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Natur brüllt! XVI

Tagesmail vom 18.09.2023

Natur brüllt! XVI,

Wie ist die Welt heute?

Wie wird sie in 75 Jahren sein?

Heute:

„»Wir stehen schlimmer da als noch vor acht Jahren«, erklärt auch Rockström. »Und eine Trendwende ist einfach nicht abzusehen«. Wie auch immer man die Gesundheit des Planeten misst – diese Botschaft senden auch alle anderen renommierten Wissenschaftsinstitutionen wie der Weltklimarat oder der Weltbiodiversitätsrat seit Jahren. Der Mensch strapaziere derzeit die Gesundheit des Planeten. »Damit verschärft er die ohnehin schon kritische Situation«, so Richardson. »Wir schubsen uns gerade selbst in die Hochrisiko-Zone«. Einziger Ausweg sei, die Zerstörung der Natur sofort zu stoppen und das Verfeuern von fossilen Brennstoffen wie Öl, Gas und Kohle runterzufahren.“ (SPIEGEL.de)

Wer kennt die Grenzen der Welt, wer kann sie definieren?

„Die planetaren Grenzen bleiben dennoch eine wissenschaftliche Annahme. Zwar sind sie mit wissenschaftlichen Daten und Einheiten unterfüttert, trotzdem sind sie am Ende Interpretationssache, was politisch oder moralisch als »Risiko« und als »schlimm« verstanden wird.“

Wenn niemand sie genau kennt, muss sich jeder ein eigenes Bild machen. Lassen sich naturwissenschaftliche Vorgänge überhaupt streng berechnen?

Handelt es sich überhaupt um strenge Gesetze, die aller Beeinflussung durch Zahl und Zufall verschlossen sind?

Die Entwicklung der Natur ist eine Mixtur aus unveränderlichen Gesetzen und zufälligen Einwirkungen durch den Menschen.

Zufällig heißt nicht, dass das Wirken des Menschen auf Erden völlig willkürlich wäre, sodass keinerlei Aussagen über die Zukunft möglich wären. Solange die Menschheit in der Vergangenheit eine durchschnittlich unveränderliche Weltpolitik betreibt, könnte man ihr weiteres Tun überschlagen und ungefähr voraussagen.

Wer vor allem Zufall sieht, lehnt alle Warnungen vor schrecklichen Gefahren ab. Die Warner hält er für apokalyptische Wichtigtuer und irrationale Unheilspropheten, die sich einbilden, über jenseitige Offenbarungen zu verfügen, aber nicht über nachvollziehbare Erkenntnisse des Diesseits.

Wer Natur und Mensch für berechenbar hält, für den ist der Mensch ein komplettes Naturwesen ohne jegliche Freiheit. Weder besitzt er einen freien Willen noch die Fähigkeit, die Natur in verschiedener Weise zu beeinflussen.

Der freie Wille gilt gewöhnlich als Eigenschaft des menschlichen Geistes, der selbst über sich bestimmen kann. Der Mensch wäre dann ein Doppelwesen aus körperlich-kausaler Natur und unberechenbarem Geist.

Menschen ohne freien Willen wären nichts anderes als Tiere oder Pflanzen. Ihr Schicksal auf Erden wäre identisch mit dem der gesamten Natur.

Unter den großen Denkern der Menschheit gibt es keine Einigkeit in der Frage, ob der Mensch ein kausales Naturwesen oder ein relativ freies Geistwesen ist, das sein irdisches Schicksal selbst bestimmen kann.

Aufklärer und Idealisten halten ihn für frei, weshalb sie an seinen Geist appellieren, damit er sein Leben auf Erden klug und rational verwalten könne.

Materialisten halten ihn für einen kompletten Teil der Natur, weshalb es unnötig und überflüssig wäre, sich Gedanken über sein Schicksal zu machen. Ohnehin wäre er nur ein Gefangener der Natur.

Reine Idealisten halten diese Charakteristik des Menschen als materielles Wesen für eine Zumutung – die sie ablehnen.

Karl Marx hält den Menschen für ein materielles Wesen – das Sein bestimmt das Bewusstsein –, kommt aber daher mit der Theatralik eines revolutionären Idealisten: Geknechtete und Ausgebeutete, befreit euch von euren Ketten.

Es gibt keine Möglichkeit für sie, diese Befreiung aus rationalen Gründen selbst in die Hand zu nehmen. Marx ist Anhänger einer übermenschlichen Geschichte, die allein über die Befreiung der Schwachen bestimmt. Seine Geschichtsvorstellung ist identisch mit der Heils- und Unheilsgeschichte der Erlöserreligionen.

Die Ausgebeuteten können die Fäuste recken und zur Revolution aufrufen, die Frommen können beten: Komm Herr, ach komme bald! Doch mehr können sie nicht. Die Frommen und Proleten bleiben Marionetten ihrer Heilsgeschichte.

Zwar gab es tatkräftige Marxisten, die sich berufen fühlten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, eine Revolution auszurufen und ein leninistisch-stalinistisches Zwischenreich als Diktatur zu errichten.

Doch streng genommen war das eine „Sünde vor dem Geist“, also politische Vermessenheit und Hybris, die eines Tages in sich selbst zusammenfallen würden. Das war das Schicksal der Sowjetunion, die es nicht schaffte, sich zu einem überlebensfähigen Weltreich zu entwickeln.

Gorbatschow erkannte die fundamentalen Fehler seiner Nation, befreite sie von allen marxistischen Bestandteilen und schuf eine westliche Demokratie. Pardon, er versuchte es, doch letztlich scheiterte er und musste das Riesenreich unklaren Geistern wie Jelzin oder Putin hinterlassen.

Ist der Westen demgegenüber ein Reich des autonome Geistes, nur geprägt von den Gedanken selbständiger Demokraten?

Schön wär’s, ist es aber nicht. Hinter der Fassade der Freiheit agieren gigantische Kräfte, die sich für heilsnotwendig halten. Richtig gelesen: heilsnotwendig. Denn hinter den Masken selbstbestimmter Freiheit rühren sich noch immer die uralten Mächte der Religion, die sie angeblich überwunden haben.

Doch diese Mächte haben sich säkularisiert – in weltliche Determinanten verwandelt. So ist ihr Glauben an den Fortschritt nichts anderes als die selbsterfüllende Prophezeiung eines Reiches der Vollkommenheit. Tatsächlich, sie wollen den Himmel auf Erden verwirklichen. Hayek würde aufheulen.

Just diese beiden Mächte: säkularisierte Religion – und der Glaube an das Prinzip „Zeit und Zufall“ (das die Erfüllung der Geschichte im goldenen Jerusalem ablehnt und nur den Sieg der Superreichen über die Armen und Unseligen als historische Triebkraft anerkennt) bestimmen halb-despotisch die Politik des Westens.

In Amerika gibt es bei vielen keine Probleme, die Religion als künftige Siegerin der Geschichte zu feiern. Im verbündeten Europa hingegen war das Moment der Aufklärung stärker und kann mit der wortwörtlichen Auslegung des Heiligen Buches nichts anfangen.

An diesem Punkt der Selbsteinschätzung duldet der Fortschrittsglaube des Westens keine Kritik. Wissenschaft und Technik sind für ihn nicht nur Instrumente einer glaubensfreien Ratio. Zugleich werden sie missbraucht zu scheinwissenschaftlichen Ermächtigungen, die Welt gänzlich für sich zu erobern. Der wissenschaftlich und technisch Überlegene hat die Ermächtigung, sich als zukünftiger Sieger der Heilsgeschichte zu betrachten.

Die Naturwissenschaften haben sich längst zum Religionsersatz erweitert und kommen daher im Talar geistiger Weltherrscher.

In Deutschland sind Technik und Wissenschaft zur Ersatzreligion geworden, zu Animateuren einer imperialen Weltpolitik.

Im SPIEGEL schreibt der russische Exilschriftsteller Mikhail Zykar die seltenen Worte:

„Auffallend ähnliche imperiale Gedanken werden zur gleichen Zeit von britischen Gelehrten und Schriftstellern vertreten. So verfasst der Historiker John Seeley ein monumentales Werk, »The Expansion of England« (Die Ausbreitung Englands), in dem er argumentiert, Großbritannien habe Indien zu dessen eigenem Besten besetzt. Und Rudyard Kipling wird diesen Gedanken 1899 in seinem poetischen Manifest »Die Bürde des Weißen Mannes« weiterentwickeln.“ (SPIEGEL.de)

Nicht nur Russen hatten uralte Erwählungsmythen, sondern auch der Westen.

Wenn es um die Beurteilung Putins geht, muss man seinen jugendlichen Traum von der Erlösung der Welt durch das heilige Russland bedenken. Durch Gorbatschow eine Zeitlang in die Irre geführt, kehrt Putin – enttäuscht von der Verachtung des Westens – zurück zu den Mythen seiner russischen Welterlöser.

Dass Merkel dieses religiöse Erbe Dostojewskis und Tolstois nicht wahrnehmen konnte, lag an ihrem eigenen religiösen Erbe, das sie stets unter dem Teppich versteckt hielt.

Wie viele selbstkritische amerikanische Bücher über amerikanische Auserwähltheit gibt es, die von keinem deutschen Journalisten gelesen werden. Dann hätten sie gemerkt, wie Deutschland mitten inne zwischen zwei hochgradig parallelen Konkurrenten liegt. Zwar ist Deutschland abhängig von der militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Amerikaner. Was aber nicht bedeutet, dass man seine Freunde nicht kritisch einschätzen dürfte.

Zykars Resümee sollten wir zur Kenntnis nehmen.

„Es ist Zeit für einen Entzug. Denn wir sind eine Gefahr für andere und für uns selbst. Die imperiale Geschichte macht uns krank, sie ist eine angeborene Sucht. Die Entzugserscheinungen werden heftig sein. Aber es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen in die Realität zurückkehren und erkennen, was wir getan haben. Diese Lektion müssen wir lernen. Wir müssen aufhören, an unsere Einzigartigkeit zu glauben; aufhören, stolz auf unser riesiges Gebiet zu sein; aufhören zu glauben, dass wir etwas Besonderes sind; aufhören, uns als Zentrum der Welt anzusehen, als ihr Gewissen, ihre Quelle der Spiritualität. Das ist alles Blödsinn.“

Wie alarmierend sollten die Warnungen vor dem klimatischen Weltuntergang sein?

Die WELT brachte eine Umfrage, wie prominente Zeitgenossen unsere Zukunft in 75 Jahren sehen. Bill Gates etwa:

„In 75 Jahren ist der Klimawandel … dank der Innovationen und Investitionen, die gerade vorangetrieben werden, eine Entwicklung, die kein unverhältnismäßig großes Leid mehr verursachen wird. Dies gilt hoffentlich besonders für Menschen in Regionen, die schon heute mit den Auswirkungen des Klimawandels zu kämpfen haben.“ (WELT.de)

Auch die anderen Propheten sind keine Schwarzseher. Es wird schon irgendwie gehen – vor allem dank des technischen Fortschritts. Das selbstgefällige Auserwählten-Image leidet keinen Schaden.

In 75 Jahren werden die Reichen und Mächtigen zurückschauen und fragen: was war denn damals, als die sogenannten Klimaschützer auf die Straße gingen? Ach ja, Weltuntergang wieder einmal. Heute wissen wir, wie man mit solchen Unheilsprophetien umgehen kann. Technik und Wissenschaft haben uns damals wieder einmal zuverlässig aus dem Schlamassel geholt.

Durch solche Zukunftsvisionen kommen die heutigen Warner und zivilen Ungehorsamen erst recht in die Bredouille. Mit welchem Recht stören sie den Betrieb unserer beschädigten Nation?

Sind sie nicht verkappte Fanatiker, mit denen man gar nicht mehr reden kann? Woher wollen sie wissen, dass ihre törichten Klebeaktionen die Menschen tatsächlich zum Nachdenken bringen? Sieht nicht ein jeder, der Zeitung lesen kann, dass sie die Menschen nur verärgern und alles zum Stillstand verurteilen?

Gegenfrage: woher wissen die Kritiker, dass die Warnungen auf Dauer vergeblich sein werden? Gibt es irgendwelche Zukunftsgucker, die genau wissen wollen, was eines Tages passieren wird?

Nein, niemand weiß es, niemand kann es wissen. Menschliches Tun ist nicht kausal und also nicht gesetzmäßig zu prognostizieren.

Hier bleibt nur jedem die Möglichkeit, seine eigenen Erfahrungen theoretisch und praktisch in seine politische Praxis einzubringen. Zukunftsgucker gibt es nicht und wird es nie geben.

Empfehlung: beginnen wir von vorne, studieren wir unsere Vergangenheit, um mögliche Zukunftsperspektiven zu erhaschen. Denn das Unaufgearbeitete wiederholt sich.

Eins aber halten wir für bombenfest, liebe Schwestern und Brüder: was wir vor allem wissen sollten, ist die Beantwortung der Frage:

Wie willst Du von anderen behandelt werden? Ebenso solltest Du die Anderen behandeln. Dann kann es für niemanden eine inhumane Zukunft geben.

„Man kann nicht für sich leben, ohne für andere zu leben.“ (Stoa)

Fortsetzung folgt.