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Natur brüllt! XVII

Tagesmail vom 22.09.2023

Natur brüllt! XVII,

Wann begann der europäische Immoralismus, der dem Abendland das Genick brechen könnte?

Bei dem holländisch-englischen Arzt und Schriftsteller Bernard Mandeville, der für seine „Bienenfabel“ das Motto erdachte:

„Private Laster, öffentliche Tugenden“.

Für Deutsche ein ungewöhnlich früher Fall des abendländischen Immoralismus. (Carl Brinkmann, Der wirtschaftliche Liberalismus als System der britischen Weltanschauung)

Eine typisch deutsche Bewertung – die den Engländern den Vorwurf des „cant“ oder der Heuchelei machte.

„Sie sprechen von Christus und meinen Kattun.“

So prägnant hatte Theodor Fontane die Rivalität der beiden Länder auf den Punkt gebracht.

Die Deutschen als Land der tugendhaften Helden empfanden sich den insularen Händlern und Weltbeherrschern himmelweit überlegen. Der Erste Weltkrieg sollte die Entscheidung bringen.

Es bedurfte zweier Weltkriege, um den Deutschen klar zu machen, dass ihre moralisch überlegene Form der Wirtschaft mit der englischen nicht mithalten konnte. Diese betrachtete vor allem den Erfolg, egal mit welchen Mitteln, als göttlichen Segen.

„In seinem Hauptwerk, der Bienenfabel, beschrieb Mandeville als einer der Ersten die Wirtschaft als Kreislaufsystem und stellte die provozierende These auf, dass nicht die Tugend die eigentliche Quelle des Gemeinwohls sei, sondern das Laster. Er galt unter anderem Friedrich Hayek als bedeutender Vordenker. Seine These, dass individueller Nutzen nicht mit globalem Nutzen identisch sein muss, wurde zu einem wichtigen Theorem der Ökonomie, das nach ihm auch Mandeville-Paradox heißt.“

Am Ende der Fabel hieß es:

„So klagt denn nicht. Für Tugend hats
in großen Staaten nicht viel Platz.
Stolz, Luxus und Betrügerei
Muss sein, damit ein Volk gedeih.
Mit Tugend bloß kommt man nicht weit;
Wer wünscht, dass eine goldne Zeit
Zurückkehrt, sollte nicht vergessen:
Man musste damals Eicheln essen.“

Brinkmann, der deutsche Held, blieb bei seiner englandfeindlichen Bewertung:

„Der Liberalismus des Eigennutzes, diese Erbsünde seit den Puritanern, seit Mandeville und Bentham bleibt das Kainsmal der britischen Weltanschauung.“

Das Verwunderliche ist allerdings, dass beide Länder bis heute urchristlich sein wollen. Und dennoch trennen sie Welten. Wie ist das möglich?

Seit Beginn der Neuzeit gibt es in Europa zwei nichtpäpstliche christliche Glaubenssysteme: das deutsche Luthertum und der holländisch-englische Calvinismus, die keineswegs identisch waren.

Beginnen wir mit den Gemeinsamkeiten. Beide Länder wollten von Gott auserwählte Erben seines jüdischen Lieblingsvolkes sein. Der Zweite Weltkrieg sollte die Frage endgültig entscheiden. Im ersten wie im zweiten Weltkrieg schien Gott sich gegen die Deutschen entschieden zu haben.

Wen wundert es, dass die Nachkriegsdeutschen sich von ihrer ethisch überlegenen Rolle verabschiedeten und sich nicht nur das Moralisieren, sondern sogar das Politisieren verbieten wollen:

„Und wenn es nicht so traurig wäre, dann wäre es zum Totlachen, dass nun dieselben Figuren, die praktisch jedes lebensweltliche Thema moralisierten und politisierten, plötzlich ein Ende der Kulturkämpfe wollen. Wobei die Grünen federführend waren: Ihr Ton nach Joschka Fischer war ein einziger Kulturkampf gegen jene, die nicht wie Kirchentagsbesucher leben, wenn sie nicht gerade privat nach Bali fliegen.“ (WELT.de)

Das einst moralisch überlegene Volk hasst die Moral wie die Pest. Es scheint im knöcheltiefen Immoralismus zu versinken.

Die Deutschen kennen seit Kriegsende nur noch mammonistische Gier, weltlichen Erfolg und technische Überlegenheit. Haben sie ihr lutherisches Erbe verworfen?

Luthers Zweireichelehre, von Augustinus übernommen, kennt zwei Reiche: das unsichtbare Reich Gottes, in dem göttliche Moral regiert, und das sichtbare seines Widersachers, in dem alle moralischen Grundsätze nur so lange ihr wüstes Treiben veranstalten können, bis es am Ende der Tage vom Reich des Geistes überwältigt werden wird.

Welchen Leitlinien muss nun ein christlicher Politiker folgen? Auf keinen Fall darf er in den Hochmut verfallen, das teuflische Reich durch christliche Moral zu überwältigen. Er sollte wissen, als Politiker muss er gnadenlos im sündigen Schmutz wühlen. Erst der wiederkommende Herr wird dem irdischen Saustall ein Ende bereiten und das lupenreine Reich des Geistes errichten.

Eben das taten unsere christlichen Nachkriegspolitiker penibel bis zum heutigen Tag. Man schaue sich nur die Reihe von Adenauer über Kohl bis Merkel an, um die Bilanz zu ziehen:

„Das weltliche Reich wird nach Gottes Willen von der weltlichen Obrigkeit regiert; die Gehorsamspflicht gegen die Behörde ist nicht abhängig von dem Grad der Moral innerhalb der Behörde. Dass Menschen sündig sind, weiß man ohnehin; trotzdem hat Gott die Obrigkeit bestellt und gebraucht sie letztlich für seine Zwecke, die nicht die unsrigen sein müssen. Die Kirche hat sich in weltlichen Dingen zu bescheiden und nur darauf zu sehen, dass die Predigt des Evangeliums ohne Hemmung vor sich gehe. Es gibt also für die Nachfolger Luthers nicht den christlichen Staat und die christliche Politik, sondern nur den gegebenen weltlichen Staat und seine Politik – und die Menschen, die sich darin als Christen betätigen. Politisches Handeln bleibt profan – oder ein weltlich Ding. Der Staatsmann muss sich, wenn er Christ ist, auf sein christliches Gewissen und Gottes Gnade verlassen und hat es nicht nötig, seine Entschlüsse vor einer christlichen Tradition zu rechtfertigen. Die Kirche bleibt unbelastet mit der Verantwortung für schwere und mehrdeutige Entscheidungen.“ (Martin Dibelius, Britisches Christentum und britische Weltmacht)

Diese moralische Verantwortungslosigkeit sahen wir deutlich am Tun der lutherischen Kanzlerin. Sie beging die schlimmsten Sünden in Flüchtlingsdingen wider das Gebot der Agape. Doch vorsichtshalber fügte sie ein köstliches Almosen hinzu, mit dem sie demütig hausieren ging – und war frei von jeder Schuld. Eine kleine moralische Tat rechtfertigt viele schreckliche amoralische.

Hausieren gehen mit einem winzigen Guten, aber das Böse en masse walten lassen: das ist das Geheimnis der christlichen Ethik in der Welt.

Ein weiterer Grund für die Deutschen, Moral zum Teufel zu jagen. Bis heute wissen sie nicht, wie sie in der Flüchtlingsfrage vorgehen sollen. Haben sie bis heute nicht mehr als genug Flüchtende aufgenommen, dass sie das Recht hätten, ab jetzt die rote Fahne zu hissen? Doch gleichzeitig wissen sie, dass immer noch endlose Menschenströme vor der Türe lauern. Was tun?

Ein Kommentar schreibt, ein bisschen Wahrheit wäre notwendig, um das Schlimmste zu verhindern. Ein bisschen Wahrheit? Warum nicht die ganze Wahrheit? Lutherisch korrekte Antwort: weil uns das Reich des Geistes nicht zusteht. Wir müssen uns mit dem Bösen begnügen, solange das Reich des Guten nicht angebrochen ist.

Zügeln wir uns, tun wir das Geringe, um das total Böse zu vermeiden.

Das ist die Politik der Konservativen, die das Böse bewahren müssen, um im Himmel nicht hybrid zu erscheinen. Die Konservativen müssen sich mit dem wenig Guten begnügen, um nicht das finale Beste in den Schlick zu treten.

Denn die Liebe deckt eine Menge von Sünden zu.

So geht die Kanzlerin noch heute durch die Welt und lässt sich dekorieren für eine einzige gute Tat. Nichts ist schlimmer für Konservative als in Versuchung geführt zu werden für allzu viel Gutes.

Könnte die Welt wirklich überwiegend gut werden, wozu bräuchte sie noch Erlöser und Heilande? Nach Luther muss die Welt böse bleiben, dass sie nicht in Versuchung gerät, Gott überflüssig zu machen.

Von Luther unterscheidet sich Calvin, dass er sich mit demütigen Sündenbekenntnissen nicht begnügen wollte. Er wollte aktiv die Welt gestalten und Genf in eine christliche Despotie verwandeln. Eben dies wollten auch seine Getreuen in England.

Englisches Abenteurertum verband sich mit französischer Energie. Die Welt sollte nicht im Elend belassen, sondern in eine neue Welt verwandelt werden.

Das Reich des Geistes sollte nicht im Hintergrund warten und bis ans Ende der Tage, sondern es sollte durch eigene Tüchtigkeit im Hier und Jetzt zur Realität werden.

Fast könnte man sagen: Calvin war platonischer Gründer eines perfekten christlichen Staates, der die Hindernisse, wenn nicht anders, mit Gewalt beseitigen wollte.

Welcher Staat gewann die Rivalität um den Sieg in der Welt? Das lutherische Deutschland oder das calvinistische England? Beide verloren, der eine Staat durch Niederlage, der andere durch Sieg über den Gegner. Christliche Staaten sind, in welcher Variabilität auch immer, die Verlierer in der Welt.

Die Kirche gehorchte nicht mehr der Obrigkeit, wie die lutherische, sondern wollte selbst Obrigkeit werden. Nicht länger wollte sie die untergeordnete Rolle spielen, sondern selbst die führende Rolle einnehmen. Das klang wie Sehnsucht nach einer perfekten Theokratie.

Und wenn sie schon nicht selbst den ganzen Staat regieren konnte, dann wenigstens ein autonomes Reich begründen.

„Konnte die Kirche nicht den Staat leiten wie in Genf und in gewisser Weise in Schottland, so wollte sie wenigstens ihr Eigenleben führen, unbeeinflusst vom Staat. Trennung von Kirche und Staat bedeutet für die englischen Freikirchen das Recht der Kirche auf völlige Führung der Menschen, ohne dass der Staat ihnen dreinredet. So wird die politische Freiheit zu einem Gut, das es im Namen des Christentums zu behaupten gilt.“

Wo stehen wir? An jener Stelle des calvinistisch-puritanischen Christentums, an der der moderne Neoliberalismus geboren wird. Die Kirche – oder die Wirtschaft – fordert das Recht und die Freiheit, den Menschen allein zu führen. Der Staat solle sich gefälligst zurückziehen.

Die Wirtschaft übernimmt die Rolle einer Kirche, die sich keiner Obrigkeit untertan machen will wie die deutsch-lutherische.

In Preußen übernimmt der Staat die erste Rolle und wird – bis heute – zum Herrscher über alle Untertanen. Dieser Staat kennt keine Demokratie. Wenn die Deutschen von ihrer Demokratie reden, was sie ohnehin kaum tun, meinen sie den allgegenwärtigen Obertanenstaat, der in allen Dingen das letzte Wort behalten will.

Wenn eine Klasse zur Klimademo gehen will, ist sie nicht befugt, diesen politischen Willen durchzuführen. Ganz Preußen wird rechtlich aufgefahren, um den freien Willen der jungen Generation zu brechen.

Auch das Recht der Aktivisten, die Straßen aus zivilem Ungehorsam zu blockieren, wird von Minister Wissing – der das Ganze bereits als Klima-Blabla abgetan hat – als ein Terrorakt diffamiert.

Die Mächtigen dürfen die Welt in eine bittere Katastrophe stürzen – ohne im Geringsten bestraft zu werden. Wenn aber diejenigen, die sich in Maßen wehren, mit Geldstrafen, ja mit längerer Haft geahndet werden, ist alles in Ordnung.

Kann ein wehrhafter Demokrat dieses lutherische Untertanen-Geschmurgel verstehen? Kann es ein Recht geben, das die Überlebensfähigkeit der Menschen für weniger wichtig nimmt als das kurzfristige Blockieren des Autoverkehrs? Unfasslich.

Immoralismus ist die Unfähigkeit, jenen Regeln der Vernunft zu folgen, die sich der Mensch seit vielen Jahren ausgedacht hat, um mit der Natur, seinen Mitmenschen und mit sich friedlich auszukommen.

Moral ist keine Unfreiheit, sondern Bedingung der Möglichkeit, die wahre Freiheit als Freiheit für alle auszudenken.

Der abendländische Immoralismus, die Rückentwicklung einer humanen Ethik in maschinelles Tun und die des Menschen in eine KI, hat die Menschheit an den Rand eines Abgrunds geführt.

Immoralisten, die die Moral verachten und in den Dreck schleudern, sind schuldig am Debakel der Menschheit.

Was müssen wir tun? Die Moral des freudigen, freien Lebens wieder entdecken.

Fortsetzung folgt.