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Natur brüllt! XXVI

Tagesmail vom 23.10.2023

Natur brüllt! XXVI,

„Schaffet den Bösen aus eurer Mitte hinweg!“ (Neues Testament)

Für die Abschaffung des Bösen in Deutschland ist ab jetzt der einstige Oberst der israelischen Armee zuständig: Ron Prosor.

Israels Botschafter in Berlin machte unmissverständlich klar:

„Der Kampf gegen die Hamas ist ein Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei, ein Kampf des Guten gegen das Böse!“ (BILD.de)

Das ist der Triumph der Erlöser, die die Welt in Gut und Böse einteilen. Wer das Gute vertritt, vertritt die Stimme Gottes, wer das Böse, die Stimme des Teufels. Beide Stimmen stehen sich unversöhnlich gegenüber:

»Wir müssen jetzt im Gazastreifen die gesamte Infrastruktur des Terrors beseitigen – und wenn wird das tun, möchte ich wirklich kein ›Ja, aber‹ mehr hören.« (SPIEGEL.de)

In der aufgeklärten Ethik stehen sich als Extreme auch Gut und Böse gegenüber. Aber nicht unversöhnlich. Das Böse ist das Produkt schrecklicher Erfahrungen und einer hasserfüllten Erziehung, das Gute die Frucht einer einsichtigen Selbsterziehung mit Hilfe eines denkenden Verstandes, vieler Gespräche und Dialoge mit vernünftigen Menschen.

Wer das Gute als Endpunkt der individuellen und politischen Entwicklung anpreist, muss nicht vollkommen sein, sondern selbstkritisch:

Auch ich bin nicht perfekt, aber zusammen, meine Schwestern und Brüder, können wir es in hohem Maße schaffen.

Dieses Gemeinsame betrifft auch die Weltpolitik aller Völker, die dem Planeten den Frieden bringen wollen.

Familien, Sippen, Reviere, Städte, Nationen müssen sich zusammensetzen, um verständig-streitend den Weg in eine humane Utopie zu bahnen.

Erlöser sind Feinde der selbstbestimmten Vernunft der Menschen und damit ihrer autonomen Moral. Die Wahrheit aller Dinge empfangen sie in Stummheit von Gott, den sie nicht zu maßregeln haben. Da dieser Gott allmächtig und allwissend ist, sind sie es auch. Kniet nieder, Menschen, vor seiner Unfehlbarkeit.

Ron Prosor, Gesandter der Netanjahu-Regierung, will Deutschlands Kritik an seiner jetzigen Regierung nach dem Motto verteidigen: Angriff ist die beste Verteidigung.

Gab es die leiseste Kritik an seinem Statement bei Anne Will? Im Gegenteil, BILD, die säkulare Trompete der Unfehlbaren, verkündet sein uneingeschränktes Lob in der ganzen Republik.

Prosors Politik – oder Übersetzung seiner Heilstheologie ins Politische – ist der Gesamtsieg seiner erlösten Nation am Ende der Zeiten. Wie heißt der Slogan? Am Ende wird einer gewinnen oder: viele werden verlieren. Das Gesetz des Kapitalismus.

Dabei hat Avraham Burg den Gesandten Israels bei anderer Gelegenheit schon schärfstens auseinandergenommen:

„Mit dem Angriff auf einen Pädagogen, Wissenschaftler und in Deutschland lebenden Israeli wird vielmehr versucht, eine vulgäre Botschaft an linksliberale Kräfte in Deutschland zu senden: Jede und jeder, der sich nicht der aggressiven Rhetorik Israels anschließt, wird zum Feind, zum Antisemiten, oder eben zum BDS-Unterstützer erklärt – und darf mit wilden Anfeindungen rechnen.“ (Berliner-Zeitung.de)

Welch ein Zufall: zur selben Zeit erhielt der indische Schriftsteller Salman Rushdie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Rushdie ist das genaue Gegenteil von Prosor: ein glaubwürdiger Vertreter der uralten indischen Weisheit: statt Hass und gnadenloser Vergeltung der Versuch, einen Dialog zu führen in der Atmosphäre in Liebe und Versöhnung.

„Ich wollte einen Akt der Gewalt mit einem Akt der Kunst beantworten. Autoritären Politikern geht es immer darum, das Narrativ zu kontrollieren. Wer sich dem nicht unterwirft, wird verfolgt. Deshalb fürchten diese Leute auch Schriftsteller so sehr. Sie entziehen sich dieser Kontrolle. Sie haben ihre eigenen Versionen. Das macht sie für Autoritäre so gefährlich. Es gibt aber auch auf der linken Seite die Idee, dass manche Dinge nicht geschrieben oder gesagt werden sollen. Wegen seiner Schilderung schwarzer Menschen wird »Onkel Toms Hütte« heute als rassistisch empfunden. Es ist völlig legitim, eine Abneigung zu hegen und die auch zu artikulieren. Es ist nicht in Ordnung, dem Gegenstand meiner Abneigung das Existenzrecht abzusprechen. Darauf läuft es aber hinaus. Es soll nicht sein. Weil mir gerade bei meinen Studenten eine sehr bedenkliche Geisteshaltung begegnet: Wenn Leute sagen, dass etwas sie verletzt oder beleidigt, dann muss das Verletzende ein Ende haben. Die Verteidigung der Meinungsfreiheit beginnt dort, wo sie sich für Leute einsetzt, mit denen sie nicht einer Meinung sind. Und das ist nur der Anfang. Der eigentliche Kampf wird dort geführt, wo sie Leute verteidigen, deren Meinung sie sogar verabscheuen. Es wächst eine Generation heran, die in Empörung und Gekränktheit ihre zentralen Konzepte gefunden hat. Eine Generation, die es sich unendlich leicht macht. Eine der Sachen, bei denen Karl Marx sich geirrt hat, war sein »Primat der Ökonomie«. Langsam merken wir, dass es ein Primat der Kultur gibt. Was bringt die Menschen heute am meisten auf die Palme, worum kämpfen sie bis aufs Blut? Kulturelle Fragen, nicht ökonomische Fragen. Menschen wählen sogar gegen ihre ökonomischen Interessen, wenn es in ihrem kulturellen Interesse liegt. Politische Großereignisse, wie derzeit im Nahen Osten, finden jeden Abend in meinem Wohnzimmer statt. Um das Leben einer Figur plausibel zu machen, muss ich heute den sozialen Kontext einbeziehen.“ (SPIEGEL.de)

Rushdie, selbst Opfer eines blutigen Attentats, kritisiert nicht nur die alleinige Sprache des Kriegs in Israel, sondern auch die amerikanischen – vor allem studentischen – Minderheiten, die, statt sich mit unliebsamen Ereignissen in Streitgesprächen auseinanderzusetzen und letztlich zu akzeptieren, worin man sich nicht einigen kann.

Er versteht die Rachebedürfnisse der einst Geschmähten, wirft ihnen aber vor, nun dieselben Fehler zu begehen, unter denen sie einst leiden mussten: unter der Intoleranz der jeweils Mächtigen.

Ein deutscher Intellektueller hätte das nie sagen können, denn er legt keinen Wert auf Verständnis oder Verstehen. Ohne aber seinen Gegner zu verstehen, kann man ihn nicht widerlegen, denn man weiß nicht, wo der Hund begraben liegt. Man muss ihn besser verstehen als er sich selbst.

Ohne Verstehen gibt es keine Toleranz, ohne Toleranz keine Demokratie. Das Verstehen als philosophische Disziplin entstand als kritische Reaktion auf die Aufklärung, die im ersten Zorn über die Intoleranz der Religionen, alles Mystische vom Tisch wischte. Plötzlich legten die Aufklärer Wert darauf, diese Unfehlbarkeiten selbst zu verstehen – um sie aus dem Weg zu räumen.

Insofern war Kritik an der Vernunft selbst ein Teil derselben. Vernünftige Menschen wissen, dass sie nicht perfekt sind: sie wollen sich selbst verstehen, um die Welt besser zu verstehen.

Das war auch eine Kritik an den Naturwissenschaften, bei denen nur gerechnet und gemessen wird. Ob die Rechner auch verstehen, was sie da messen und berechnen, hat bis heute keine Bedeutung. Welchen Sinn für die Menschheit hat die Entdeckung eines Sternenstaubs aus der Tiefe des Universums? Wissenschaftler denken nur in Machtkategorien.

Welch neue Maschinen können sie kreieren, wenn sie neue Zahlen auf den Tisch bekommen? Wird schon kommen, des sind sie gewiss. Und während Elon Musk diesen Tandarei unterstützt, geht die Welt zugrunde, weil unendliche Gelder in dieser Forschung untergehen. Eines schönen Tages wird hinter ihnen die Welt untergehen, während die Genies auf den Mars düsen – Erfolg ungewiss. Aber genau das reizt die Messners der Naturforschung: Risiko ist die Blutzufuhr für diejenigen, die sich im Irdischen zu langweilen beginnen.

Verstehen ist „das intuitive Erfassen des Sinns eines Gegenstands aus ihm selbst heraus. Die Notwendigkeit des Verstehens ergibt sich daraus, dass Individuelles, Einmaliges oder Einzigartiges mit Hilfe allgemeiner Gesetze oder Regeln nicht vollständig beschrieben werden kann.“ (Hoffmeister)

In den Naturwissenschaften wurde das Individuum bedeutungslos. Zwar schrieb der Mensch bei Kant der Welt apriorische Begriffe vor. Die aber waren bei allen Menschen die stereotypen.

Es ging darum, den subjektiv-einmaligen Menschen nicht bedeutungslos werden zu lassen. Also mussten die individuellen Voraussetzungen des Verstehens ans Licht gebracht werden.

Schlicht formuliert: ich kann andere umso besser verstehen, je mehr ich mich selbst verstanden habe. Religionen könnten die Menschen der Moderne umso besser verstehen, je mehr sie über ihre eigene religiöse Geprägtheit wüssten. Partner im Streit könnten sich umso besser einigen, je genauer sie wüssten, dass ihre Streitpartner von denselben Problemen geplagt werden wie sie.

Wilhelm Dilthey war der Begründer des philosophischen Verstehens in Deutschland, um die Dominanz der rechnenden Naturwissenschaften zu brechen:

„Ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewusstseins fand ich einen festen Ankergrund für mein Denken.“ („Einleitung in die Geisteswissenschaften“, 1. Band)

Kein Gefasel mehr in den Wissenschaften wie einst in der Theologie. In den Naturwissenschaften war dies durch Messen, Rechnen und wiederholbares Falsifizieren unmöglich gemacht. Da mussten die Geisteswissenschaften andere Methoden finden – und sie fanden das Verstehen im Einklang mit dem Selbstverstehen.

Nur an dieser Stelle konnte die Psychoanalyse erfunden werden. Der Therapeut kann den Patienten umso besser verstehen, je mehr er sich zuvor selbst verstanden hat. Doch was, wenn ein kritischer Patient sich nicht damit zufrieden gibt, was sein subjektiv schweigsamer Therapeut über ihn sagt – und ihm dieselben Fragen stellt, wie jener ihm?

Diese schwache Stelle fiel Popper auf und er verbannte die ganze Psychoanalyse aus dem Kanon der Wissenschaften.

„Der Psychoanalytiker kann jeden Einwand hinwegerklären, indem er zeigt, dass er das Werk der Verdrängung des Kritikers ist.“ (Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd II)

Ist die Psychoanalyse eine exakte Wissenschaft? Natürlich nicht. Aber: muss denn alles szientivisch sein, das eine wichtige Rolle im Leben spielen soll?

Wichtiger wäre die praktische und politische Frage: mit welchen Methoden können wir unsere Streitigkeiten besser schlichten? Da kann es keine Alternativen geben zur Antwort: durch gegenseitiges Verstehen.

Eben dies geschieht in unfehlbaren Religionen nicht. Wenn einer unfehlbar alles weiß, kann er kurzen Prozess machen mit seinem Gegner.

Das erleben wir im Nahen Osten, einem Kampfplatz der Religionen. Hier ereignet sich, was in Europa im 30-jährigen Krieg geschah. Danach befreite sich die jüdische Aufklärung von diesen asozialen Bürden und schloss sich der Kant’schen Vernunft an.

„Die Unvernunft des Talmud hat Methode und ist Ausdruck eines monopolistischen Herrschaftswillens schon der antiken Rabbinen. … Wenn es einen Autor gibt, für den die Behauptung vom Talmus-Hass der Maskilim (Aufklärer) zutrifft, so ist dies Moses Hirschel. Hirschel vertritt eine brachiale und polemisierende Aufklärung; Friedländer hingegen vertritt eine gelassene, sich selbst reflektierende Aufklärung, in der das Neue das Alte überwindet, ohne es moralisierend zu verwerfen.“ (Schulte, Die jüdische Aufklärung)

Im heutigen Streit werden jüdische Aufklärer mit keinem Wort erwähnt. Der neue Staat scheint allergisch zu sein gegen jeden frischen Wind. Nathan der Weise, von Mendelssohns Freund Lessing, wird hierzulande in gleichem Maße verdrängt.

Den Kern des Problems im ewigen Krieg der Nahostparteien hat in erstaunlicher Weise der Inder Pankaj Mishra dargestellt:

„Vielen Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika ist längst nicht klar, wer im Konflikt zwischen Palästinensern und Israel Opfer ist und wer Täter. Dem Westen wird Doppelmoral im Umgang mit Menschenrechten vorgehalten. Was auch heißt, dass Frieden im Nahen Osten sowohl für die Israelis als auch für die Palästinenser nur möglich ist, wenn dieses Versprechen von Würde und Freiheit, wenn auch verspätet, auch im Nahen Osten eingelöst wird. Die Dekolonialisierung des Westjordanlandes und des Gazastreifens, die Normalisierung der Beziehungen Israels zu seinen arabischen Nachbarn und anderen Ländern des Globalen Südens und der Aufbau eines souveränen palästinensischen Staates, in dem nihilistische Organisationen nicht länger von Elend und Hoffnungslosigkeit genährt werden können – das sind die notwendigen Schritte, um die Hoffnung auf eine weniger gewalttätige und anarchische Welt am Leben zu erhalten.“ (SPIEGEL.de)

Was ist notwendig, um Frieden in Nahost zu schaffen? Die Herstellung der Menschen- und Völkerrechte. Eben dies wird von der Ultraregierung Netanjahus verweigert. Die Ultras verachten die obersten Moralprinzipien der Nationen. Ihre Verhaltensnormen sind göttliche Offenbarungen oder gar nichts. Menschliche Satzungen? Da schütteln sie sich.

Was in Europa noch nicht durchgedrungen ist: Israel gilt als Vorzugs- und Sorgenkind des Westens. Und dieses Kind denkt nicht daran, sich von den Normen anderer Völker einengen zu lassen. Man höre sich die herablassenden Äußerungen über die UN-Charta an.

Der uralte Kampf zwischen griechischer Autonomie und religiöser Offenbarungsmoral verwirrt die Geister. Mit klaren Begriffen wagt es niemand, den heißen Brei bei Namen zu nennen. Man fürchtet den Vorwurf des Antisemitismus, wenn man die jüdische Religion in ihrer ambivalenten Prägung angreift.

Dabei ist die Identifikation der meisten Juden mit ihrer althebräischen Religion längst falsch geworden. Die meisten Israelis wurden moderne Demokraten – die nur aus Erlahmungsgründen die vergilbte Patriarchenherrschaft wieder auferstehen ließen.

Echter Antisemitismus ist Schmähkritik des Alten Testaments – mit gleichzeitiger Ambition, selbst zu den Auserwählten zu gehören und Israel als Lieblingsnation Gottes aus dem Rennen zu nehmen. Religionskritik als Antisemitismus zu schmähen, wäre ein Rückfall vom Schlimmsten.

All diese unklaren Symptome werden nirgendwo aufgegriffen und geklärt. In einem Dialog mit Michael Naumann wagt Michael Wolffsohn gar die Behauptung:

„Wer Antisemit ist, bestimmt der Jude und nicht der Zuschauer, und schon gar nicht der potenzielle Antisemit.“ (SPIEGEL.de)

Eine unmögliche päpstliche Anmaßung. Antisemitismus ist ein virulenter politischer Begriff und muss von allen Demokraten benutzt werden können. Wenn’s Streit gibt, gibt’s Streit – wie es in der Polis üblich ist. Wir befinden uns nicht im päpstlichen Stadtstaat in Rom.

Aber auch das zeigt, dass Israel in fast allen Dingen eine Sonderrolle für sich beansprucht.

Der Streit in Nahost hat die Qualität, einen dritten Weltkrieg zu entfachen. Deutschland, in der Angst, als vorbelasteter Antisemitismus-Kandidat zu gelten, schwankt ehrlos zwischen allen Parteien. (Das Thema ist noch lange nicht abgeschlossen.)

Fortsetzung folgt.