Kategorien
Tagesmail

Natur brüllt! XIV

Tagesmail vom 11.09.2023

Natur brüllt! XIV,

„Wir bauen eine neue Stadt,
die soll die allerschönste sein,
die soll die allerschönste sein.
Da ziehen wir mit Eimern und Schaufeln
Und Wagen und Pferden
Und Puppen und Autos
und allem, was wir haben,
zusammen hinein.
Wir bauen eine neue Stadt,
die soll die allerschönste sein.“ (Hindemith, 1930)

Jetzt bauen sie wieder. Größer und schöner als zuvor.

Dann reißen sie wieder alles nieder. Oder lassen es verfallen. Verheerender denn je.

Dann bauen sie wieder alles auf. Aufgeben? – Nichts für sie.

Dann wieder Verfall und Aufbau, Verfall und Aufbau. Immer schöner und immer schrecklicher – bis zum heutigen Tag. Und jetzt?

Jetzt ist die Erde ruiniert, die Natur wabert in schlechter Luft, die Kultur stinkt von Leichenbergen. Schluss mit der nutzlosen Erde.

Dann die neue wunderschöne Stadt auf dem Mars. Die Evolution darf durchatmen – und weiter im alten Takt. Da capo al fine.

Was soll das Ganze?

Solche Fragen sind Kinderfragen und in der Welt der Sieger nicht erlaubt. Hier eine Ausnahme:

„So ist nun einmal die Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft, dass während einige Personen sich durch Reichthum, Ehre und Kenntnisse auszeichnen, die Masse des Volkes zu Dunkelheit, Unwissenheit und Armuth verdammt ist.“ (Gibbon, Verfall und Untergang des Römischen Reiches).

Die bürgerliche Gesellschaft ist nicht Inbegriff der europäischen Menschheit, die vor 2000 Jahren ihren Anfang nahm. Hier begann etwas in schreckenerregender Bravour, was heute in modernster Verkommenheit zu enden scheint.

„Die frühen Christen waren auf das Märtyrertum so sehr erpicht, dass sie zuweilen „den fehlenden Ankläger durch eine Selbstbezichtigung ersetzten, die heidnischen Gottesdienste rücksichtslos störten – und freudig in die Flammen sprangen, die entzündet wurden, um sie zu verzehren.“ (ebenda)

Heute soll es Märtyrer geben? Ja, die Deutschen gehören dazu. Sie wissen, dass der Versengungstod über sie kommen wird – und tun nichts. Im Gegenteil, langsam wird ihnen das Geschwätz vom Untergang lästig und sie pochen energisch auf Weiter und immer Weiter so, auf immer Reicher und Fantastischer, Mächtiger und – Hoffnungsloser.

Ihre Schuld an der Natur ist so gewaltig geworden, dass sie straflos nicht mehr davonkommen. Sie wollen wieder eigentlich werden, wie ein Schwarzwälder Tiefendenker ihnen ins Ohr flüsterte.

Wenn sie durch Schuldannahme eigentlich werden, hoffen sie, entgehen sie dem „Verfallen an das Man, an das Gerede.“ Wenn sie per Eigentlichkeit das Inferno des Feuers akzeptieren, hoffen sie, ihre Schuld loszuwerden.

Die Moderne in ihrer leichtsinnigen Uneigentlichkeit verlangt ihren Tribut. Und der ist Jetzt fällig. Jetzt.

Ist das nicht schrecklich für uns? Gibt’s kein Entkommen dem himmlischen Inferno?

Doch – aber das will niemand wissen. Würden wir unsere tausendjährige Schuld laut vor dem Himmel bekennen, – nein, natürlich vor den Menschen und der Natur!! –, dann hätten die rohen Gewalten Nachsicht mit uns.

Vergiss es mit deinen kindischen Wünschen. Der moderne Mensch wandert unbeirrt ins Endlose.

Dann hol ich jetzt die Wahrheiten der Alten aus dem Keller und schlag sie dir um die Ohren:

„Seit der Morgendämmerung der Zivilisationen gibt es eine Diskrepanz zwischen technologischem Fortschritt des Menschen und seinem gesellschaftlichen Verhalten. Der technologische Fortschritt hat besonders in den letzten 200 Jahren Macht und Reichtum gewaltig vermehrt, während die Kluft zwischen der physischen Möglichkeit, Böses zu tun und der geistig-sittlichen Fähigkeit, diese Kräfte zu meistern, so klaffend weit geworden ist wie die mythischen Schlünde der Hölle.“ (A. Toynbee)

„Es ist gewiss, dass die Tugenden und die Weisheit der Menschen im Verlauf der Jahrhunderte, während sie in grenzenlos wachsendem Tempo Wissen und Macht ansammelten, keinerlei bemerkenswerte Besserung gezeigt haben. Unter Hunger, Schrecken, kriegerischer Leidenschaft oder kalter intellektueller Torheit wird der moderne Mann, den wir so gut kennen, die furchtbarsten Taten begehen, und seine moderne Frau wird ihn dabei unterstützen. Darum ist es vor allem wichtig, dass die Moralphilosophie und die geistigen Begriffe der Menschen inmitten dieser erschreckenden Entwicklungen der Wissenschaft standhalten. Es wäre viel besser, dem materiellen Fortschritt und den Entdeckungen Einhalt zuzurufen, als uns von unseren eigenen Instrumenten beherrschen zu lassen. Es gibt Geheimnisse, die viel zu rätselhaft sind, als dass der Mensch in seinem jetzigen Stadium sie kennen könnte; Geheimnisse, die, einmal ergründet, tödlich für das Glück und die Herrlichkeit der Menschen sein könnten. Ohne eine Vermehrung von Barmherzigkeit, Mitleid, Frieden und Liebe kann die Wissenschaft selbst alles zerstören, was das Leben majestätisch und erträglich macht. Schließlich befriedigt dieser materielle Fortschritt, so glänzend er auch ist, nichts von dem, was das Menschengeschlecht wirklich braucht.“ (Winston Churchill, 1932)

War Churchill ein hellsichtiger Prophet? Hat er unsere heutigen Probleme, fast ein Jahrhundert später, tatsächlich vorausgesehen? Wir wissen, ein echter Prophet ist kein Vorausgucker, sondern ein scharfsichtiger Beobachter seiner Gegenwart, die er in die Zukunft verlängert, immer vorausgesetzt: es ändert sich nichts. Propheten als Stimmen des Himmels gibt es nicht, es gibt lediglich wache Benutzer ihrer Sinnesorgane.

Wer hätte das gedacht: ein harter englischer Staatsmann artikuliert jene Moral, die die Deutschen als die ihrige betrachten und vertritt nicht die moralfreie (falsche) Naturwissenschaftlichkeit der Ökonomie.

Es war ein Amerikaner, der in der englischen Entwicklung der Ökonomie zwei klaftertiefe Brüche sieht. Sein Name ist John Kenneth Galbraith. In seinem Buch „Die Entmythologisierung der Wirtschaft“ schreibt er:

„Der Merkantilismus bedeutete einen entschiedenen Bruch mit den ethischen Anschauungen und Lehren des Aristoteles und des hl. Thomas von Aquin bzw. des Mittelalters im allgemeinen. Da die Handelsherrn mit ihrem offenkundigen Streben nach Reichtum in einer Gesellschaft agierten, in der sie einflußreich waren, die sie vielleicht sogar dominierten, verlor ihre Tätigkeit den Beigeschmack des Bösen oder Unmoralischen. Die Kaufleute drückte ihr Gewissen nicht.“

(Merkantilismus hat nichts mit Merkel zu tun, obgleich sie in seinem Geist agierte. Merkantilismus (von französisch mercantile ‚kaufmännisch‘, lateinisch mercator ‚Kaufmann‘) ist eine Wirtschaftspolitik, die möglichst viele Waren aus dem Land ausführen möchte und möglichst wenig Waren ins Land lässt. Ziel war eine positive Leistungsbilanz.)

Noch eine Richtigstellung: die Moral des Thomas von Aquin war genau genommen eine aristotelische, die er mit neutestamentlichen Düften versah.Die wahre Ethik der Christen hat vor allem mit dem Jenseits zu tun, nicht mit der Erhaltung des Diesseits.

„Das totale Fremdsein in der Welt setzt eine andere Heimat voraus, und so wird die Rede vom Christen als Himmelsbürger ein wiederkehrender Topos. „Unsere Heimat ist im Himmel“ tut Paulus kund, „Liebet nicht die Welt noch das, was in der Welt ist“: der Christ ist ein Fremdling in dieser Welt. Die Welt gehört wohl dem Gott, die Dinge dieser Welt aber dem Teufel.“ (M. Clauss, Ein neuer Gott für die alte Welt)

Bis in die Zeiten Konstantins galten die Martyrien als wichtigstes Überzeugungsmittel der Christen – nicht etwa Nächstenliebe oder soziale Maßnahmen.

Merkels Schweigepolitik war ein Abdruck dieser Jenseitspolitik. Lieber galt sie als weltliche Versagerin als sich anzumaßen, die tapfere Magd Gottes in Demut zu verweigern.

Merkels Rolle als mutig-männliche Politikerin in weiblicher Demut entspricht auch noch der altchristlichen Überzeugung: „Frauen überwinden als Märtyrer mit der Welt zugleich ihr Geschlecht.“ (ebenda)

Kein Wunder, dass, bei der beginnenden Rückkehr des Alten – auch die allgemeine Forderung nach der Demut erhoben wird.

„Wer Kanzler werden will, wie Friedrich Merz es anstrebt und wie Söder es mal angestrebt hat (und aller Wahrscheinlichkeit nach ganz gern auch wieder anstreben würde), ja selbst wer wieder stellvertretender bayerischer Ministerpräsident werden will wie Aiwanger, muss sich an dieser großen Perspektive, an der Fähigkeit zur allzeit nötigen deutschen Demut, messen lassen.“ (SPIEGEL.de)

Susanne Beyer fordert nicht nur Demut im allgemeinen, sondern – hört hört – deutsche Demut. Wenn Demut eine humane Tugend wäre, wäre sie dann nicht eine universalistische? Was bitte, hat Demut mit völkischen Helden zu tun?

Dieser Bruch mit der scheinbar-christlichen Moral des Abendlands ist nicht die einzige schroffe Abkehr der Wirtschaft von der traditionellen scheinbar mitfühlenden Ethik der früheren Europäer. Galbraith konstatiert noch einen anderen fulminanten Bruch:

„Die wirtschaftlichen Triebkräfte scharen sich bei Smith um die zentrale Vorstellung des Eigennutzes. Dessen Verfolgung im Prozess des Wirtschaftens ist die Ursache größtmöglichen öffentlichen Nutzens. So die berühmte Stelle: „Nicht vom Wohlwollen des Fleischers … Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe. Irdisch betrachtet, war es ein ungeheurer Schritt, den Smith hier tat. Bislang war derjenige, der sich seiner eigenen Bereicherung widmete, Gegenstand von Zweifeln, Verdacht und Misstrauen gewesen. Gefühlen, die zurück auf biblische Zeiten und die Heilige Schrift zurückgingen. Nunmehr war er eben aufgrund seines Eigennutzes zum öffentlichen Wohltäter geworden.“

Ist denn das die Possibility? Die Reichen sind keine Ausbeuter der Armen und Schwachen, sondern ihre Wohltäter, ja die Wohltäter der ganzen Welt!? Diese weltumstürzende Stelle kennen alle Reichen samt denen, die es werden wollen.

Eine riesige Moral-Umkehr bei Adam Smith, jahrhundertelang vorbereitet durch die zunehmende Verwissenschaftlichung der irdischen Vorgänge. Und damit des Sieges der kausalen Naturwissenschaften über die korrelativen Geisteswissenschaften.

So ist es der Ökonomie gelungen, die szientive Herrschaft über die Welt zu erobern, ohne jemals die geringste Schuld auf sich zu laden. Die „sündigste Welt“ wird rein und unschuldig untergehen. Applaus.

Die deutschen Ökonomen, versunken in Wissenschaftsgläubigkeit, scheinen noch nie von der Moralumkehr bei Adam Smith gehört zu haben. Tapfer sprechen sie jedes neue Glaubensbekenntnis nach, das ihre Besieger ihnen vorsagen.

Demütig sollen sie sein. Das könnte man bei der Hansi Flick Fußballschule verstehen. Aber bei den einmaligen und überragenden Basketballspielern?

Was nehmen wir als Resultat?

Deutschland will stets demütig sein, aber bei aller Demut noch immer die Welt erobern. Wären sie wirklich bescheiden und zurückhaltend, könnten sie Weltmeister in wirtschaftlicher Bescheidenheit und ökologischer Zurückhaltung sein.

Davon kann keine Rede sein. Sie verfluchen alle, die die Nation zur Genügsamkeit verführen wollen. Ihr Platz ist an der Spitze und nirgendwo sonst:

„Im internationalen Vergleich gerät Europa immer weiter ins Hintertreffen. Wir müssen besser werden, und von den besten EU-Staaten lernen Europa wird seine beträchtlichen Produktivitätsreserven nur aktivieren können, wenn die Mitgliedstaaten untereinander hart und fair um die besten Lösungen konkurrieren und dadurch voneinander lernen. Es geht nicht nur um gemeinsame Sicherheit und Solidarität, vor allem geht es um Eigeninitiative.“ (SPIEGEL.de)

Wahre Demutsaussagen, die uns ganz nach Oben treiben werden. Wahrhaft, Deutschland wird das Wunder vollbringen:

Die Letzten werden die Ersten sein.

Fortsetzung folgt.