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Natur brüllt! XXII

Tagesmail vom 09.10.2023

Natur brüllt! XXII,

Solidaritäts-Schwur des Axel Springer Verlags für Israel:

„Wir verurteilen den gestrigen Angriff auf Israel durch die Terrororganisation Hamas, bei dem Hunderte von Zivilisten getötet und Tausende verletzt wurden, aufs Schärfste. Axel Springer steht in uneingeschränkter Solidarität mit dem Staat Israel. Am Samstagabend wurde die Flagge Israels neben jener der Ukraine, Deutschlands und Europas auf dem Vorplatz unseres Berliner Hauptsitzes gehisst. Wir sind zutiefst besorgt über den unverhohlenen Antisemitismus, der seit gestern offen zur Schau gestellt wird. Einige Gruppen feiern den Hamas-Angriff in einigen deutschen Städten öffentlich. Dieses Verhalten ist in keiner Weise akzeptabel und angesichts der historischen Verantwortung Deutschlands besonders verstörend. Am Samstagnachmittag wurde ein Kamerateam von WELT TV in Berlin-Neukölln bedroht, als es Reaktionen auf den Angriff auf Israel einsammeln wollte. Eine Gruppe junger Menschen zwang das Team dazu, das Filmmaterial zu löschen. Wir fordern die Behörden nachdrücklich dazu auf, die notwendigen Schritte dieses Angriffs auf die Pressefreiheit zu ergreifen.“ (BILD.de)

Kann es sein, dass der Schwur von einem schweren Fehlverhalten der Deutschen ablenken soll? Von dem Fehlverhalten, die Israelis durch fehlende Freundschaftskritik allein gelassen zu haben? Dem SPRINGER-Verlag geht es um ihn selbst, er schottet sich ab von jeder Kritik.

Ist Deutschland schuld an Israels Debakel?

Seltsamerweise sind es deutsche Juden, die eher Ja antworten, während israelische Juden Deutschland fast nicht erwähnen.

Eher ja sagt Michael Wolffsohn:

„Direkte Schuld trägt Deutschland nicht am jetzigen Hamas-Krieg gegen Israel. Wohl aber eine indirekte an den unsäglichen Barbareien der palästinensischen Krieger an den überfallenen Israelis. Die Bilder, also die Wirklichkeit, ist von nahezu unbeschreiblicher Grausamkeit.“ (WELT.de)

Uneingeschränkt ja antwortet Alan Posener:

„Solidarität mit Israel statt Friedensappelle; und kein Geld mehr nach Gaza, bis Gaza befreit ist.“ (WELT.de)

Legitim wäre Poseners Kritik, wenn Deutschland nicht darauf achtete, ob seine humanen Gelder für militärische Ziele zweckentfremdet werden. Und dennoch, so müsste man entgegnen, wäre es ein Akt, der von den Palästinensern als feindlich empfunden würde, wenn das Geld in toto gestrichen würde.

Posener will kein Deutschland, das beide Seiten sieht. Er will Deutschland allein auf der richtigen Seite und das ist Israel:

„Solidarität mit Israel statt Friedensappelle“.

Mit anderen Worten: kein Humanitätsgefasel mehr, sondern eindeutige Parteinahme für das richtige Land.

Das wäre ein klarer Verstoß gegen die UN-Charta:

„Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.“

Endloser Krieg zwischen Juden und Palästinensern, welches Terrain den „Heimkehrern in ihr biblisches Land“ zusteht und welches den Arabern. Schon die ersten Zionisten waren wild entschlossen, peu a peu das gesamte, in der Bibel genannte Gelände der Erwählten Jahwes für den neuen Staat zurückzuholen. Manche sagten es deutlich, manche strichen um den heißen Brei herum.

Inzwischen gibt es keine Zweifel mehr, dass die rechtsradikalen Biblizisten und die Mächtigen des Landes das Ganze für sich haben wollen. Wenn’s sein muss, mit Gewalt, Friedensschlüsse werden nur als taktische Zwischenschritte akzeptiert.

Damit ist die UN-Charta mit dem obersten Ziel des allgemeinen Friedens abgetan. Wer sich auf sie beruft, ist ein Phantast oder Träumer, als Realpolitiker nicht ernst zu nehmen.

Mit dieser Strategie stünde Israel an der Seite jener Staaten, die von der Moral der UN nichts mehr wissen wollen. Im endlosen Kampf zwischen humanistischer Moral und machtgeleiteter Konkurrenz um die besten Plätze in der Welt wäre die Entscheidung gefallen.

Wie kam es zur Gründung des neuen Staates auf uraltem heiligen Boden? Die so oft verfolgten und ausgeschlossenen Juden hatten es satt, endlose Jahre in politischer Diaspora zu verbringen und sich auf der ganzen Welt auf alle Völker zu verteilen. Für gläubige Jahwisten gibt es ohnehin keine Zweifel, dass die Zeit sich dem Ende der Geschichte nähert und die Erwählten endlich auf ihren himmlischen Lohn warten können.

Sind humanistische Friedensziele nicht auch die Leitlinien der Deutschen? Sie waren es – kurz nach dem Krieg. Doch seitdem der globale Pazifismus immer mehr von den führenden Nationen der Welt geschreddert wird, erlahmen auch bei uns die Kräfte für globale Menschheitsziele.

Klammheimlich kehrte die Welt der Utopie den Rücken und bevorzugt immer mehr die machtgeleiteten Nationalgefühle. Das ist der Kern des gegenwärtigen Rechtsrucks. Es sieht so aus, als wäre das Ziel der Nationen die Rivalität um die besten Plätze in der Weltgeschichte.

Die Abkehr von der UN-Charta begann in den USA, als die Neocons immer mehr in der internationalen Politik mitreden konnten. Ist Amerika noch immer der treueste Befürworter der UN-Charta – oder kehrt der mächtigste Staat der Welt zurück zu seinem früheren kolonialen Ehrgeiz: Amerika zuerst?

In Amerika rangen die beiden Urelemente des neuen Kontinents: die calvinistischen Puritaner gegen die aufgeklärten Demokraten – die schon seit den ersten Gründerzeiten miteinander im Clinch lagen. Nach dem gewonnenen Weltkrieg triumphierten die humanistischen Demokraten und gründeten die UN mit dem Ziel, die Welt in Frieden miteinander zu verbinden.

Doch je mehr der Kapitalismus – besonders in der Form des Neoliberalismus – das Zepter der Weltwirtschaft und damit der Weltpolitik übernahm, je mehr setzte sich der Ungeist der Rivalität durch: welche Nation wird den Wettlauf um die reichste und mächtigste Position gewinnen?

Wettbewerb und nationaler Triumph gingen Hand in Hand. Es ging immer weniger um universale Menschheitsziele, und immer mehr um den Egoismus der Einzelnationen. Je mehr die bislang „unterentwickelten“ Drittweltländer sich aus ihrer kolonialen Unterdrückung lösten, den westlichen Ländern den Vorwurf des heuchelnden Gemeinsinns machten, umso mehr fühlten sich diese wieder gedrängt, ihre führende Positionen mit aller Kraft und Raffinesse zu verteidigen. Der humane Menschheitsgeist zerbröselte und hinterließ den Egoismus der Einzelstaaten.

Die ersten Zionisten, vornehmlich aus den Oststaaten, trugen alle geistigen Elemente der Weltentwicklung in sich. Am wenigsten aber waren sie religiös, obgleich sie sich nach Zion benannten, dem Ziel ihrer neuen Staatsgründung in Jerusalem.

Weshalb sie auch ihre Ultrafrommen ursprünglich nicht dabei haben wollten. Dennoch gelang es denen, sich dem Trend der neuen Wanderung anzuschließen. Und siehe, sie schafften es, sich ganz langsam in das gottlose Staatswesen einzufügen und das interne Staatswesen immer mehr in ihrem Sinn zu gestalten. Ihre Koalition mit der Netanjahu-Regierung ist für sie die Krönung dieser Entwicklung.

Wie war das möglich? Religionen schüttelt man nicht einfach ab. Man schaue auf Europa, wo die Aufklärung schon seit Jahrhunderten mitwirkt und dennoch gelingt es der Religion, durch verschiedenste Assimilationen und Säkularisierungen sich immer wieder neu anzupassen.

Deutschland will beispielsweise mit dem amerikanischen Biblizismus nichts zu tun haben, dennoch definiert es sich immer noch als christliches Land.

In ähnlichem Sinn beschreibt Israels Gründer Theodor Herzl die psychische Verfassung der ersten Juden:

„Wir haben überall versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwengliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger. Im jetzigen Zustande der Welt geht Macht vor Recht. Wenn man uns in Ruhe ließe … Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen. Durch Druck und Verfolgung sind wir nicht zu vertilgen. Kein Volk der Geschichte hat solche Kämpfe und Leiden ausgehalten wie wir. Die Judenhetzen haben immer nur unsere Schwächlinge zum Abfall bewogen. Die starken Juden kehren trotzig zu ihrem Stamm heim, wenn die Verfolgungen ausbrechen. Die Volkspersönlichkeit der Juden kann, will und muss nicht untergehen. Sie will nicht, das hat sie in zwei Jahrtausenden unter ungeheuren Leiden bewiesen.“ (Der Judenstaat)

In diesem Text gärt es noch gewaltig. Die Zionisten schwankten zwischen ihrer Religion und einer neuen Menschheit, die sie anführen wollten – dank ihrer überlegenen Intelligenz und ihrem Gefühl des Zusammenhaltens.

Sie wollten zur Menschheit, aber der Menschheit trauten sie nicht. Deshalb blieben sie ihrer alten Überlegenheitsreligion treu, wenngleich durch neue Elemente an die Zeit angepasst:

„Darum glaube ich, dass ein Geschlecht wunderbarer Juden aus der Erde wachsen wird. Die Makkabäer werden wieder auferstehen. Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben. Wir sollen endlich als freie Männer auf unserer eigenen Scholle leben und in unserer eigenen Heimat ruhig sterben. Die Welt wird durch unsere Freiheit befreit, durch unseren Reichtum bereichert und vergrößert durch unsere Größe. Und was wir dort nur für unser eigenes Gedeihen versuchen, wirkt machtvoll und beglückend hinaus zum Wohle aller Menschen.“

Auf neuer und dennoch uralter Scholle soll der alte Traum eines nationalen Messianismus zur endgültigen Realität werden.

Warum sind die Dinge in Israel in den letzten Jahren so schiefgelaufen, dass niemand auf die Entwicklung der Feinde achtete? Ja, die Versäumnisse ihres eigenen demokratischen Rechtsstaates wurden erst in den letzten Monaten erkannt und so bedrückend empfunden, dass fast das ganze Volk sich auf der Straße versammelte, um gegen Netanjahu & Ultrarechte zu demonstrieren.

Sehr viel anders als im allgemeinen Rechtsruck der anderen Staaten war es gar nicht. Nur mit der Tönung des Messianischen, das man anfänglich glaubte, akzeptieren zu müssen. Jetzt erst dämmert es den Vielen, dass es um die alten Feinde der Demokratie geht, die man nicht wieder ans Ruder lassen darf.

Die Israelis waren so beschäftigt mit Selbstfindungsprozessen, dass sie nicht mehr bemerkten, wie die Feinde jenseits der Grenzen aufmarschierten, um bei der erstbesten Gelegenheit die Mauern und Zäune zu durchbrechen und die Menschen gefangen zu nehmen, schonungslos zu quälen und zu töten.

Niemand in der Welt hielt dieses schreckliche Spektakel für möglich, denn Israel galt als technisch und militärisch hochpotente Nation. Noch vor kurzem erklang das Loblied: das Volk der einstigen Opfer verteidigt das Land der Täter. Womit? Durch Lieferung hochkomplexer Raketen. Und heute?

Wie in Deutschland niemand Rechenschaft ablegen kann, ob das Land sich entwickelt hat und auf welchem Niveau es angekommen ist, so in Israel. Das Gesetz der Moderne lautet nämlich: Nicht zurückschauen, alle Augen nach vorwärts richten. Wir leben von der unbekannten Zukunft, die Vergangenheit in den Abfall.

In den heutigen Kommentaren wird über die vielen Konflikte der jüngsten Vergangenheit zwischen Linken und Rechten fast nichts berichtet. Es bleibt nur ein Schuldiger: Netanjahu.

„Netanjahu trägt die Schuld dafür, dass unsere Gesellschaft so tief gespalten ist. Das hat uns geschwächt. Sie haben uns unvorbereitet erwischt. Viele Israelis mussten deshalb sterben. Netanjahu hat seit Jahren lieber Deals mit der Hamas gemacht als mit der sehr viel moderateren Palästinensischen Autonomiebehörde. Diese Tragödie ist ein Resultat seines Handelns.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Oder die Stimme Ehud Olmerts, des früheren Präsidenten:

„Es gibt eine signifikante Fraktion unter Palästinensern und Arabern, die die Anwesenheit von Juden in Israel nicht dulden wollen. Das sind natürlich keine Partner für einen Frieden. Leider ist es diesen Kräften gelungen, die Stimmung unter der palästinensischen Führung zu beeinflussen. Wir haben dazu beigetragen, weil wir keinen glaubwürdigen Verhandlungsprozess verfolgt haben und die dialogbereiten Kräfte nicht gestärkt haben.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Mit anderen Worten: die überfällige Selbstfindung des neuen Staates wurde durch die zunehmende Macht der Ultras zerfetzt. Kein Wunder, dass keiner der bekannten linken Namen erwähnt wird. Wie in Deutschland gilt inzwischen nur Ökonomie, Technik und Macht. Das Bewusstsein der Menschen bleibt im Dunkeln.

Israel und Deutschland, die beiden Staaten, wissen nicht, wo sie stehen. Wie in fast allen westlichen Staaten, die nach rechts driften, hat sich ihr Selbstbewusstsein aus dem Staub gemacht.

Nötig wäre die Bildung eines neuen globalen Weltbewusstseins. Panzer und Roboter brauchen wir dazu nicht.

Fortsetzung folgt.