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Natur brüllt! XIX

Tagesmail vom 29.09.2023

Natur brüllt! XIX,

Trump als malignen Narzissten zu bezeichnen – als einen bösartigen eitlen Fratz – zeugt von der Armseligkeit der Psychoanalyse, die dem Reich des Unbewussten noch nicht entronnen ist und das Reich der Politik noch nicht entdeckt hat.

Trump ist ein Urgeschöpf des frommen Amerika, weshalb ein kundiger Theologe ihn besser entlarven kann als ein empirischer Mystiker des Unbewussten.

„Denn das Reich, in dem wir Bürger sind, ist in den Himmeln, und aus ihm erwarten wir auch als Heiland den Herrn Jesus Christus, der unseren Leib der Niedrigkeit verwandeln wird, sodass er gleichgestaltet wird seinem Leib der Herrlichkeit vermöge der Kraft mit der auch alle Dinge sich untertan machen kann.“

Der Theologe Ernst Benz hat ein Buch über den Übermenschen geschrieben, welcher ein vollendeter Christ sein soll:

„Menschen, die in dem Bewusstsein leben, Engel als Dienstboten zu ihrer Verfügung zu haben und allen Anforderungen des bösen Feindes überhoben zu sein, geraten leicht in einen Zustand des „Jenseits von Gut und Böse“. So sind gerade solche hochgespannten charismatischen Bewegungen gelegentlich … aus einem asketischen Radikalismus in einen sittlichen Libertinismus umgeschlagen, weil ihre Charismatiker sich dem Bereich der Sünde so sehr enthoben wussten, dass sie sich einbildeten, ungestraft und ohne Reue sündigen zu dürfen.“ (Der Übermensch)

Der wahre Christ ist allen menschlichen – ja göttlichen – Satzungen enthoben und kann tun und machen, was er will. „Gerade die parapsychischen und supramentalen Geisteskräfte sind charakteristisch für den christlichen Übermenschen: die Telekinese, die Herrschaft über die Elemente, die Vollmacht über die Geister.“

Trump ist Libertinist – heute würden wir sagen: ein Neoliberaler, allerdings nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet. Jede moralische Regel kann er lustvoll über den Haufen werfen.

Da empören sich die Biedermänner und reiben sich doch unbemerkt die Hände. Endlich einer, der sich traut, den Käfig der Moral zu zertrümmern. In Deutschland haben wir viele Bewunderer Trumps, die mit ihrer Bewunderung hinterm Berg halten.

Die Wut auf die sittlichen Vorschriften des Abendlandes ist wie eine Sintflut, die die verdorrte westliche Welt mit mächtigen Wogen überschwemmt.

Der mit übermenschlichen Kräften kokettierende Pietist – kurz nach dem 30-jährigen Krieg – war hoch umstritten in Deutschland. Herder, selbst Pastor, attackierte ihn im Namen der Aufklärung.

„Der „Übermensch“ erscheint als die Gestalt, die zur Erniedrigung und Entwertung des Menschen beigetragen hat. Diese Entartung kann nur durch die Rückkehr zu dem Humanitätsbegriff der Griechen und Römer überwunden werden: Lassen Sie uns ja zum Begriff der Humanität der Griechen und Römern übergehen; denn bei diesem Menschenschlag (den deutschen Pietisten) wird uns angst und bange.“

Hier stritten die Deutschen noch mit angemessenen Begriffen. Herder bezieht sich nicht nur auf die griechische Humanität, sondern auch auf Marc Aurel, den stoischen Philosophen auf dem römischen Thron.

Marc Aurel rief sich selber zu: „Fang endlich mal an, ein Mensch zu sein“, um die Vorstellung vom übermenschlichen Fürsten zu widerlegen.

So erscheint Herder als wahres Vorbild der Humanität. Das Übermenschentum hingegen ist nach Herder die Hauptursache der geistigen Entfremdung von allen Mitmenschen.

Humanist – und Übermensch: das sind die beiden Vorbilder, die die Moderne in Pro und Contra geprägt haben. Nachdem die Nachkriegszeit vorbildlich human war, um die entsetzlichen Schäden an der Menschheit offiziell zu kurieren, sind – nach einem halben Jahrhundert – die Kräfte des Guten erlahmt. Nun kommt wieder jene Eigenart des Menschen an die Oberfläche, die nach Meinung der Pessimisten das Wesen des Menschen ausmacht: das Infernalische oder Böse.

Das Reservoir des Dämonischen hat sich regeneriert und ist seit 9/11 dabei, dem amerikanischen Reich die Mächte des Dämonischen wieder in die Politik zurück zu verlagern. Der Rechtsruck im christlichen Westen ist weder links noch rechts, sondern ein Rückfall in die Urelemente des Zweikampfs zwischen Gott und Teufel.

Bei Goethe kommt’s zu einem koketten Spiel mit dem Teufel oder dem Übermenschen.

„Du flehst eratmend, mich zu schauen …
Da bin ich! Welch erbärmlich Grauen
Fasst Übermenschen Dich! Wo ist der Seele Ruf?
Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf
Und trug und hegte, die mit Freudenbeben
Erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben.“

Verfährt Goethe noch ironisch mit Gott und Teufel, wird der Übermensch bei Jean Paul zum Ereignis. Erstaunlicherweise ist es kein männlicher Heros, den Paul beschreibt, sondern eine erfolgreiche französische Attentäterin, oder Heroin die für ihre Untat büßen musste.

Ein Graf, der sie unterstützt hatte, stellte die Frage nach dem Verhältnis des Geistes zu den allgemeinen Moralgesetzen und entwickelte eine Ethik des „Großen Menschen“, die diesen in aller Form von der Befolgung der allgemeinen Moralgesetze entbindet. Das Genie schafft sich seine eigene Ethik, für die es keine Regeln gibt. Die Welt wird allein dadurch verändert, dass immer wieder ein Übermensch nach den Geniezügen einer neuen Ethik die Häuslichkeitsmoral durchbricht und neue Verhältnisse schafft. Was das Genie in der Literatur, ist offenbar der Übermensch in der Politik. Urbild des neuen Übermenschen war damals Napoleon.

Jean Paul erläutert:

„Der auf christlichem Boden als Mystiker, Prophet, Charismatiker entwickelte Begriff wird hier auf den großen Politiker übertragen. Bereits im ersten Augenblick der Politisierung des Übermensch-Begriffs wird die Forderung erhoben, dem Übermenschen eine eigene Ethik zuzuerkennen. Das Feuer solcher Übermenschen wirkt „vulkanisch, anfangs verwüstend: es gibt eben keine Neuschöpfung ohne die zugeordnete Vernichtung, zu der die Beseitigung der bestehenden morschen Ordnung den Anlass gibt.“

Jean Paul entwickelt die Theorie des Hochmenschen, der mit Kraft die Entwicklung des Übermenschen beschleunigen und eine modrig faulende Welt einer grünen zutreiben soll. Der Feuerreformator verkürzt den endlos trägen Gang der normalen Entwicklung und beschleunigt das langsame Tempo des Prozesses durch die Kraft seines Übermenschentums, die zugleich zerstörend und schöpferisch wirkt.

Wir sehen, dass mit entfremdeten Begriffen der christliche Messias ins Politische verlagert wird. Wen wundert es, dass hier der Begriff „Das Dritte Reich“ fallen muss?

„In einer hymnischen Verherrlichung der Selbstaufopferung des Übermenschen wird verkündet, dass seine Übermenschlichkeit gerade in seinem Opfertod aufleuchtet.“

Warum hat Trump noch immer Chancen, trotz vieler Verletzungen demokratischer Regeln, seinen Widersacher Biden aus dem Weg zu räumen?

Weil viele seiner Anhänger glauben, dass ihm Unrecht geschieht, dass er hinterlistig von den Behörden angeklagt wird. Wieviel Leid und Schmerz muss er noch ertragen, bis er eines Tages rehabilitiert wird? Der nächste Wahlkampf wird ein Kampf zwischen Messias und einem uralten Matador.

Was Trump im Kleinen ist, war Hitler im Gigantisch-Dämonischen. Die Ethik der Siegerrasse entwickelte sich nicht von heute auf morgen. Sie war die Frucht vieler deutscher Generationen.

Im Kampf zwischen Aufklärung und romantischer Gegenaufklärung musste die bürgerliche Gesellschaftsmoral dran glauben. Wo die Kleinen anständig sein müssen, dürfen die Heroen nach Belieben um sich schlagen.

„Die allgemeine Moral – die „Häuslichkeitsmoral“ – erscheint zuerst als die Ethik der Schwachen, die sich mit der Einhaltung der überlieferten Regeln begnügen. — Die Ethik des Genies aber ist die Ethik der Tat, deren Regeln sich durch den Glauben und die Macht des Übermenschen selbst bestimmen.“

Das Ziel, wohin diese deutsche Entwicklung strebte, war Nietzsches Willen zur Macht, der ein Wille zur Allmacht war und keine andere Instanzen kannte als seine eigene willkürliche Souveränität.

Nietzsches Übermensch ist das schaffende Genie, das nur seine eigene Moral kennt, die nicht in Regeln zu fassen ist, der Übermensch, „dessen vulkanisches, anfänglich verwüstendes Feuer alle Berge in der Geschichte aus dem Wasser hob, der Feuer-Reformator, der aus einer faulenden Welt eine grünende emportreibt, dessen Kraft und Glauben Handlungen rechtfertigt, die den Schwachen und Zweifelnden als Vermessenheit und Sünde erscheinen.“

Die KI als verschwommene Vision eines zukünftigen Übermenschen ist keine Erfindung der Gegenwart. Von Epoche zu Epoche wirft sie die Krusten des Alten ab und entwickelt sich allmählich zum Giganten der Zukunft.

Nach dem Durchbruch des Genies bei den Literaten und Philosophen im 19.Jahrhundert schwappt die Idee ins Naturwissenschaftliche.

Hier das Credo Darwins, wie er die Zukunft des Menschen sieht:

„Glaubt man, wie ich es tue, dass der Mensch in weit entfernter Zukunft ein weit vollkommeneres Geschöpf, als er jetzt ist, sein wird, so ist es ein unerträglicher Gedanke, dass er und alle anderen empfindenden Wesen zu vollständiger Vernichtung verurteilt sein sollten nach einem so lange fortdauernden langsamen Fortschritt. Denjenigen, welche die Unsterblichkeit unserer Seele annehmen, wird die Zerstörung unserer Welt nicht so furchtbar erscheinen.“

Benz erläutert: „Diese Prophezeiung berechtigt in der Tat alle künftigen Propheten des Übermenschen, sich auf Darwin zu berufen, selbst wenn dieser selbst den Begriff des Übermenschen – super-man – nicht verwendet.“

Silicon Valley hat die deutsche Dialektik stramm gezogen und will eine kraftvolle Entwicklung in die Zukunft: ohne Hin und Her, ohne Schwäche und Niederlagen, ohne mangelnden Glauben in die eigene Berufung. Sei es durch den Himmel. Sei es durch eine kühne Selbstberufung.

Amerika kennt keine Schwäche. Ihr Messias ist kein sterbender Gott, sondern ein Kybernetiker mit gelegentlichen Gedankenschwächen, der sich aber nach wenigen Augenblicken wieder am Riemen reißen kann.

Deutschland kennt nur das stirb und werde. Nur wenn das Land eine Niederlage erleidet, kann es sich wieder aufrappeln und zum Sprung ansetzen:

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Die Linie des eintönigen, kerzengeraden Fortschritts ist in Deutschland unbekannt. Hier muss jede Niederlage messianisch erduldet werden. Und wer untergeht, muss beweisen, dass er auch wiederauferstehen kann.

Nach der glänzenden Nachkriegsepoche mit globalen Friedensangeboten ist die Menschheit wieder zurückgerutscht ins Gegenteil. Überall Krieg, Kriegsbereitschaft, „Rücken nach rechts ins Diktatorische“, soziale und klimatische Katastrophen.

Die Werktätigen hängen schlapp in den Seilen. Die Jugend wirkt deprimiert oder beginnt zu rebellieren. Ihr ziviler Ungehorsam wird von ihren Bezugspersonen nicht verstanden.

Ein allgemeines Lebensziel kennt die Menschheit nicht – außer den Geldtopf noch mehr zu füllen. Was ist – um altdeutsch zu fragen – das Leben, das sie am liebsten leben würden? Hetzen von KI zu KI – um die beste Pizza zu ergattern? Um einen idealen Partner zu gewinnen?

Ist das alles? Ist die Heilsgeschichte leer getrocknet? Noch lange nicht. Hinter dem Alltag vibrieren die versteckten Vorstellungen des Heils, zumeist konzentriert in technischen Projektionen.

Die Moderne begann mit Francis Bacon, der in seiner Great Instauration geschrieben hatte:

„Ich arbeite daran, die Grundlagen zu schaffen, nicht für eine Sekte oder Doktrin, sondern für Nutzen und Macht des Menschen – Gegenstand der neuen Methode, das Terrain wiederzugewinnen, das im Sündenfall verloren gegangen war. Nur Wissen führt zur Macht.“

Macht über die Natur ist die falsche Wahl, die Wahl einer missglückten Beziehung. Immer, wenn ich Macht ausüben muss, muss ich zugleich jemanden zu etwas zwingen, wozu er nicht will. In Harmonie mit der Natur leben geht nur machtlos, durch gegenseitiges Verstehen.

Wissen ist Macht: dieses Wissen ist Machtwissen oder diktatorischer Sadismus.

Die Rückeroberung des Paradieses ist keine Eroberung eines machtfreien Raumes. Denn dort hauste ein Gott, der dem Menschen keinen freien Willen ließ. Kaum wurde Eva ungehorsam, wurde sie für immer bestraft, Kinder nur unter Schmerzen zu gebären. Nur unter Mühe und Schweiß sollte Adam den Acker bearbeiten. Was an diesen Strafen sollte paradiesisch sein?

Auch die andere große Figur des Abendlandes, Sokrates, hätte die Formel Wissen ist Macht strikt abgelehnt. Gegen Macht war er allergisch und wissenschaftliches Wissen war für ihn nichts anderes als Unheil für die Menschheit.

Sokrates, als junger Mann neugierig auf Naturforschung, sagte als Erwachsener der Naturwissenschaft ab. Er holte, wie Cicero sagte, die Philosophie vom Himmel auf die Erde. Denken, so seine Begründung, müsse sich mit irdischen Dingen beschäftigen, um die Menschen durch Dispute und Dialoge zu guten Demokraten zu erziehen.

Was interessierte Sokrates? Die Fragen nach einem gelungenen Leben für alle Menschen. Was ist Gerechtigkeit, was ist Selbstbeherrschung, was ist Glück für alle, was ist Freiheit, die dem anderen nicht den Schädel einschlägt?

Heute würde er als Besserwisser und Moralprediger aufs Äußerste bekämpft werden. Warum nur wurde er zu einem der großen Philosophen des Abendlands?

Und warum müssten wir alle zu seinen Schülern werden, wenn wir ernstlich den Untergang der Welt verhindern wollten?

Fortsetzung folgt.