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Natur brüllt! XXI

Tagesmail vom 06.10.2023

Natur brüllt! XXI,

Natur schlägt zurück. Die Wanzen kommen.

„Die Schädlingsbekämpfer berichten jedoch von steigenden Zahlen in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren. Die Menschen reisen häufiger und weiter und bringen sich die Plage nach Hause mit. Gleichzeitig haben die Bettwanzen Resistenzen gegen die effektiven Gifte entwickelt. Zudem vermehren sie sich schneller, wenn es wärmer ist. Brauchen Bettwanzen bei Zimmertemperatur etwa zwei Monate für die Entwicklung vom Ei zur geschlechtsreifen Wanze, kann der Zyklus bei 27 Grad sogar in einem Monat durchlaufen werden. Und die Temperaturen steigen auch in Deutschland.“ (ZEIT.de)

Da gibt es Ähnlichkeiten zwischen Wanzen und Menschen. Menschen fressen alles auf, was ihnen in die Quere kommt. Wie die Wanzen kennen sie keine Moral der Rücksichtnahme und trampeln alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt.

Die Wanzenähnlichsten unter den Menschen wurden von Titus Gebel in seinem Buch „Freie Privatstädte“ beschrieben.

Sie sind unzufrieden mit den heutigen Staaten. Hier könnten sie nicht nach ihrer Facon leben.

In normalen Staaten könnten echte Wanzen nicht überleben. Sie brauchen keine Kollektivstaaten, die ihnen vorschreiben, wie sie leben sollen:

„Die Souveränität des Einzelnen ist freilich der Gegenpol zu allen Kollektivideen politischer oder religiöser Prägung, die von den Menschen fordern, zugunsten eines Gemeinwohls oder der göttlichen Ordnung vom Wunsch auf ein selbstbestimmtes Leben Abstand zu nehmen. Unter Beachtung des Gewaltverzichts gegen andere hat jeder Mensch das Recht, sein Leben zu führen, wie er das für richtig erachtet. Er will keine Mitbestimmung, sondern Selbstbestimmung. Derjenige, der anderen kein Leid zufügt, hat Anrecht darauf, in Ruhe gelassen zu werden, auch von der Regierung oder der Mehrheit. Hier kämpfen wir nach wie vor leidenschaftlich darum. Welches die „richtige“ oder „gerechte“ Art des Miteinanders ist.“

Mit der griechischen Demokratie hat diese Wanzenutopie nichts zu tun Nennen wir sie Oligarchie, die Herrschaft der Wenigen über die Mehrheit.

Herrschen denn in der Utopie der Wenigen, die Superreichen, über die Masse der Armen? In Gebels Idealstaat regiert niemand über niemanden.

Jeder Mensch ist ein Wesen, das allein über sich bestimmt. Müsste er nicht vollkommen allein leben, um nichts Gemeinsames zu haben, über welches alle mitbestimmen könnten – wenn sie ein Chaos vermeiden wollten?

Jedem Individuum ein Staat, der nur nach seinen eigenen Grundsätzen funktionieren darf? Ein Individuum ist etwas Unvergleichliches, Einmaliges. Was aber, wenn das Individuum Titus Gebel Frau, Kinder und Freunde hat, die ihm in vieler Hinsicht ähnlich wären?

Welches Individuum wird, wenn es um die Frage geht: wie sollen wir leben, dann entscheiden? Welche Landwirtschaft brauchen wir? Was wollen wir essen oder trinken? Nach welchen Regeln wollen wir miteinander umgehen?

Mit anderen Worten: welche Kultur wollen wir? Eine, in der alle gleichberechtigt mitreden können? Auch Kinder? Auch die sozial Gefährlichen?

Aristoteles nennt die asozialen Machtbewussten und Einzigartigen Idioten oder Privatleute – die sich von der Polis absentiert haben.

Solange die Einzigartigen nicht allein für sich leben, sich nicht allein ernähren können, müssen sie sich mit dem Problem der Macht herumärgern. Macht hat, wer entscheidet, wie zwischenmenschliche Probleme gelöst werden.

Da wir Moral nennen, nach welchen Regeln wir miteinander umgehen sollen, wären auch „Idioten“ die Erfinder und Bestimmer der Moral. Nach traditioneller Definition wären Einzelwesen, die die ganze Macht über sich haben: Götter, Engel oder sonstige Fabelwesen.

Was bedeuten würde, Gebels Individuen sind göttergleich. Er bringt die Mythologie zurück an die Macht.

Die bisherige Geschichte ist in allen Variationen eine Geschichte verschiedener Gemeinschaften, in denen es Götter nur als subjektive Glaubensprojektionen gibt. Wer nicht an diese glaubt, muss andere Machtinstanzen entwickeln, an die er glauben kann, um seine Probleme zu lösen.

„Hier kämpfen wir nach wie vor leidenschaftlich darum, welches die „richtige“ oder „gerechte“ Art des Miteinanders ist. Warum akzeptieren wir nicht einfach, dass wir Menschen verschieden sind, und dass das, was A gefällt, B noch lange nicht zusagen muss?“

Gebels naive Fragen und Feststellungen sind nichts anderes als der Versuch, die gesamte Geschichte der Menschheit auf den Kopf zu stellen. Er stellt sich borniert, schaut verträumt aus dem Fenster und fragt sich, warum er in einer Villa wohnt, die von anderen gebaut wurde, warum er in einen Supermarkt gehen muss, um zu kaufen, was endlose Lieferketten angekarrt haben. Dass er sich mit Behörden rumärgern muss, wenn jemand in sein Allerheiligstes eingebrochen ist, um seine teuren Bilder zu stehlen. Diese Kunstwerke sind umso teurer, je mehr andere Menschen sie bewundern. ER braucht Geld, das nur im Austausch mit anderen entstehen konnte.

Gebel muss die ganze Lerngeschichte der Menschheit wiederholen, aber nicht in Pro und Contra, sondern in völliger Zertrümmerung des Überlieferten. Denn was er hier als private Utopie beschreibt, ist ein bloßes Konstrukt der künstlichsten Art.

Dabei will Gebel gar nicht als indischer Eremit weit ab von der belebten Welt hausen. Aus seiner Selbstbeschreibung:

„Nach über 30 Jahren politischer Aktivität kam er zum Schluss, dass Freiheit im Sinne von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung in herkömmlichen Systemen nicht zu erreichen sei. Seine Lösung: mit Freien Privatstädten ein völlig neues Produkt auf dem „Markt des Zusammenlebens“ schaffen, das bei Erfolg Ausstrahlungswirkung haben wird. Zusammen mit Partnern arbeitet er derzeit daran, die erste Freie Privatstadt der Welt zu verwirklichen.“

Was er mit einer Privatstadt will, ist das Gegenteil dessen, was er angeblich für richtig hält. Offensichtlich geht er davon aus, dass die Mitbewohner seiner Superstadt alle so ideal sind, dass sie sich durch soziale Regeln keinerlei Selbstbeschränkungen oder Kompromisse auferlegen müssten. Geht’s noch abstruser?

Vernunft und Dialogfähigkeit scheinen seine idealen Mitmenschen nicht zu kennen, sodass sie mit Argumenten nicht überzeugen können.

Dabei ist seine Wunschwelt alles andere als originell. In jedem Philosophie-Lexikon ist beschrieben, was er sich als idealen Menschen vorstellt:

„Was ist, fragt Stirner, die Menschheit? Das wahrhaft Konkrete ist der einzelne, die selbstherrliche Persönlichkeit. Sie schafft ihre Welt in ihrer Vorstellung und ihren Willen; deshalb reicht ihr Eigentum so weit als sie will. Sie erkennt nichts über sich an: sie kennt anderes Wohl als das eigene, und dient keinem fremden Gesetz oder fremden Willen. Denn es gibt für sie nichts anderes als sie selbst. So gelangt Stirner durch eine Verdrehung der Fichte’schen Lehre vom „allgemeinen Ich“ zum „Egoismus“ im Theoretischen wie im Praktischen: er spielt den Solipsisten und predigt die skrupellose Selbstsucht.“ (Windelband-Heimsoeth)

Hier träumt ein heranwachsender Knabe von seinem persönlichen Paradies.

Wie frei der Erbauer einer Freien Stadt wirklich ist, zeigt seine Abneigung der freien Erziehung. Dabei versteckt er sich hinter ökonomischen Gründen:

„Tatsächlich steckt hinter dem „Menschenrecht auf Bildung“ wieder nur der profane Wunsch, auf Kosten anderer zu leben.“

Dass es ein freies Lernen gibt, in dem die Kinder selbst herauskriegen können, was sie und in welchem Zusammenhang sie etwas lernen wollen, wird von Gebel nicht mal erwähnt.

Ein freies Lernen gab es in Athen, wo die Jugendlichen selbst ihre Lehrer aussuchen konnten: davon hat der Solipsist nicht die geringste Ahnung.

In Athen suchten sich die Wißbegierigen einen gewissen Sokrates aus, mit dessen Fragemethoden sie ihre Autoritäten in die Enge treiben konnten. Wen wundert es, dass die Stadt der Etablierten sich dieser Zecke so schnell wie möglich entledigen wollte.

Wie begrenzt Gebels Horizont sein muss, zeigt seine Definition der staatlichen Schulsysteme. Diese krankten daran, dass ihnen „der Anreiz fehlt, Gewinne zu machen.“

Geht’s noch geldgieriger? Versteht sich, dass Wissenschaften, die für die Jugend vielversprechend sein könnten, von ihm als „Geschwätzwissenschaften“ abgemeiert werden. Geld – und wie man es in endlosem Maße erwirbt: das allein sind Gebels „Freiheitsvorstellungen“.

Waldsterben? „Das vermeintliche Waldsterben ist ein besonders instruktives Stück der Massenmanipulation.“ Hier muss man die Luft anhalten. Sonst glaubt man nicht, welche Verteidigungsmaßnahmen erfunden wurden, um die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen.

Der wahrheitssuchende Hayekianer scheut vor nichts zurück, um seine subjektive Wahrheit als objektive darzustellen.

„Es geht den Weltrettern oft nur vordergründig um die Umwelt oder das Klima, in Wahrheit geht es immer um Macht über andere Menschen. Anfängliche Idealisten werden früher oder später stets von Machtmenschen verdrängt.“

Bei Platon zeigte sich tatsächlich die Gefahr, aus leidenschaftlichem Verbesserungswunsch zu Zwangsbeglückern zu werden. Das zeigt sich aber auch in umgekehrtem Sinn. Wer die Welt im Namen der Freiheit verkommen lässt, um sie zu retten, der weiß nicht, was Freiheit bedeutet. Freiheit besitzt man nicht, man muss sie peu a peu lernen und politisch einsetzen.

Und doch sind wir noch Lemminge und wollen uns kollektiv in den Abgrund stürzen. Dafür gibt es handfeste Beweise, die sich täglich vermehren.

Amerika beispielsweise, die weltbeste Demokratie, ist dabei, sich in Stücke zu zerlegen:

„Zu besichtigen ist eine Sorte Politiker, die der Ex-Präsident Donald Trump gezüchtet hat. Sie wollen nicht ernsthaft regieren, sie wollen keine Kompromisse schließen, sie wollen nicht das Land voranbringen. Sie wollen nur ihren eigenen Narzissmus bedienen und persönliche Rachefeldzüge führen. Sie geben die Volkshelden, die angeblich in der »korrupten« Hauptstadt Washington »endlich aufräumen«. Doch das ist nur eine plumpe Show, mit der sie das Wahlvolk blenden. Die altehrwürdige Partei der Republikaner steuert so langsam, aber sicher auf den Abgrund zu. Die große Frage lautet, ob sie den Rest des Landes dabei mit sich zieht oder die Vernunft in der US-Politik am Ende doch siegt.“ (SPIEGEL.de)

Vielleicht aus calvinistischer Verbundenheit will England nicht abseits stehen und wird von Tag zu Tag unvernünftiger.

„Sunaks außenpolitische Erfolge indes stehen in eklatantem Kontrast zum Elend, das der fünfte Tory-Premierminister in dreizehn Jahren daheim verwaltet. Seit fast einem Jahr legen Krankenpfleger, Ärzte, Lehrer, Zugpersonal und etliche weitere Berufsgruppen mit Dauerstreiks das halbe Land lahm, weil es an allem fehlt und sie einfach nicht mehr über die Runden kommen. Im September standen 7,7 Millionen Briten auf der Warteliste für einen Arzt- oder Krankenhaustermin – ein neuer nationaler Rekord. Dutzende Schulen mussten zuletzt schließen, weil der veraltete Porenbeton, mit dem sie errichtet wurden, zu bröckeln droht. Ein Problem, das der Politik seit Jahren bekannt war. Nun drucken Zeitungen Bilder von Grundschülern, die in Zelten das Einmaleins lernen.“ (SPIEGEL.de)

Wenn wir wissen wollen, wie es bei uns in 10 Jahren aussehen wird, müssen wir in die Stammländer des Puritanismus schauen.

Was wir täglich erleben, ist nichts anderes als der Untergang des Kapitalismus. Was Kritiker schon seit fast 200 Jahren attackieren, wurde zur weltweiten Realität.

Es sind keine blutgierigen Wanzen, die uns die Haare vom Kopf fressen, es ist die Gottgleichheit per technischem und ökonomischem Erfolgswahn, der uns in kollektiven Suizid treibt.

Trickreich haben die Abendländer ihre tiefe, tiefe Schuld aus der Seele getrieben. Mit der biblischen felix culpa, der glücklichen Schuld. Was sie falsch machten, wird ihnen – dank himmlischen Erbarmens – ins Gegenteil verkehrt.

Das Böse ist zum Antrieb des Guten geworden. Die moralischste Religion der Weltgeschichte wurde zur amoralischsten. Was wundern wir uns, wenn wütende Stürme gegen das Gute übers Land rasen?

Werdet böse, bleibt böse – dann könnt ihr im Jenseits glücklich werden. Das Diesseits? Könnt ihr abhaken.

Fortsetzung folgt.