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Natur brüllt! XXV

Tagesmail vom 20.10.2023

Natur brüllt! XXV,

Nicht der Terrorüberfall der Hamas ist das schlimmste Debakel Israels.

Sondern die Niederlage eines Landes, das seinen Traum zerstört hat: den Traum, ein menschlich vorbildliches Land zu werden, die feindseligen Gräben zwischen den Völkern zuzuschütten, seine eigene defekte Vergangenheit zu überwinden und eine gleichberechtigte Nation unter friedlichen Nationen zu werden.

Terror ist schlimm. Terroristen sind böse und unerträglich – aber nicht teuflisch. Alles, was Menschenantlitz trägt, ist menschlich und sei es noch so dämonisch.

Was hingegen ist geschehen?

„Das Land igelt sich in einer Logik ein, der zufolge, wie es in einem bekannten israelischen Kinderlied heißt, „die ganze Welt gegen uns“ ist. „Aktive Verteidigung“ und „vorbeugende Selbstverteidigung“ sind die vom Kabinett verwendeten Begriffe für etwas, das vom Völkerrecht als Kriegsverbrechen betrachtet wird. Seit ich hierherkomme, habe ich noch nie soviel Gewalt im Alltag erlebt, Deine Gesellschaft ist krank, schwer krank …“

Warum ist der Staat krank? Weil er alle demokratischen Elemente ruiniert und durch religiöse ersetzt. Das Land soll in eine faschistische Theokratie umgewandelt werden. In einer Theokratie herrscht kein universales Gesetz der Humanität, sondern ein Wesen, an das man glauben muss:

„Für religiöse Parteien gilt das Gesetz des Staates nicht, weil allein das göttliche Gesetz legitim ist.“

Wenn man das jetzige Geschehen nicht als Teil eines planetarischen Plans versteht, versteht man – nichts. Das ist Heilszeit.

Woraus besteht dieser Plan?

„… im Wesentlichen aus vier Elementen: einem militaristischen Nationalismus, mehr oder weniger eng mit religiösem Fundamentalismus verknüpft, einem unverhohlenen Rassismus, einem vom Messianismus durchtränkten Durchhaltewillen und der Infragestellung aller demokratischen Normen.“ (Alle Zitate in Michael Warschawski. Im Höllentempo, Die Krise der israelischen Gesellschaft)

Ben Gurion, der erste Präsident des neuen Landes, fürchtete den verderblichen Einfluss der Religion, weshalb er sie von Anfang an unter der Knute des Staates belassen wollte. Doch es geschah, was er verhindern wollte: die Religion wurde immer mächtiger, der Staat immer schwächer.

Heute hat Religion eine fast absolute Gewalt im Staat, nur die Demonstranten der letzten Vorkriegstage könnten den Staat vor einer religiösen Despotie bewahren. Doch jetzt sind, um den Terrorakt in geeinter Kraft zu bekämpfen, die friedlichen Proteste zusammengebrochen, weil sich niemand seiner patriotischen Pflicht entziehen wollte.

Israel wird von zwei politischen Kräften bestimmt. Die eine ist human-demokratisch, die andere religiös, die sich der politischen weit überlegen fühlt.

Die ersten Jahre waren vor allem demokratisch, die heutigen Jahre werden immer religiöser, antidemokratischer, militaristischer und messianischer.

Wer spricht von Hunden, wenn er seine Gegner meint? Wer spricht von gnadenloser Vergeltung, wenn er seine Rachebedürfnisse artikulieren will?

Was denkt ein jüdischer Humanist über die Zukunft Israels?

„Wir sollten nicht ewig Geiseln der Erinnerung bleiben. Wir sollten nicht in der Vergangenheit leben, sondern von ihr geheilt werden. Wenn Israel Deutschland freigibt, wird es der Welt besser gehen. … An dem Tag, an dem wir frei sind, werden wir auch Deutschland frei geben. Wenn das jüdische Volk erkennt, dass … wir Teil einer wachsenden Völkerfamilie sind, die nicht bereit ist, hinzunehmen, dass einem Volk Schaden zugefügt wird – dann und nur dann wird das jüdische Volk in der Lage sein, diesem Bestreben sein Deutschland zu „schenken“. Deutschlands Wirtschaftskraft, verbunden mit einem tiefgreifenden Bewusstsein für die Verbrechen der Vergangenheit und dem Willen zur Wiedergutmachung kann das Bild des Bösen in der Welt verändern und zum Guten wenden.“ (Avraham Burg)

Deutschland in der Gewalt Israels? Was meint Burg mit diesen Worten?

Eben dies, was wir in diesen Tagen beobachten können. Die deutschen Politiker, deren ganze Vergangenheitsbewältigung im Abspulen leerer Phrasen besteht, eilen wie schuldbewusste Sünder ins Heilige Land, um ihre Bücklinge und Tränen zu zeigen.

Sie appellieren nicht gleichmäßig an beide Parteien, sondern nur an die bösen Palästinenser. Die Gefolgsleute Netanjahus bleiben unschuldig und können ihren Unterdrückungskurs gegen die Palästinenser einsichtslos fortsetzen.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch attackiert die fehlende Kritik an dem israelischen Staat:

„Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat den USA und ihren Verbündeten mangelnde Kritik am Vorgehen Israels im Gazastreifen vorgeworfen. »Die Reaktion aus Washington und – mit wenigen Ausnahmen – aus den europäischen Hauptstädten auf das Vorgehen Israels im Gazastreifen seit dem 7. Oktober ist gedämpft ausgefallen«, monierte Tom Porteous, stellvertretender HRW-Programmdirektor, in einem auf der Website der Organisation veröffentlichten Beitrag. Er fragte, wo »die klare Verurteilung der grausamen Verschärfung der seit 16 Jahren bestehenden Abriegelung des Gazastreifens« bleibe.“ (SPIEGEL.de)

Deutschlands Politiker sind moralisch blind und haben kein autonomes Urteil über ihre Freunde. Sie stehen unter dem Bann ihrer verdrängten Schuld – die ihre Politik vollständig aus ihrem Unbewussten leitet.

Sie haben sich einer absurden Loyalität unterworfen, die nichts anderes ist als eine stumme Parteilichkeit in militärischen Fragen. Niemals loyal in Menschheitsfragen, in denen alle Völker gleich sind und alle denselben Kriterien unterliegen.

Nicht nur das. Scholz wird von BILD über Nacht zu einem deutschen Helden erkoren. Kommt das jemandem bekannt vor? Die Engländer als Krämer, die Deutschen als neugermanische Helden: das galt als psychische Ursache des Ersten Weltkriegs oder der Feindschaft zwischen Nationalegoisten und wirtschaftsfeindlichen Muskelmännern.

BILD brüstet sich mit kompromisslosem Kampf gegen Antisemitismus. Dabei vertritt sie das Gegenteil. Die Boulevard-Gazette lässt das Land ohne das geringste fürsorgliche Wörtchen der Kritik im Sumpf verkommen. Für BILD ist Israel vollkommen. Böse sind allein die Palästinenser.

„Scholz sagt: „Deutschland genießt hohes Ansehen in Israel. Wir verstehen uns als ein Land, das sich sehr dafür verantwortlich fühlt, dass die Sicherheit Israels gewährleistet bleibt. Das wird in Israel verstanden. Und ja, Deutschland ist auch sehr angesehen bei vielen anderen Regierungen hier. Wenn das so ist, dann sollten wir das auch nutzen.“ (BILD.de)

Eben noch in einer tiefen Krise, jetzt die Rettung. Die „Zeitenwende“ war eine Komödie, jetzt kommt der entscheidende Augenblick für deutsche Helden, um ihre Weltgeltung zu zeigen.

Ein Triumph für das dahin siechende einstige Wunderland. Echte Qualität geht nicht einfach verloren. Kommt Not, zeigt sich die Fähigkeit zur nationalen deutschen Wiedergeburt.

Helden erkennt man an ihrer Härte. Wo diese zuvor schwankten, stehen sie plötzlich unverrückbar:

„Ungewöhnlich hart im Ton kündigte der Kanzler an, die Zahl der Asylsuchenden reduzieren und die der Abschiebungen erhöhen zu wollen. »Er wirkte an diesen Stellen wie verwandelt, fast aggressiv«, sagt Dirk. Christophs Eindruck: »Er wollte offensichtlich ein Zeichen setzen: Ich habe verstanden.«“ (SPIEGEL.de)

In Zukunft werden wir einen anderen Olaf Scholz erleben, einen, der durch die Zeitereignisse gestählt worden ist. In Zukunft ist nicht mehr mit ihm zu spaßen.

Ein Mann, ein Wort: altgermanische Qualität, die von späteren Helden stets abgerufen werden konnte. Unsere Vergangenheit holt uns ein. Was wird demnächst kommen? Eine Kriegserklärung gegen alles, was unser Land überfluten will, um uns zu unterminieren?

Und siehe, Ulf Poschardt von der WELT erhörte unsere Prognose:

„Wir, die sogenannte Mehrheitsgesellschaft, waren zu naiv und zu bequem, die Herausforderung der muslimischen Migration ernstzunehmen. „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich drauf!“, sagte Katrin Göring-Eckardt eher opportunistisch 2015 in der Flüchtlingskrise. Und dieses Statement gehört wirklich zu den dümmsten, die damals gemacht wurden. Direkt hinter Merkels „Wir schaffen das“, was auch ohne jede Ableitung für Bildung, Leitkultur, innere Sicherheit und so weiter formuliert wurde.“ (WELT.de)

Fast alles, was von Draußen hereinkommt und nicht christlich ist, muss verdächtig sein. Das hat in Deutschland keinen Platz. Wir sind gut christlich und wollen das bleiben.

Die pauschale Einordnung der Menschheit in christlich und nichtchristlich hat den Haut Gout eines beginnenden Rassismus. Macht ja auch keinen Spaß, mit seinem fauchenden Ferrari zwischen ausländischen Habenichtsen herumzukreuzen.

Wie reagiert Deutschland überhaupt auf das Grauen in Nahost?

Mit Wut. Mit heiligem Zorn. Luthers Gerechtfertigte ohne Werke des Gesetzes sind schrecklich empört über das Böse, das auf den „deutschen Straßen“ zu erleben ist. Klare Kante, unmissverständlicher Kampf, kein schwächliches Verstehen, sondern stahlharte Reaktion mit dem Polizeiknüppel.

Wer die Feinde der Deutschen verstehen will, muss ein verkappter Freund dieser Feinde sein. Putin-Versteher? Unausstehlich. Hamas-Versteher? Eine Katastrophe, eine kollektive Blamage für uns alle.

Niemand stellt die Frage, woher stammt der Hass der Israelfeinde? Sind wir denn im psychoanalytischen Labor? Oder sind wir mitten im Leben, das mit „Küchenpsychologie“ nichts zu tun haben will.

Es gab Zeiten in der BRD – etwa in der 68er-Studentenrevolte – da gab es keinen deutschen Intellektuellen, der ohne Couch-Erlebnisse ins Leben hinaus wollte. Doch es dauerte nicht lange, da dämmerte es erst den Deutschen: Freud & Genossen waren Juden. Wie können Juden knorrige Germanen verstehen?

Und schon verkümmerte an allen Ecken und Enden das Seelenerforschen zur lächerlichen Küchenpsychologie.

Heute ist das Gute wieder das Gute und das Böse das Böse. Zusammenhänge sind nicht zu erkennen, das Leben ist zu kurz, um das Innere eingehend zu erforschen.

Waren die Deutschen nicht einst die philosophischen Weltmeister der Innerlichkeit?

Schnell weg von dieser weltabgewandten Innenschau. Und hin zur amerikanischen Seelenmanipulation: der Verhaltenstherapie. Da gibt es nur äußerliche Reflexe und messbare Reaktionen. Alles andere bleibt alteuropäische Alchimie.

So wie Deutschland Soziologie und andere Geisteswissenschaften als statistisch nachmessbare Wissenschaften lernen musste, so auch die experimentelle Seelenmanipulation. Was nicht messbar und überprüfbar war, konnte den Deutschen gestohlen bleiben.

Ein Grünenpolitiker schäumt gegen alles, was nicht jüdisch ist. Das nennt man unversöhnlichen Dualismus. Wer nicht zu den Guten gehört, gehört zum Abschaum:

„Die Juden sollen bleiben, die anderen sollen gehen. Die Antisemiten. Gleiches gilt auch für die Russlandfreunde in der AfD. Die können auch gern nach Russland gehen. Wo die Gewalt bei Kundgebungen eskaliert, gibt es nur ein Rezept: Zeigen, dass das Gewaltmonopol beim Staat liegt. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich war Justizsenator in Hamburg, als dort 2017 die G20-Proteste eskalierten. Richtig, bei solchen Kundgebungen gibt es auch einige rechtliche Unwägbarkeiten, die später auch bei Gericht verhandelt werden können. Auch hier könnte man viel von Hamburg lernen, wenn man denn will. Dort haben die Gerichte nämlich befunden, dass die sogenannte »psychische Beihilfe«, also das Bestärken der gewaltbereiten Haupttäter, durchaus strafbar ist. Das rechtssicher zu beweisen, ist nicht immer ganz einfach. Dennoch gibt es mittlerweile viele technische Möglichkeiten, das nachzuweisen. Entsprechende Strafen wurden ja erst vor drei Jahren eingeführt, und zwar aus gutem Grund, denn das Verbrennen der Flagge steht ja für das Verbrennen des jüdischen Volkes. Ich denke nicht, dass wir da ans Strafrecht ran müssen. Wir müssen vielmehr solche Vorfälle konsequent und mit Härte verfolgen.“ (SPIEGEL.de)

Gibt es nur technische Möglichkeiten, das Böse nachzuweisen? Keine rechtlichen? Die werden kaum genannt. Wir haben keine Zeit für Empfindlichkeiten – jetzt gilt es? Der Stall muss gesäubert werden?

Hier zeigt sich die Unkenntnis der Deutschen über Gut und Böse. Zuerst waren sie christlich ambivalent; gut ist, was Gott gut, böse, was er böse nennt. Das konnte am nächsten Morgen völlig anders klingen. Mit Abnahme der religiösen Nachwirkungen trennten sich Gut und Böse klaftertief: entweder – oder. Kompromisse gibt es nicht. Und das just in jener Zeit, als die Kompromisse begannen, zum Inbegriff der Demokratie zu werden.

Heute heißt die weltpolitische Moralformel: böse ist alles, was vom Feind kommt. Gut, was der machiavellistische Westen erfindet, auch wenn er damit seine Schweinereien nur überdecken will.

Doch über allem steht die Überzeugung: ob gut oder böse, es gibt keine empirischen Gründe ihrer Entstehung. Das bleibt für immer unerklärbare Metaphysik. Reiner Zufall, ob Du als Guter oder als Böser geboren bist.

In der Welt muss der bedingungslose Kampf entscheiden, was besser oder mächtiger ist. Hier gibt es kein Erbarmen.

Juden und der gesamte christliche Westen sind gut. Alles aber, was sich nicht demütig westlicher Heuchelei unterordnet, muss böse sein.

Manichäismus nennt man die Religion mit dem unversöhnbaren Schnitt zwischen Gut und Böse. Das Christentum kann nicht manichäisch sein, denn Gut und Böse bestimmt allein der Herr. Der Katholizismus kennt den freien Willen und die Geprägtheit von Oben, die beide ständig einen Kompromiss bilden müssen.

Israel hatte einen eindrucksvollen Beginn. Nach dem Scheitern des Oslo-Vertrags ging es stetig bergab. Der Überschwang der jugendlichen Kräfte ließ nach und erlag dem Einfluss der „rechten“ Frommen, denen auch Netanjahu sich beugen muss, wenn er an der Macht bleiben will.

Enden wir mit der Bilanz eines der größten Gelehrten Israels, der sowohl fromm als auch äußerst scharfsinnig demokratisch sein konnte: dem Gelehrten Jeshajahu Leibowitz, dem großen Vorbild vieler linker Israelis:

„Der Staat Israel verliert mehr und mehr seine Bedeutung für die existentiellen Probleme des jüdischen Volkes und des Judentums. Überhaupt hat Israel aufgehört, ein Staat für das jüdische Volk zu sein. Israel ist nunmehr zu einem Machtmittel zu Erhaltung einer Gewaltherrschaft über ein anderes Volk geworden. Israel ist kein Staat, der eine Armee unterhält, es ist eine Armee, die einen Staat besitzt. Die Welt bringt heute dem Staat Israel keinerlei Achtung und Wertschätzung mehr entgegen, von aufrichtiger Sympathie gar nicht zu reden. Aber noch viel entscheidender ist, dass der Staat Israel den meisten Juden selbst immer fremder wird – weil der Staat in seinem heutigen Zustand wirklich keinen Lorbeerkranz für das jüdische Volk darstellt.“ (Gespräche über Gott und die Welt)

Seien wir Deutschen ehrlich: klingen die Analysen Israels nicht wie Beschreibungen Deutschlands, ja des gesamten Westens, der nicht mehr weiß, wohin sein Schiffchen treibt?

Kapitalismus und Fortschritt haben dem Westen endlose Güter und Reichtümer eingebracht. Jetzt kommt, verspätet, die Rechnung auf den Tisch.

Fortschritt und Wohlstand sollen das Beste an unserer Kultur sein? Das wäre unser Untergang.

PS: Die beste Freundschaft zwischen Menschen und Völkern ist strenge Kritik. Echte Loyalität ist ein Ringen um Wahrheit, um Frieden und Humanität.

Fortsetzung folgt.