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Natur brüllt! XVIII

Tagesmail vom 25.09.2023

Natur brüllt! XVIII,

Mathias Döpfner schwappt über vor Begeisterung. KI hat es ihm angetan:

„Je präziser perfekte Maschinen werden, desto relevanter wird das Charisma des imperfekten Menschen. Emotionale Führung und Motivation, intuitive Kreativität und Vernetzung machen den Unterschied. Hier wird die menschliche Intelligenz exzellieren. Hier entstehen die Wettbewerbsvorteile und die Wertschöpfung der Zukunft. Das gilt für Forschung und Wissenschaft ebenso wie für Kunst und Kultur, für Unternehmertum im Allgemeinen wie für Journalismus im Besonderen.“ (WELT.de)

Ist denn die Zeitung von heute tot? Muss sie wiedergeboren werden?

Über Döpfners genialen Zukunftsblick können wir nur staunen. Während die Welt abgefackelt wird und die Menschen vor Sorgen weder ein noch aus wissen, präsentiert sich der Verleger als Wiedergebärer seines Mediums.

In traditioneller Sprache: als Erlöser, der mit seinen Zeitungen ins Grab sinkt, um gänzlich neu aufzuerstehen. Was früher der Heilige Geist war, um den Tod zu überwinden, ist für Döpfner die KI – und er.

„Dank Digitalisierung und KI werden die Zeitung und die Zeitungsproduktion entmaterialisiert. Am Ende steht: Inhalt pur. Die Nachricht. Mittelhochdeutsch: die Zeitung. Künstliche Intelligenz beförderte dann so etwas wie die Renaissance der ursprünglichen Idee von Journalismus. Oder die Wiedergeburt der Zeitung.“

Döpfner – der neue Platon, der die Materie überwinden wollte, um das Reich der reinen Gedanken zu erringen. Materie – das Mütterliche – ist unerquicklich und unrein.

Geist, das Männliche, muss das minderwertige Weibliche hinter sich lassen, um ins Reich des hochstehenden Mannes zu gelangen.

Uralte Gedanken, die Döpfner wiederauferstehen lässt.

Nehmen wir Rom.

„Nichts fürchtete der Römer mehr als die Menstruation seiner Frau. Die Furcht vor der gezahnten Vagina, die den Mann in den Penis biss und ihn kastrierte, hing eng mit der panischen Furcht vor dem Menstrualblut zusammen. Plinius schrieb: „Nicht leicht wird man etwas finden, das ungeheuerlichere Wirkungen als der Wochen- und Monatsfluss der Frauen hervorbringen kann. Feldfrüchte verdorren durch ihre Berührung und kommen um. Wenn sie in diesem Zustand irgendwelche Gräser berühren, so sterben diese ab: die Kräuter und Knospen eines Gartens werden vom Rost befallen und verkohlen völlig, wenn sie auch nur daran vorübergehen. Nach patrizischen Maßstäben war ein Mann, der eine Frau aus sexuellen Motiven heiraten wollte, nicht besser als ein Tier. Nur Tiere kopulierten aus sexuellem Drang. Der Mensch dagegen wurde erst dadurch zum Menschen, dass er eine so wichtige Angelegenheit wie eine Lebensgemeinschaft nicht dem vergänglichen Einfluss der Sinne anvertraute. Der Hochstehende hatte der Liebesleidenschaft zu entsagen, wenn sie der Ehe im Wege stand.“ (Bornemann, Das Patriarchat)

„Inhalt pur“ ist der Gedanke oder das Männliche pur – unter dem der feinsinnige Hochgewachsene schon seit seiner Geburt gelitten hat, weil das Weibliche ihn in seine Macht gebracht hatte. Nun hat er die KI gefunden, die ihm den Weg aus dem Niederen ins Höhere weist.

Unbewusst entschlüpft dem Zeitungsherrscher sein verborgener christlicher Drang: dem Bedürfnis, ins himmlische Reich zu kommen, das von keiner Materie beschmutzt wird. Im Jenseits werden alle wahren Frommen – entmaterialisiert. Sie bestehen aus reinem Geist:

„Denn in der Auferstehung heiraten sie nicht und werden nicht verheiratet, sondern sie sind wie die Engel im Himmel. — Die Zeit ist kurz. Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; 30 und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; 31 und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht. 32 Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid. Wer ledig ist, der sorgt sich um die Sache des Herrn, wie er dem Herrn gefalle; 33 wer aber verheiratet ist, der sorgt sich um die Dinge der Welt, wie er der Frau gefalle, 34 und so ist er geteilten Herzens.“

Döpfner will den reinen creativen Geist des Mannes herausarbeiten, aber nichts, was diesen beschmutzt. Er will das absolut Reine:

„Die Idee der Zeitung muss sich vom Papier emanzipieren.“

Die Idee muss sich der schmutzigen Materie entledigen. Solange die Menschen der Materie verhaftet sind, sind sie ihrer Ideen unwürdig. Der Gipfel dieser Entmaterialisierung wäre – wenngleich von Döpfner unterdrückt –: wenn der Mensch gar nicht mehr laut reden oder schreiben müsste, um sich verständlich zu machen. Der Himmel der Ideen wäre das spontane Verstehen aller Menschen ohne die geringsten Mitwirkungen irgendeiner materiellen oder weiblichen Beilage. Reiner Geist versteht reinen Geist, wortlos und ohne Mittel zu benutzen. Das platonische und urchristliche Paradies.

Stehen wir vor der Auflösung des Rätsels, warum der Mensch die Natur vernichten muss, um das von allem Weiblichen befreite Reich des Mannes zu errichten?

„Generative künstliche Intelligenz (KI) ist die größte Revolution seit der Erfindung des Internets. Ein neues Niveau der Qualität, der Relevanz und der wirtschaftlichen Attraktivität. Oder der Untergang. Es geht um alles oder nichts.“

Eine generative Intelligenz ist eine „hervorbringende“. Da kann’s also nicht nur um das Sammeln des bereits vorhandenen menschlichen Wissens gehen. Das muss schon in Richtung des Creativen, des Schaffenden gehen.

„Worauf es also für Journalisten in Zukunft ankommt, sind Informationen, die noch nicht verfügbar sind. Gewinner sind die, die rausfinden, was nicht rauskommen sollte. Die sehen, was noch niemand gesehen hat. Der Wettbewerb um genau das, was schon immer der Wesenskern des Journalismus war, ist wieder eröffnet.“

Was noch nicht vorhanden ist, muss erfunden oder creiert werden. Creare aber ist göttliches Schaffen aus dem Nichts.

„Wenn wir nicht gleichzeitig schnell für einen sicheren rechtlichen Rahmen sorgen, der den Schöpfern von geistigem Eigentum eine faire Beteiligung bietet, gibt es kein Geschäftsmodell.“

Da haben wir die creativen Schöpfer. Creativität aber ist die neue Liaison aus KI und Mensch.

„Die Essenz einer Story kann noch so wichtig und aufrüttelnd sein, wenn sie nicht gut – also anschaulich, konkret, dramaturgisch durchdacht – erzählt wird, wird sie langweilen. Sprache ist dabei der entscheidende Werkstoff. Wer Sprache liebt, mit ihr leidenschaftlich und behutsam umgeht, ihr mit Respekt begegnet und sie doch stets spielerisch herausfordert, hat einen unsterblichen Wettbewerbsvorteil.“

Vor kurzem noch war Döpfner stolz auf die „Objektivität“ seiner Zunft. Das klang wie die Jaspers’sche Beschreibung bei Max Weber: „Der Forscher Max Weber will wissen, was ist. weil das Große ihn angeht.“ Wissenschaft kann nie angeben, was sein soll. Erfahrungswissenschaft ist immer etwas anderes als wertende Beurteilung. „An keiner empirischen Forschung ist zu begründen, was Wert hat, und was ich tun soll.“

Aus diesen Worten entnehmen wir, dass die Medien ohne Max Weber bloß und nackt dastünden – was aber nicht bedeutet, dass sie vollständige Weberianer wären. Weber hat Sein nur vom Sollen getrennt, um sie in einem zweiten, philosophischen Akt, nachträglich miteinander zu verbinden.

Das aber ist die Sünde der heutigen Schreiber, die weder das Gute noch das Böse unterstützen dürfen. Sie weigern sich, ihre Artikel schlicht zu trennen: in das Sein der Tatsachen – und das Sollen von Demokraten, deren Stolz darin besteht, ihre authentischen Urteile abzugeben und autonom danach zu handeln.

Lebten wir heute in der Zeit des heraufkommenden Dritten Reiches: würden die Objektiven sich mit dem Bösen verbünden, indem sie sich nicht mit dem Guten verbünden? Geht’s noch absurder?

Zugleich können sie nicht genug gegen Populisten, Querdenker, Woke oder sonstige Quertreiber geifern. Sind das etwa keine Meinungsäußerungen?

Eigentlich unfassbar, dass direkt nach dem Hitlerreich die Medien es für ihre Pflicht halten, nicht die Fahne der Demokratie hochzuhalten. Inzwischen droht die Welt unterzugehen – und die Medien stehen am Rand und winken den dummen Massen meinungslos und fröhlich zu?

All diese Abenteuerlichkeiten verdrängt Döpfner eine Weile – und erhebt seine Ansprüche an die Zeitung:

„Eine gute Geschichte sollte ihre Leser nicht nur berühren, traurig oder nachdenklich machen, sie darf sie so oft wie möglich unterhalten. Es gibt keine bessere und tiefere Bindung zwischen einem Text oder einem Film und dem Lachen des Lesers oder Zuschauers.“

Er will nichts weniger, als die Leser an den Text zu binden!? Er will sie berühren, traurig oder nachdenklich stimmen. Ist das die Döpfner’sche Definition von neutraler Objektivität?

„KI hat keine Kreativität? Stimmt nicht. Wer sich mit maschinengemachter Musik und algorithmisch kreierten Gedichten oder Bildern befasst hat, muss das Gegenteil bestätigen. Die Ergebnisse sind zum Teil noch unbeholfen, zum Teil schon phänomenal inspirierend. Der Bot als Dienstleister. Als Assistent der Journalisten, der uns schneller und besser macht beim kreativen Denken, beim Entwickeln origineller und relevanter Themen und Darstellungsformen, bei nonkonformistischen Meinungsbeiträgen und klugen Analysen, Reportagen, die auf realen Erfahrungen beruhen. Ob verständlich vermitteltes Expertenwissen, Unterhaltung oder Live-Erlebnisse – KI ist überall dabei und erlaubt den Fokus auf das Wesentliche.“

Es wird immer phantastischer, was die KI können soll. Sie soll sogar den Fokus auf das Wesentliche erlauben. Nichts weniger als das Wesentliche? Das Wesentliche war bei Platon jenes nichtmaterielle, vollkommene Wissen, was uns sagt, was ist und was sein soll.

Doch nicht genug.

„Das Wichtigste bleibt: investigativer Journalismus – die gründliche Recherche über Tage, Wochen und Monate, die neue Fakten und Erkenntnisse ans Licht bringt. Während KI die materiellen und quantitativen Aspekte des Metiers effizienter macht, kann sie helfen, sich auf den immateriellen, inhaltlich intellektuellen Wesenskern des Journalismus zu konzentrieren.“

Bei Platon gab es – streng genommen – nichts Neues, denn die immateriellen Ideen waren zeitlos gültig. Da gab es nichts, was Investigateure aus dem Schutt des Veralteten oder Verborgenen hätten bergen können.

Nun wird’s brenzlig. „Technologie ist kein unterstützendes Element unseres Geschäfts. Sie ist Teil des Kerns. Nur mit den allerbesten Technik- und Produktentwicklern und den erfahrensten KI-Experten werden Verlage ihre Ziele erreichen können.“

Technik als Fortschritt ist immer Entwicklung des Materiellen und Veralteten, um Neues zu creieren. Dieser Satz ist nichts weniger als der Selbstwiderruf alles bisher Geäußerten. Etwas Materielleres als den Fortschritt hinauf zum Mars kann es nicht geben.

Desgleichen: die irdische Materie verwerfen – aber Riesengelder kassieren, dass man zur 1%-Elite der Superreichen gehört: wie passt solches zusammen? Gewiss, Superreiche wissen, was Geld ist. Nämlich nichts, was aber nicht bedeutet, dass sie das Nichts nicht en masse auf ihrem Konto hätten.

Inzwischen sollten auch Europäer wissen, was Fortschritt ist: die Verwandlung frommer Begriffe in – materielle. Je mehr der spirituelle Glaube nachließ, je stärker wurde das Verlangen, Religion in Wissenschaft und Technik zu verwandeln.

Bewegen wir uns nicht auf der Spur, uns den superintelligenten Erfindungen unseres Geistes zu unterwerfen?

„Wenn wir es richtig machen, werden die Maschinen den Menschen dienen. Nicht die Menschen den Maschinen.“

Döpfner scheint Meister Goethe vergessen zu haben. Der Zauberlehrling fühlt sich dem Walten des Besens anfänglich gewachsen. Doch dann tritt ein, was regelmäßig beim Menschen eintritt, wenn er sich seinen Machenschaften überlegen fühlt: er wird zum Diener seiner eigenen Überheblichkeit.

Und sie laufen! Naß und nässer
Wird’s im Saal und auf den Stufen.
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister! hör’ mich rufen! –
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
Werd’ ich nun nicht los.
„In die Ecke,
Besen, Besen
Seid’s gewesen!
Denn als Geister
Ruft euch nur zu seinem Zwecke
Erst hervor der alte Meister.“

Döpfner, weder ein alter noch ein neuer Meister, ist ein stümpernder Lehrling, der sich erkühnt, ein Phönix zu sein.

Fortsetzung folgt.