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Natur brüllt! XV

Tagesmail vom 15.09.2023

Natur brüllt! XV,

Die Menschheit geht zugrunde.

Wer ist schuld?

Keine Natur, kein übermenschliches Schicksal. Sie selbst. Niemand sonst.

Die Menschheit hat gelernt, ihre mächtigsten Nationen immer gewaltiger aufzubauen, um sie unvermeidlich dem Erdboden gleich zu machen.

Ägypten, Babylon, Persien, Assyrien, Alexander der Große, Rom, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Das Britische Weltreich, Der kolonialistische Christliche Westen, Die UDSSR. Amerika steht möglicherweise vor dem Trump’schen Kollaps.

Die Völker der Erde beginnen sich neu zu konstituieren. An der Spitze stehen Indien und China. Ade Abendland, das Morgenland übernimmt. Wird die Menschheit einen Neuanfang schaffen?

Was sind die Mittel ihrer Selbstzerstörung? Die Eliminierung jener Instrumente, von denen sie lange überlebte – die endlos scheinenden Reservoirs des Planeten: Luft, Wasser, Naturschätze, Erdböden.

Die Erde – einst ein blühender Planet mit vier Jahreszeiten – vertrocknet und wird zugleich überschwemmt von Sintfluten. Die Menschen fliehen vor Hunger und Seuchen in immer kleiner werdende Winkel der Erde.

Aus Angst vor dem Ende greifen die Nationen zu den Waffen und bringen sich prophylaktisch um. Nicht in Qualen wollen sie verenden, sondern in einem apokalyptischen Inferno: Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

Der Mensch, einst ein homo sapiens, ein kluges Wesen, fragt seltsamerweise nicht energisch nach den Ursachen seines Verfalls. Man organisiert internationale Konferenzen, macht sich gegenseitig Vorwürfe, einigt sich scheinbar auf gemeinsame Resolutionen – und hat alles in zwei Wochen unter den Teppich gekehrt.

Keine Nation meinte es ernst, niemand wollte seinen Wohlstand und seine geniale Technik ruinieren.

Dann ertönen vielstimmige und dennoch eintönig-globale Beruhigungsgesänge. Vor allem in den fortgeschrittensten Ländern, deren KI einen grundlegend neuen Beginn der globalen Kultur verspricht.

Sei es durch Ausbesserung alter Fehler, sei es durch gänzlich neue Anfänge in den Tiefen des Universums – die allerdings nur für einen elitären Bruchteil der Menschheit eine Zukunft schaffen können. Die Massen der Überflüssigen werden unauffällig beruhigt, indem man ununterbrochen das Lied vom Fortschritt singt.

Jaja, Fortschritt bringt Ungemach, doch er bringt auch gänzlich neue Mittel, das Ungemach in Wunder zu verwandeln. Liebe Menschen, vertraut uns und habt ein wenig Geduld.

Die Menschen vertrauen – und verrecken. Wird es nochmals einen Noah geben, der auf einer voluminösen Arche ins Heil schwimmen wird?

Reden wir von Prodikos, einem alten Athener, der das Übel der Gegenwart schon vor 2500 Jahren voraussah – und heilsame Gegenmittel erfand, um die heutige Zeit in ein Elysium zu verwandeln.

Doch Attention: Begriffe wie Elysium, Idylle, Paradies, werden heute geschmäht. Sie gelten als Geschenke der Götter, an die man heute nicht mehr glauben kann. An Götter darf man nur glauben, wenn sie am Kreuz gemartert, die Defekte der Menschheit auf sich genommen und die Bösewichte in alle Ewigkeit erlöst haben.

Was sagt Prodikos zu diesem Lärm der technischen Heilande?

„Die Dinge, die Prodikos in seinen Reden über den Reichtum ausführte, sind weder an sich gut noch schlecht. Beides werden sie erst durch den Gebrauch, den der Mensch von ihnen macht. Reichtum beispielsweise ist keineswegs an sich ein Gut, sondern nur für den, der ihn zu nützlichen Zwecken zu nutzen weiß; für törichte und schlechte Menschen kann er zum Verderben werden. Daher muss man den rechten Gebrauch von einer Sache machen, dies aber könnte gelehrt und gelernt werden.“ (Nestle)

Prodikos war dafür bekannt, dass er das Beten ersetzen wollte durch die Selbsttätigkeit des Menschen.

„Mensch, geh selbst ans Werk!“

„Die Anfechtung des Reichtums als eines unbedingten Gutes und die Behauptung, dass er auch ein Übel sein könne, erregte unter den Zuhörern ungeheures Aufsehen.“

Nichts ist gut oder schlecht an sich, alles kann sinnvoll sein, wenn es richtig oder sozial angewendet wird, alles sinnlos, wenn es nur zum Eigennutz der Wenigen verwendet wird.

Fassen wir zusammen:

In Athen wurde zum ersten Mal der aufkommende Kapitalismus zu bändigen versucht. Von vielen wird bestritten, dass es in jenen Zeiten überhaupt einen Kapitalismus gab.

Wie kann es ihn nicht gegeben haben, wenn es schon eine veritable Zunft gab, die seine Vor- und Nachteile durchdachte, um der Polis zu dienen? Diese Zunft bestand aus Philosophen, die nichts gelten ließen, was sie nicht selbst scharfsinnig durchdacht hatten.

Die Erfindung der Demokratie – ein weltpolitisch ungeheurer Versuch, die Probleme der Gemeinschaften friedlich und gleichberechtigt zu lösen. Dazu gehörte der Versuch, die Tauschbeziehungen der aufkommenden Arbeitsteilungen unter dem Prinzip der Gerechtigkeit zu durchdenken.

Gibst du mir deine Tagesleistung, geb ich dir meine. Sind beide gleich viel wert – oder kann der Weizenbauer mehr Profit aus einem Tausch rausholen?

Man konnte die Waren wiegen. Aber war dasselbe Gewicht auch von gleichem Wert? Versteht sich, dass die Waage erfunden werden musste. Auch das Geld durfte nicht fehlen, um das genaue Äquivalent ausfindig zu machen.

Freunde, die sich vertrauten, brauchten all diese quantitativen Methoden nicht, um in gerechtem Sinne zu tauschen. Je mehr aber Fremde ins Spiel kamen, umso mehr mussten die Messmethoden jederzeit nachprüfbar sein.

Das Urvertrauen der Ursippen verwandelte sich bei steigenden Fremdverhältnissen in methodisches Misstrauen, das nur durch „objektive“ Methoden repräsentiert werden konnte.

Misstrauen und objektive Methoden, um das Misstrauen zu besänftigen: das ist das Grundgefühl des Kapitalismus bis heute. Die strengen quantitativen Methoden haben lediglich den Zweck, das Urmisstrauen der Menschen zu beheben. Das geht nur, solange man den strengen, möglichst naturwissenschaftlichen Vergleichsmethoden vertraut.

Das Misstrauen hat sich bis heute wieder verstärkt, insofern die Tauschmethoden immer listiger und undurchsichtiger geworden sind. Welcher normale Mensch kennt die Kniffe der Börse, wo Geld Geld zeugen soll? Was überhaupt ist Geld? Sind zwei gleiche Geldbeträge wirklich gleich viel wert?

Wenn ein Reicher seinem Nachbarn einen Geldbetrag leiht, kann er dem Schuldner tatsächlich Zins und Zinseszinsen abverlangen, weil er in der Zwischenzeit mit seinem Geld nichts verdienen konnte?

Man sieht, die endlos vielen Regeln des Kapitalismus entsprangen alle dem uranfänglichen Misstrauen zwischen Menschen, das nicht überhand nehmen durfte.

Kapitalismus ist Ersetzen von Fremdheitsgefühlen durch Geld oder andere objektive Werte. Die Einschätzung eines Tauschs, in Freundschaften kein Problem, wird zum Dauerproblem zwischen Fremden. Kommt hinzu, dass es immer mehr Reiche gibt, die sich diese Geschäfte unter den Nagel reißen, dadurch wird das Misstrauen zur Eigenschaft einer Klasse.

Zumal es anfänglich das Ziel einer Polis war, Gleichheit herzustellen. Doch wie kann dieses Misstrauen gedämpft werden, wenn das Vertrauen der Reichen in die Methode des Rechnens stets höher geworden ist als eine diffuse Empathie zwischen schwankenden Charakteren?

Heutige Untersuchungen des Kapitalismus wollen mit Psychologie nichts zu tun haben. Sie beschränken sich auf die Darlegung der „wissenschaftlichen Methoden“ des Tauschs in allen Variationen.

Demokratie, die große Entdeckung der Athener, wollte Gleichheit zwischen den Menschen in einer neuen Polis. Die neuen Probleme der Gerechtigkeit, Gleichheit etc. konnten nur gelöst werden, wenn sie im Akt des Entstehens überprüft und durch gleiche Kriterien kontrolliert werden konnten.

Das war das Geschäft der neuen Denker, die sich zusammensetzten, um sich möglichst in der Frage zu einigen: ist Demokratie eine Gemeinschaft gleicher Verdiener – oder ein Revier haltloser Wettbewerber, die unter dem Schein der Seriosität ihre Mitspieler und Rivalen möglichst prellen wollten?

Da es zu alldem in einer jungen Polis keinerlei festgelegte Kriterien gab, mussten die Philosophen in harter Denkarbeit die Grundregeln der Gleichheit etc. durchdacht haben, damit das Gemeinwesen einigermaßen funktionieren konnte.

Kurz: in einer echten Demokratie mussten alle Bestimmungen zwischen den Menschen „gelehrt und gelernt“ werden. Die Philosophen wurden zu Lehrern der neuen Polis. Nicht in staatlichem, aber in öffentlichem „Dienst“.

Eine lernbegierige Jugend gesellte sich zu den öffentlichen Denkern, bei denen sie erfuhren, nach welchen Regeln eine vitale Demokratie funktioniert – oder funktionieren sollte.

Versteht sich, dass die Jugend ihr neu gelerntes Wissen und Disputieren nutzte, um ihre alten Autoritäten zu blamieren. Die freche Jugend war bekanntermaßen schuld daran, dass einer ihrer profiliertesten Lehrer, namens Sokrates, das Unbehagen mächtiger Bürger erregte, weil man ihm vorwarf, öffentlichen Unfrieden durch neues Denken zu erregen.

Alles, was es damals als neues, kritisches Denken gab, um der Polis eine stabile Grundlage zu verschaffen, ist heute so gut wie unbekannt. Zum Teil deshalb, weil wir uns als altgediente Demokratie verstehen, zum Teil deshalb, weil wir noch immer unfähig sind, die Grundregeln einer Volksherrschaft zu verstehen.

Nie haben die Deutschen sich eine stabile Demokratie erstritten. Das haben ihr lutherisches Erbe – seid untertan der Obrigkeit – und ihr Katholizismus –der Papst ist der unfehlbare Stellvertreter Gottes – strikt verhindert.

Die heutige Demokratie wurde ihnen von den Alliierten übergestülpt. Ein demokratisches Verhalten im Betrieb, in der Schule, in den wahlfreien Zeiten ist ihnen unbekannt.

Das zeigt sich besonders in der Ökonomie des Neoliberalismus, dessen Grundregeln lauten: Ich zuerst, dann alle anderen. Entscheidend sind die Aktivitäten des privaten Geldes, der Staat muss sich raushalten. Zuerst die Freiheit des Mammons, dann lange lange nichts. Freiheit ist die grenzenlose Verfügbarkeit über die Macht meines Geldes, das durch keinerlei „staatliche“ Interventionen beschränkt werden kann. Freiheit ist grenzenlose Macht über mein Hab und Gut.

Hier erkennt man deutlich, dass diese moderne Ökonomie nicht die geringste Ahnung von Demokratie haben kann. Denn, halten zu Gnaden, eine Demokratie ist kein Staat, Staat ist die Erfindung alter Monarchisten, in dem die Obrigkeit stets das entscheidende Wort hat. Der heutige Staat ist die unerträgliche Bürokratie.

Da unsere Demokratie nur aus einer zentralen Regierungsgewalt besteht, ohne viele partikulare Demokratien, die in bestimmten Angelegenheiten mitreden könnten, kommen die Deutschen nicht auf die Idee, ihre Streitfälle selbst in die Hände zu nehmen. Gibt es Schulklassen, die ihre Probleme selbst lösen können? Gibt es Betriebe, in denen die Belegschaften mitreden können? Etc.

Warum geht die Menschheit zugrunde? Weil die Deutschen, (um nur sie herauszugreifen) keine veritablen Demokraten sind. Wenn sie unzufrieden sind mit irgendwas, sind sie noch immer unfähig, ihre Sache öffentlich zu debattieren und – je nach Möglichkeit – regional zu entscheiden.

Fast die Hälfte der Bevölkerung fühlt sich krank und gelähmt. Und die Ärzte erkennen nicht den realen Grund des medizinischen Befunds: es ist die Unfähigkeit der Einzelnen, ihr Unbehagen an den unzufriedenen Umständen rational zu analysieren und die besten Lösungen zu suchen.

Geht es etwa nach dem Kurs des Neoliberalen Hayek, ist Vernunft unfähig, menschliche Angelegenheiten zu analysieren. Wenn aber Vernunft verabschiedet wird, bleiben nur noch ein stets steigender Aggressionskurs in allen Bereichen und eine zunehmende Feindschaft gegen alles Demokratische.

Wirtschaft in prinzipieller Feindschaft gegen den Staat kann keine demokratische sein.

Wir müssen zurück zu den Anfängen und bei Prodikos beginnen. Eine Demokratie mit preußisch-staatlichem Eigenleben, in welcher mündige Bürger nur einmal in vier Jahren mitbestimmen können – ist keine.

Fortsetzung folgt.