Tagesmail vom 16.10.2023
Natur brüllt! XXIV,
Scheinfragen, Scheinanalysen. Kriege sind schlimm genug, noch schlimmer sind seine Ursachen.
Netanjahu wird sich an den Tieren rächen und sich als Triumphator feiern lassen, feiern lassen wollen. Doch niemand – außer seinen religiösen Verbündeten – will ihn auf den Thron heben. Er wird gehen müssen.
In Demokratien gibt es nur eine einzige Gruppe wahrer Schuldiger: das Volk.
Wenn das Volk nicht zugeschaut hätte, wie die Koalition die Verhältnisse allmählich in den Schlamm geritten hätte, würde es die ungelöste Palästinenserfrage noch immer als die beste aller Strategien betrachten.
Endlos hat das Volk Netanjahus Regierungsmachenschaften ertragen. Nur wenige kamen früh genug auf die Idee, ihn davonzujagen. Als viele aufwachten, war es zu spät. Es hat etwas Bequemes an sich, von einem Mächtigen regiert zu werden, dem man – wenn’s denn sein muss – alle Schuld in die Schuhe schieben kann.
Die Alternative wäre gewesen, eine Regierung zu wählen, die eine echte Lösung angeboten hätte. Was ist eine echte Lösung?
Eine humane, die das Wohl aller Beteiligten anstreben würde.
Wer aber will heute Humanität?
Eine humane Lösung wäre möglich, wenn alle Beteiligten diese Meinung für die richtige hielten. Zuerst Theorie, dann Praxis. Doch im Bereich der Theorie sieht es düster aus.
Der Stand der Menschheit hat es so weit gebracht, das Menschliche im Prinzip für richtig zu halten. Wir ahnen zwar, was richtig wäre, bleiben aber dennoch unfähig, es zu realisieren.
Grund: das Menschliche ist dem Machtbewussten stets unterlegen. Der Gute, aber Machtlose, ist dem Mächtigen mit der Waffe in der Hand ausgeliefert.
Der Zweite Weltkrieg war das Ende des Bösen an sich. Die Menschheit schloss sich zusammen, um das prinzipielle Böse zu beerdigen. Nur das Schwache sollte die Chance erhalten, über die Runden zu kommen – wenn auch mit der Formel: bessere dich, um das Unmenschliche zu besiegen.
Ein Weltparlament sollte dafür sorgen, dass Zwiespältigkeiten keine Chancen erhielten, verwirklicht zu werden. Es war schon ein riesiger Fortschritt, das Böse im Parlament zu verurteilen, um es mühsam aus dem Weg zu räumen.
Die Berufung auf das allgemeine Gute, das man nie so realisieren kann, wie es notwendig wäre – sowie der Notbehelf, dem Mächtigen nicht mehr mit der Waffe des reinen Guten zu begegnen – war die theoretische Übereinstimmung unserer Nachkriegszeit.
Das Weltparlament war der Marktplatz, auf dem die gutwilligen Völker miteinander streiten konnten. Wer richtig streitet, hat eine Chance, die Ursachen des Streits zu erforschen und damit zu beenden.
Das sah der Weise der frühen Tage nicht anders:
„Der Meister sprach: Wenn man in den Grundsätzen nicht übereinstimmt, kann man einander keine Ratschläge geben.“ (Kungfutse, XV, 39)
War die Menschheit in der Frühzeit nicht mal einer Meinung? Welche Ursachen haben sie in das Chaos unterschiedlichster Meinungen getrieben?
Hier streiten sich die Gelehrten. Lassen wir sie streiten und fragen uns: was müssten wir heute tun, um die Rivalität der Meinungen so weit zu reduzieren, dass wir uns – wenigstens in den wichtigsten Fragen des Zusammenlebens – nicht länger die Köpfe einschlagen müssen?
Denken wir das heute Verbotene: denken wir einfach. Will ich wissen, was mein Nachbar denkt, muss ich mit ihm sprechen und nach seiner Meinung fragen. Wäre mir das zu wenig, müsste ich seine Taten untersuchen, seine Bücher lesen, seine Geschichte studieren – dann wüsste ich so viel, dass ich mich nicht mehr wunderte über unsere rivalisierenden Meinungen.
Hätten wir unsere Meinungsverschiedenheiten auf den schärfsten Punkt gebracht, könnten wir uns so weit entgegenkommen, dass wir uns in praktischer Hinsicht einigen könnten.
Ein Beispiel:
„Wenn in einem Lande Ordnung herrscht, so ist Armut und Niedrigkeit eine Schande; wenn in einem Lande Unordnung herrscht, dann ist Reichtum und Ansehen eine Schande.“ (VIII, 13)
Ist das kein lächerliches Beispiel und für unsere modernen Verhältnisse völlig untauglich?
Keineswegs. Es gehört zu unserem Alltag, Ansehen mit Reichtum und Macht zu verbinden und Schande mit Armut und Bedeutungslosigkeit. Und genau diese Rangordnung ist am heftigsten umstritten. Die Reichen fühlen sich als Wohltäter der Menschheit, die Armen als Schande der Menschheit.
Das wäre die Meinung der Reichen und Mächtigen der Welt, die anderen denken das Gegenteil. Wer hat Recht?
Das sind keine Privatstreitigkeiten, sondern kolossale Differenzen zwischen Machtblöcken – die zu Ursachen vernichtender Konkurrenzen, ja zu schrecklichen Kriegen werden können.
Was der Satz in schlichten Worten sagt, dazu brauchen die Modernen viele Bücher. Und doch haben sie kein Pünktchen mehr zu sagen als die Einfachen.
Daraus hat sich ergeben: das Richtige oder Wahre ist das Komplexe. Wer sich mit Einfachheit durchmogeln will, ist ein Betrüger.
Die Naturwissenschaft ist zum Vorbild alles Wahren geworden, weil sie an Komplexität kaum zu überbieten ist. Gewann sie ihre Bedeutung einst durch einfache Widerspruchslosigkeit, hat sie längst das Überkomplexe und Widersprüchliche zu ihrem Wahrheitsprinzip erklärt.
Wie stritten sich einst Einstein und Heisenberg über das Prinzip der Unschärferelation. Heute ist jener Streit zum alten Hut geworden. Bleibt aber die Frage: hat man den Streit wirklich durchschaut und beiseite gelegt oder hat man sich an ihn gewöhnt und kann mit ihm umgehen?
Nein, über solche Fisimatenten streitet man heute nicht mehr. Wissenschaft hat Erfolge zu haben. Dann liegt sie richtig. Hat sie keine, kann sie uns gestohlen bleiben.
Die Anbetung der wahrheitsgarantierenden Naturwissenschaften begann in der Galilei-Kepler-Epoche. Bei Kepler galt noch das Motto: das Prinzip der Einfachheit (simplicitas) ist ein absolutes Gesetz, dem die Natur glücklicherweise gehorcht.
Diese Simplizität ist längst abgetan. Wer seine neue Wahrheit nicht in Komplexitäten anbieten kann, sollte sich begraben lassen. Die Kluft zwischen Einfachem und Komplexem hat sich so erweitert, dass das „einfache Volk“ nichts mehr zu bieten hat. Weshalb es auch keine öffentlichen Debatten mehr gibt. Die Komplexen bleiben unter sich, wie die Einfachen unter sich bleiben.
An die Beschimpfung „du Simpel“ haben wir uns schon so gewöhnt, dass wir darüber gar nicht mehr wütend werden.
Was ist das Verheerende an der heutigen Begriffsverwirrung? Dass sie umso eher ankommt, je unverständlicher sie präsentiert wird. Aristoteles hat die Logik erfunden, um den Geist des Denkens zu klären. Die Kirchenväter konnten mit dem Prinzip der Einfachheit nichts anfangen, ihre Heilige Schrift schwappt über von brutalen Widersprüchen.
Nehmen wir das Nächstliegende. Auf der einen Seite das Todesurteil über die Arbeitsverweigerer; Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen, auf der anderen die Aufforderung, das Dasein auf Erden arbeitslos zu verbringen:
„Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. 29 Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.“
Wer nicht arbeiten will, soll durch ein ärmliches Leben bestraft werden, so denken heute Konservative wie Linke. Kennen sie nicht die Sentenzen ihres Neuen Testaments? Harte Arbeit ist für sie die gerechte Folge ihres Sündenfalls. Gleichzeitig können sie nicht genug an KI herumschrauben, um sich selbst den Lohn der Strafe zu ersparen.
Ist die Moderne nicht vorbildlich im Erfinden kluger Maschinen, die ihnen die Strafe mühsamer Arbeit ersparen soll?
Nein, nicht Menschen sollen lernen, sondern die lernbegierige Maschinerie, die jegliches Selberlernen überflüssig macht?
Was überhaupt ist Lernen? Das Einpauken von Dingen, die man im Prinzip nicht selber lernen kann?
„Schwierigkeiten haben und nicht lernen: das ist die unterste Stufe des gemeinen Volks.“ (XVI, 9)
Moment, ist Lernen nicht der Grundmodus unserer Kultur? Wenn du mir sagst, was und wozu du lernen willst, sag ich dir, ob Lernen unbedingt zu unserer Kultur gehört.
Okay, wozu lernen? Um Chancengerechtigkeit zu erlangen, um die Leiter nach oben zu besteigen?!
Dann müssten ja die Aufgestiegenen die Gescheitesten sein! Die wirtschaftlich Erfolgreichen und politisch Mächtigen müssten wissenwollend und verstehend an der Spitze stehen. Doch sie kennen nur die Tricks des Geldverdienens.
Beispiel aus der Ökonomie – ein Großindustrieller warnt vor der Dummheit jugendlicher Klimaschützer:
„Leistungswille und Know-how gehen den Bach hinunter, seit Dilettanten mit der ökonomischen Kompetenz von Schulabbrechern die Rahmenbedingungen der Wirtschaftspolitik setzen.Unser ärgster Gegner sind die Ritter der Apokalypse im eigenen Land. Sie wollen die ganze Welt retten, aber uns reiten sie geradewegs in den Abgrund. Diesen Rittern müssen wir die Zügel aus der Hand reißen!Die neuen Maßstäbe sind nicht mehr kaufmännisch kalkulierbar oder qualitativ messbar. Es sind wolkige, „woke“ Wohlfühl-Begriffe: Vielfalt, Nachhaltigkeit, Fairness, Antidiskriminierung, Klimagerechtigkeit oder Transparenz. Spitzenvertreter von Konzernen und Verbänden lassen sich am Nasenring der Regierungspolitik durch die Arena führen und laufen deren Gut-Wörtern scheinbar freiwillig hinterher.“ (BILD.de)
Geht’s noch abwegiger? Der Herr hat von der Klimakrise offenbar noch kein Wörtchen gehört. Etwas anderes als ordinäre Beschimpfungen fallen ihm nicht ein. Andere Leute würden sich schämen ob solcher Flachheiten. Wenn das die intellektuelle Stimme unserer Industrie ist, sollten wir einpacken.
Dann gehen wir doch einmal zur modernsten Physik und schauen uns die Erkenntnisse eines diesjährigen Nobelpreisträgers an. Was haben Pierre Agostini und Ferenc Krausz erfunden, um unser Unwissen zu reduzieren?
„Pierre Agostini von der Ohio State University gelang es, eine Reihe von aufeinanderfolgenden Lichtimpulsen zu erzeugen und zu untersuchen, bei denen jeder Impuls nur 250 Attosekunden dauerte. Zur gleichen Zeit arbeitete sein Mitpreisträger Ferenc Krausz vom Max-Planck-Institut Garching an einer anderen Art von Experiment, das es ermöglichte, einen einzigen Lichtpuls mit einer Dauer von 650 Attosekunden zu isolieren.“ (SPIEGEL.de)
Wissen wir jetzt mehr über die Natur? Mitnichten. Wer nicht Physik studiert hat, ist genau so dumm wie vorher. Zu vermuten ist, dass unsere Preisträger nicht mehr wissen, um die Natur besser zu verstehen. Natürlich „wissen“ sie eine Menge über vereinzelte Fakten. Doch welchen Sinn diese Einzelheiten außerhalb ihres Expertenwissens haben: da stehen sie erstarrt wie Du und Ich.
Das wäre eine exakte Wiederholung jenes spontanen Entschlusses des Sokrates, bei seinem Lernen die Natur fortan zu ignorieren. Er wollte nur noch darüber nachdenken, was Menschen wissen müssen, um ihr Leben in Einklang mit Mensch und Natur zu bringen. Sokrates` Entschluss war das Ende der griechischen Machterkenntnis über die Natur. Natur sollte man erkennen um des Erkennens willen, nicht um der Macht willen.
Für die Modernen war die sokratische Naturwissen-Verweigerung eine Schwäche, die sie überwinden wollten. „Wissen ist Macht“ – wurde ab jetzt zur Kampfparole gegen die Natur. Die Moderne will über Natur nichts wissen, sie will sie beherrschen. Eine wahre Beziehung zur Natur aber kann nur ein machtfreies Verhältnis sein. Das aber wäre eine schlichte Einfachheit. Die Moderne hingegen will eine komplizierte Beziehung, die ihr eine stumme Bewunderung abnötigt. Fortschritt ist kein Fortschritt der Menschheit im empathischen Naturverstehen, sondern eine wirre Ansammlung bizarrer Daten.
Einfachheit gegen Kompliziertheit: das ist auch das Wesen jedes politischen Konflikts. Ein Volk muss sich selbst erarbeiten, welchen Denkfehlern es erlegen ist, um sich aus dem Chaos zu befreien.
Demokratische Völker sind mündig oder lernen Mündigkeit, um ihre Fehler einzusehen. Sie brauchen keinen Scholz und keinen Netanjahu, um die Schuld an ihrem defekten Staat loszuwerden. Sie brauchen auch keinen hohen IQ, um ihre Karrierefähigkeit zu erfahren. Um den Wettlauf gegen Konkurrenten zu gewinnen, müssen die eigenen Produkte ins beste Licht und die der Rivalen in ein schiefes Licht gerückt werden.
Juden sind ein exzellentes Volk mit einer umstrittenen Auserwähltheitsreligion. Dieses Volk hat oft genug bewiesen, wie man gemeinsame Schwierigkeiten überwindet. Was sie brauchen, sind keine bedingungslos-loyale, sondern kritische Freunde, die ihnen frank und frei ihre Meinung sagen.
Freud war einer der Ihren, dessen Rat an den Menschen lautete: willst du wissen, wer du bist: erkenne dich selbst. Du erkennst dich selbst, wenn du deine Vergangenheit unter die Lupe nimmst.
Fortsetzung folgt.