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Natur brüllt! XXIII

Tagesmail vom 13.10.2023

Natur brüllt! XXIII,

„Darum glaube ich, dass ein Geschlecht wunderbarer Juden aus der Erde wachsen wird. Die Makkabäer werden wieder auferstehen. Wir sollen endlich als freie Männer auf unserer eigenen Scholle leben und in unserer eigenen Heimat sterben. Die Welt wird durch unsere Freiheit befreit, durch unseren Reichtum bereichert und vergrößert durch unsere Größe. Und was wir dort nur für unser eigenes Gedeihen versuchen, wirkt machtvoll hinaus zum Wohle aller Menschen.

Jedenfalls werden die technischen Erfinder, die wahren Wohltäter der Menschheit, auch nach Beginn der Judenwanderung weiterarbeiten und hoffentlich so wunderbare Dinge finden wie bisher, nein, immer wunderbarere. Schon scheint das Wort „unmöglich“ aus der Sprache der Technik verschwunden zu sein. Wo wir Modernen mit unseren Hilfsmitteln erscheinen, verwandeln wir die Wüste in einen Garten. Die Entfernungen sind als Hindernisse überwunden. Die Schatzkammer des modernen Geistes enthält schon unermessliche Reichtümer; jeder Tag vermehrt sie, hunderttausend Köpfe sinnen, suchen auf allen Punkten der Erde, und was einer entdeckt hat, gehört im nächsten Augenblick der ganzen Welt. Wir selbst möchten im Judenlande alle neuen Versuche benützen, vorbilden, und wie wir im Siebenstundentage ein Experiment zum Wohl der ganzen Menschheit machen, so wollen wir in allem Menschenfreundlichen vorangehen und als neues Versuchsland und Musterland vorstellen.

Jeder ist in seinem Bekenntnis oder in seinem Unglauben so frei und unbeschränkt wie in seiner Nationalität. Und fügt es sich, dass auch Andersgläubige, Andersnationale unter uns wohnen, so werden wir ihnen einen ehrenvollen Schutz und die Rechtsgleichheit gewähren. Wir haben die Toleranz in Europa gelernt. Den jetzigen Antisemitismus kann man nur an vereinzelten Orten für die alte religiöse Intoleranz halten. Zumeist ist er bei den Kulturvölkern eine Bewegung, mit der sie ein Gespenst ihrer eigenen Vergangenheit abwehren möchten.

Wenn die Verwirklichung des Staatsgedankens näherrückt … müssen es moderne Gesetze sein, auch da überall das Beste zu verwenden. Es kann eine vorbildliche Kodifikation werden, durchdrungen von allen gerechten sozialen Forderungen der Gegenwart.

Der Judenstaat ist als ein neutraler gedacht. Er braucht nur ein Berufsheer – allerdings ein mit sämtlichen modernen Kriegsmitteln ausgerüstetes – zur Aufrechterhaltung der Ordnung nach außen wie nach innen.

Denn wir sind ein modernes Volk und wollen das modernste werden. Wo sich aber Widerstände zeigen, wird die Society sie brechen. Sie kann sich im Werke durch beschränkte oder böswillige Individuen nicht stören lassen.“ (Theodor Herzl, Der Judenstaat)

Im Nahen Osten ist der Kampf aller Kämpfe ausgebrochen: der Kampf um die beste Religion.

Es ist kein Kampf um den besten Erlöser, denn der neue Judenstaat will als bester Staat die Welt erlösen.

Das Christentum sieht seine Erfüllung im Jenseits. Wer glaubt, wird selig, wer nicht glaubt, wird verdammt werden. Mit irdischer Politik hat das Ganze nichts mehr zu tun. (Augustin)

Das jüdische Paradies ist das Ergebnis der eignen genialen Arbeit. Die Wüste wird verwandelt in einen Garten Eden. Die nötigen Hilfsmittel werden von genialen Menschen selbst erworben.

Natur wird keinesfalls durch Mensch und Technik ausgerottet oder beschädigt. Im Gegenteil. Was Gott im letzten Buch des Neuen Testaments verheißen hat, wird der Mensch durch sein eigenes Ingenium verwirklichen.

Technik ist nichts Naturwidriges, sondern die Krönung der irdischen Schöpfung.

Die besten Menschen sind die Erbauer einer Utopie auf Erden. (Nichts für Hayek und Popper, die eine Utopie auf Erden für eine Hölle halten.)

Einst wurden die Völker per Zufall über die Welt verstreut. Kein Vorbild für die moderne Ordnung der Welt, die nach wissenschaftlichen Grundsätzen etabliert werden muss. Die Epoche des Zufalls ist vorbei.

„Als die Völker in den historischen Zeiten wanderten, ließen sie sich vom Weltzufall tragen, ziehen, schleudern. … Die neue Judenwanderung muss nach wissenschaftlichen Grundsätzen erfolgen. Heute … ist dem Zufall wenig überlassen. Sobald uns das Land gesichert ist, fährt das Landnahmeschiff hinüber.“

Und wer ist der neue Moses, der die Erwählten in ihr neues Land führen wird?

Es wird kein einzelner Mensch sein:

„Die Society of Jews ist der neue Moses der Juden. Wir spielen dieselbe Melodie mit viel, viel mehr Violinen, Flöten, Harfen, Knie- und Bassgeigen, elektrischem Licht, Dekorationen, Chören, herrlicher Ausstattung und mit ersten Sängern.“

Das bedeutet nicht, die jüdische Religion müsse zur Zwangsbeglückung des Landes werden.

„Wir wollen drüben jeden nach seiner Fasson selig werden lassen. Auch und vor allem unsere teuren Freidenker, unser unsterbliches Heer, das für die Menschheit immer neue Gebiete erobert.“

Das neue Paradies soll kein Faschismus sein – wie kurz nach Herzl im Land der Deutschen ein Führer das Neue Reich definierte.

Herzl ist kein ordinärer Kritiker des Kapitalismus.

„Warum betreiben die reichsten Juden so viele verschiedene Industrien? Warum schicken sie Leute unter die Erde, um für mageren Lohn unter entsetzlichen Gefahren Kohle heraufzuschaffen? … Ich glaube ja nicht an die Herzlosigkeit der Kapitalisten und stelle mich nicht, als ob ich es glaubte. Ich will ja nicht hetzen, sondern versöhnen.“

Das neue Land der Juden wird den Kapitalismus nicht zerstören, sondern die Reichen und Armen miteinander versöhnen.

Warum brauchen die Juden eine neue Heimat? Weil sie von anderen Nationen endlich gemocht werden wollen.

„Wo wird man uns denn mögen, solange wir keine eigene Heimat haben? Wir wollen den Juden eine neue Heimat geben, indem wir sie mit ihrem ganzen Wurzelwerk vorsichtig ausheben und in einen besseren Boden übersetzen. So wie wir im Wirtschaftlichen und Politischen neue Verhältnisse schaffen wollen, so gedenken wir im Gemütlichen alles Alte heilig zu halten.“

Klingt Herzls Utopie nicht human und verlockend? Was muss da passiert sein, dass heute – nach dem mörderischen Überfall der Hamas – dieser Staat ermahnt werden muss, seine Rache nicht ähnlich durchzuführen?

„Die Attacke der Hamas war der schlimmste Auswuchs des Judenhasses seit dem Holocaust. Die Terroristen und ihre Rädelsführer sehen in den Israelis nicht Menschen, sondern Feinde, die es auszulöschen gilt. Israel hat das Recht, dafür zu sorgen, dass sich ein solcher Angriff nicht mehr wiederholen kann. Der Krieg, der nun kommt, ist dem Wesen nach ein gerechter Krieg. Aber damit steht Israel nicht außerhalb jeder Diskussion. Wer die staatlichen Akteure dort kritisiert, setzt sich schnell dem Vorwurf aus, antisemitisch zu denken. Aber eine Kritik, die nicht von Hass, Neid oder Verachtung geleitet wird, eine rational-politische Kritik, ist nicht antisemitisch. Gerade für Deutsche kommt es auf den Ton an, doch grundsätzlich kann und soll es auch in der Bundesrepublik eine lebhafte Debatte über Israel geben. Im offenen Wort erweist sich Freundschaft, wobei immer zu bedenken ist, dass sich Rat oder Kritik aus der sicheren Ferne wohlfeil anhören können, gerade für Menschen, die in einem Albtraum stecken.“ (SPIEGEL.de)

Was muss geschehen sein, dass die Deutschen – einst die schrecklichsten Feinde Israels – ermahnt werden müssen, vor lauter Schuldritualen die einfachsten Freundschaftsdienste nicht zu vergessen? Trauen sie ihren Freunden nicht die einfachste Pflichterfüllung zu? Wissen sie nicht, dass Freundschaft auch aus fürsorglicher Kritik besteht?

Was muss passiert sein, dass Moshe Zuckermann, israelischer Historiker, der BILD-Zeitung – die sich der engsten Freundschaft mit dem neuen Staat brüstet – vorhalten muss:

„Wann hat sich die BILD-Zeitung je darin hervorgetan, die Politik Israels zu kritisieren? Die mehr als 50 Jahre währende Besatzung mit all ihren menschen- und völkerrechtswidrigen Übertretungen und brutalen Verbrechen? Das heutige Israel kann nicht als Demokratie angesehen werden: Ein Kollektiv, das ein anderes Kollektiv knechtet, ihm mithin das Selbstbestimmungsrecht verwehrt und in den letzten Jahren die eigenen demokratischen Institutionen zunehmend infrage stellt oder gar regelrecht abbaut, kann nicht den Anspruch erheben, demokratisch zu sein.“ (Der allgegenwärtige Antisemitismus oder die Angst der Deutschen vor ihrer Vergangenheit)

Oder wie kann ein Kritiker der Meinung sein:

„Ich habe Angst um Israel. Sie haben alle Hemmungen verloren. Seit dreißig Jahren, seit ich hierher komme, habe ich noch nie so viel Gewalt im Alltag erlebt? Deine Gesellschaft ist krank, schwer krank … Wie kann es in einem Kinderlied heißen: die ganze Welt ist gegen uns? Das Verhalten Israels auf der internationalen Bühne macht den jüdischen Staat in der ganzen Welt verhasst?“ (Michael Warschawski, Die Krise der israelischen Gesellschaft)

Wie konnte Uri Avnery über die „Vaterfigur“ Ben Gurion schreiben:

„Er hat an den Frieden mit den Arabern nie geglaubt, ihn vielleicht auch gar nicht als wünschenswert angesehen. Er nutzte vielmehr jede Gelegenheit, die Grenzen Israels auszudehnen. Es gibt in den israelischen Medien eine täglich geführte wüste Hasspropaganda. Die Straße in Israel ist ganz den Rechtsradikalen überlassen, total, auf eine unglaubliche Weise. Die Palästinenser werden aus der Perspektive von überheblichen Herrenmenschen beobachtet, die die Palästinenser gewissermaßen als Ungeziefer auf dem Boden herumkriechen sehen.“ (Avnery, Zwei Völker, zwei Staaten, Vorwort von Rudolf Augstein, 1995)

Es gibt so viele scharfe Kritiker Israels, die selbst Juden sind. Unter ihnen Hajo G. Meyer, der in seinem Buch „Das Ende des Judentums, der Verfall der israelischen Gesellschaft“ schreibt:

„Die Politik der israelischen Regierung hat Züge angenommen, die mit den zentralen Werten des Judentums unvereinbar sind. Der Konflikt mit den Palästinensern korrumpiert die israelische Kultur. Es kann nicht länger verschwiegen werden, dass alles, was dort passiert, peinlich, tief tragisch und beschämend ist. Viele unserer Kinder werden in den Religionsschulen indoktriniert, die Araber seien Amalekiter – und die Amalekiter, so lehrt uns die Bibel – müssen ausgerottet werden. Die Strafe, die sie dafür verdienen, steht im 1. Sam 15, 3: Verschone sie nicht, sondern töte Mann und Weib, Kinder und Säuglinge. Und Exodus 17,4 garantiert Gott dem Mose: Ich will Amalek unter dem Himmel austilgen, dass man seiner nicht mehr gedenke.“

Die heutigen jüdischen Verteidiger des israelischen Unrechtskurses sind schon dabei, den Gegnern die korrekte deutsche Sprache vorzuschreiben:

„Das Wort alttestamentlich ist neutral, während es sich bei dem Wort alttestamentarisch um eine judenfeindliche Schmähvokabel handelt. Wer dieses Adjektiv verwendet, will keineswegs darauf hinweisen, dass das Gebot der Nächstenliebe im Alten Testament verankert ist oder dass die alttestamentlichen Propheten dem Volk Israel einschärften, die Rechte der Armen zu achten.“ (WELT.de)

Was vor dem Krieg gang und gäbe war, scheint sich zu wiederholen. Christliche Theologen schmähten das Alte Testament, um das Neue Testamen auf eine höhere Stufe zu stellen. Der Bergprediger sollte dem griechischen Humanismus näher stehen als die alttestamentarischen Verfluchungen. Es gehörte zum verbreiteten Verständnis der christlichen Theologie, dass sie den Anschluss an Sokrates suchten, indem sie den gemeinsamen Hass auf die Welt der beiden Testamente möglichst unter den Teppich kehrten.

Alles spitzt sich zu. Die Kalte Krieg-Atmosphäre um 1980, in der nur ein aufmerksamer sowjetischer Offizier namens Petrow das Schlimmste, eine atomare Auseinandersetzung, verhindern konnte. Heute bräuchten wir einen zweiten Petrow, der die drohende Weltschande ein zweites Mal verhindern müsste.

Alle benutzten Zitate stammen vor allem von unbestechlichen israelischen Selbstkritikern – die in Deutschland niemand kennen will. Bei uns herrscht das Prinzip der bedingungslosen blinden Loyalität. Aufrechte Demokraten sind in deutschen Landen nicht gefragt.

Ein einziger Artikel in der Berliner Zeitung stammt von Gideon Levy, dem Kritiker der immer weiter nach rechts rückenden Mehrheit:

„Der in Deutschland geborene Uri Avnery, ein Veteran des israelischen Unabhängigkeitskrieges, war bis zu seinem Tod vor fünf Jahren die Personifizierung der israelischen Friedensbewegung. Er war umstritten, weil er für Gespräche mit der Hamas eintrat. Vor dem entsetzlichen Verbrechen verschließen die Mitglieder seiner Friedensorganisation Gusch Schalom nicht die Augen: „Die Hamas-Leute haben schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, und das sollte ehrlich und ohne zu zögern gesagt werden. Sie haben entsetzliche Verbrechen gegen Zivilisten, ältere Menschen, Frauen und Babys begangen“, schreibt Avnerys frühere Mitstreiterin, die Friedensaktivistin Yehudit Har’el. „Kein großer Racheakt an den Palästinensern wird das Problem lösen. Nur das Austrocknen des Sumpfes der Besatzung, der Unterdrückung, der Demütigung und der Verweigerung des Rechts auf ein Leben in Würde und Freiheit kann eine neue Realität für uns und für die Palästinenser schaffen. Auch das „Israelische Informationszentrum für Menschenrechte in den Besetzten Gebieten“ (B’Tselem) verurteilte den Großangriff der Hamas vom Samstag als „schockierendes Verbrechen, dessen entsetzliche Dimensionen langsam deutlich werden“. Es warnt das israelische Militär jedoch vor „absichtlichen Angriffen auf Zivilisten“, die nicht gerechtfertigt wären.“ (Berliner-Zeitung.de)

Woran erkennt man die siedende Brisanz der Zeit? Daran, dass die Mächtigen vom Bösen zu reden beginnen. Wird die Welt in Gut und Böse, in Gott und Teufel gespalten, fehlt nur noch der rote Knopf, mit dem das Äußerste verhindert werden könnte.

In einem Gespräch mit seiner Mutter, in dem Avraham Burg über das heutige Israel klagte, antwortete sie:

„Das ist nicht das Land, das wir aufgebaut haben. Wir haben 1948 ein anderes Land gegründet, aber ich weiß nicht, wohin es verschwunden ist.“ (Hitler besiegen, Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss)

Fortsetzung folgt.