tun haben.“

Deshalb treten die Juden in Deutschland – die Verbündeten Netanjahus – auf, als seien sie die von Gott gesandten neuen Mächtigen, die das Land der geistlosen Täter genauestens unter die Lupe nehmen müssen. Da ihre Diagnosen unfehlbar sind, muss alles, was ihnen widerspricht, Antisemitismus sein.

Kaum jemand traut sich, ihnen zu widersprechen. Nicht mal die Regierung, die sich devot ihren Diagnosen und Imperativen unterordnet. Deutsche Regierungen haben keine eigne Meinungen, sondern folgen den Direktiven jener Mächte, denen sie nicht widersprechen dürfen: Amerika und Israel.

Wer hierzulande die Schuld Israels gegenüber den Palästinensern anspricht, der hat keine gute Zeit mehr im Lande von Scholz und Merkel.

Wir sollen Schuld haben, weil wir unser biblisches Land zurückerobert haben? Wir haben uns nur genommen, was uns seit 1000en Jahren zusteht – so klingt die Verteidigung der meisten Israelis.

Ben Gurion: „Wenn ich ein arabischer Führer wäre, würde ich nie einen Vertrag mit Israel unterschreiben. Es ist normal; wir haben ihr Land genommen. Es ist wahr, dass es uns von Gott versprochen wurde, aber wie sollte sie das interessieren? Unser Gott ist nicht ihr Gott. Es gab Anti-Semiten, die Nazis, Hitler, Auschwitz, aber war es ihre Schuld? Sie sehen nur eine Sache: Wir kamen und haben ihr Land gestohlen. Warum sollten sie das akzeptieren.“

Genau das ist die Meinung der Palästinenser bis zum heutigen Tag. Wenn ein Deutscher hingegen auf die jüdische Schuld der Landnahme verweist, der ist schlimmster Antisemit.

Das bedeutet nicht, den Israelis das neue Staatsgebiet abzunehmen. Die verfolgten Juden hatten das Recht, sich irgendwo in der Welt ihr Land zu sichern. Allerdings hätten sie das Land mit den ehemaligen Besitzern friedlich so aufteilen müssen, dass die Völker sich vertragen. Was hingegen ist geschehen?

A. Burg: „Aber den Arabern werden wir nie verzeihen, weil sie angeblich genau so sind wie die Nazis, schlimmer als die Deutschen. Wir haben unsere Wut und Rachegefühle von einem Volk auf ein anderes verlagert. Von einem alten Feind auf einen neuen Feind, und so erlauben wir uns behaglich … die Palästinenser als Prügelknaben zu behandeln, an denen wir unsere Aggression, Wut und Hysterie auslassen, wovon wir mehr als genug haben.“

Warum verstehen die Israelis nicht die erschreckende Ablehnung ihres Landes durch die Völker der Welt?

Pardon, sie verstehen es ja: „Die Welt ist gegen uns, egal, was wir machen.“ Wir sind immer an allem schuld. Die Welt kann unsere Überlegenheit in fast allen Dingen nicht ertragen. Uns begegnet nur der wütende Neid derer, die nichts zustande bringen.

Israel entstand als sicherer Zufluchtsort für alle Juden, die in der Welt umherirrten. Ständig hört man von ihnen, sie lebten nur auf gepackten Koffern. Und was jetzt?

„»Der Staat Israel entstand als sicherer Zufluchtsort für das jüdische Volk, ist aber heute der am wenigsten sichere Ort, an dem Juden leben können«, schreibt Burg bereits im Jahre 2009. »Wir müssen zugeben, dass das heutige Israel und seine Politik zum wachsenden Hass auf Juden beitragen. Überall sonst auf der Welt lauert sonst der Antisemitismus, selbst hinter der höflichen Fassade des amerikanischen Christentums.«“

Vergleichen wir die deutsche Standard-Reaktion mit Burgs gründlicher Selbstanalyse. Scholz und Merkel fällt sonst nichts ein als bei bestimmten Ritualen zu warnen und zu mahnen. Das ist kostenlos und bedarf keiner näheren Erkenntnis.

Haben sie sonst noch irgendetwas Nützliches zu sagen? Auf keinen Fall. Sie haben nur eines im Kopf: wie können wir unser Wirtschaftswachstum erhalten oder steigern?

Semitismus oder Antisemitismus gehören zu den Ideologien – und davor graut’s den Beiden. Merkel schwört den Israelis in der Knesseth bedingungslose Loyalität – und erklärt die hohle Formel mit keinem Wort. Bedingungslos klingt wie blind – oder Frau Merkel? Wie fast immer hüllt sie sich in Schweigen. Deutsche Politik ist in Stummheit versunken. Was auch gibt’s zu sagen außer dem Immergleichen – und das müssten die Untergebenen doch langsam kapiert haben.

Politik ist für deutsche Maschinisten das Bedienen einer ewig laufenden Maschine. Die richtigen Knöpfe drücken und so weiter ins Unendliche.

Da es für die ehemaligen Wirtschafts-Stars nichts gibt außer Malochen und Profitmachen, hatten sie keine Zeit zur Einkehr, zur Erforschung ihrer bösen Vergangenheit, um die Menschheitsverbrechen ihrer Väter und Mütter zu verstehen. Geschichte könne man nie verstehen, Wiederholungen nie vermeiden.

Verstehen ist ohnehin ein Unsinn für sie. Geht’s um Antisemitismus, stehen sie sofort da mit dem Knüppel in der Hand: Gesetze und Strafen verschärfen, Polizei schicken, Hart werden. Sonst gibt es nichts für sie.

Ihre Schulen dressieren nur Wirtschaftskarrieristen. Die Geschichte des Antisemitismus, des Juden- und Christentums? Uninteressant.

Ihre Schulen und Unis haben versagt. Außer Mahnungen und Warnungen – fällt ihnen nichts ein. Aus innerer Leere hätte Scholz beinahe geheult. Stammeln aber konnte er noch: Nie wieder. Nie wieder.

Plötzlich werfen sie ihre normalen Prinzipien über Bord. „Nie wieder“ ist ein utopisches Ziel, das nicht übertroffen werden kann. Kam er gerade vom Psychiater, der ihm seine innere Leerheit konstatierte?

Oh ja, „nie wieder“ ist das angemessene Ziel deutscher Politik, um sich zu regenerieren. Aber nur, wenn die Utopie in Etappen erlernt werden kann. Was bedeutet, mit Fehlern muss man ständig rechnen. Sie müssen getreulich wahrgenommen und intensiv durchstritten werden.

Wahre Politik ist rational. Zuerst wahrnehmen, was man kann und wo man steht. Kühl und besonnen die Fehler korrigieren, das Ziel nie aus dem Auge lassen.

Welches Ziel haben deutsche Politiker – außer immer reicher zu werden?

Verfolgen sie humanistische Weltziele? Oder geht es bei ihnen zu wie bei den Pfadfindern: immer weiter durch die Tundra jagen die Tscherkessen?

Deutsche Politiker machen sich’s leicht: sie mahnen und warnen, warnen und mahnen. Gestern wurden die Deutschen zu einem schändlichen Volk ernannt, weil sie schon wieder den Antisemitismus in der Gesellschaft zuließen. Politiker befinden sich immer Oben – und schauen angewidert in die Niederungen des Pöbels:

Was eigentlich können diese Deutschen? Ihre Züge fahren schlecht, ihre Wohnungen werden knapp, die Schulen verfallen, das Klima vernachlässigen sie, das rationale Lernen und Debattieren geht flöten, in den Gefängnissen lassen sie die Insassen verkommen, fast alles, was sie ankündigen, findet man wenig später auf dem Müll.

Die Ähnlichkeiten zwischen Israel und Deutschland sind frappierend. Beide lassen sie ihren Staat zerfallen.

Meistens verdammen sie die Moral. Doch jetzt fluchen sie, dass Deutsche so amoralisch sein können, die Freundschaftsbande zu Israel verkommen zu lassen.

Deutschland und Israel könnten kritische Freunde sein, um ihre schreckliche Vergangenheit hinter sich zu lassen. Das setzte voraus, dass jedes Land sich mit dem anderen intensiv auseinander setzen müsste. Doch so weit geht die Freundschaft nicht.

Fortsetzung folgt.