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Natur brüllt! XLVII

Tagesmail vom 12.01.2024

Natur brüllt! XLVII,

Ärzten fällt es leicht, zu erkennen, ob jemand krank ist. Alles, was nicht einem erfüllten Leben entspricht, muss krank sein.

Ärztliche Philosophie ist einfach: das Ziel des Lebens ist – das pulsierende Leben. Wer dieses Ziel verfehlt, der kann auf keinen Fall gesund sein.

Im politischen Leben scheint alles auf dem Kopf zu stehen. Zurzeit haben wir endlose Konflikte und niemand weiß, wie eine gesunde Normalität aussehen soll.

Die Armen wollen gesättigt, die Reichen auf wunderbaren Inseln isoliert werden, um von feindlichen Raketen nicht getroffen und von verelendeten Massen nicht ausradiert zu werden.

Was ist Gesundheit, was Krankheit?

Gibt es keine verbindlichen Definitionen von einem wünschenswert guten und einem verabscheuenswürdig miserablen Leben?

Wie sollen sich Menschen zusammenraufen, wenn sie nicht wissen, was sie wollen, schon gar nicht, was sie gemeinsam wollen oder verabscheuen?

Es ist, als ob jedes Volk eine eigene unübersetzbare Sprache spräche und jeder Mensch wolle etwas Subjektives, bei dem sein Nachbar nur den Kopf schütteln könne.

Aber, stimmt denn diese Diagnose einer endlosen Unübersichtlichkeit? Wollen wir nicht alle satt werden, ja dick und fett, wollen wir nicht die schönsten Winkel der Welt kennenlernen, mit den schnellsten Autos durch die Gegend flitzen, ein sorgenfreies Leben führen, keine Angst vor unheilbaren Krankheiten haben, keine politischen Despotien erdulden und lachend den Tag beginnen und beenden?

Ja, nicht falsch. Aber hieße das nicht: wir wollen alle dasselbe gute Leben. Nur für jeden dieses Leben zu garantieren: dafür sind wir unfähig? Der Mangel ist die Ursache ewiger Zerwürfnisse?

Jeder will das Beste für sich, an andere aber kann er nicht denken?

Da unsere Menschheitsahnen es für richtig hielten, die Geschichte unter den Fluch des verlorenen Paradieses zu stellen, wird jeder zum Rivalen oder Mörder seines Bruders?

Wer Geschichte nur unter dem Siegel der unaufhebbaren Geschwisterrivalität kennt, der sieht nur eine Möglichkeit der Befreiung: nur ein Gott kann uns retten.

Geschichte wäre nicht mehr die Zeit eines vergnügten Menschengeschlechts, sondern einer unrettbaren Horde von Teufeln.

Die jetzigen Herren der Welt, keineswegs Politiker, sondern technische und ökonomische Genies, wollen nichts lassen, wie es ist. Alles wollen sie ändern. Alles veraltet und wird zum Abfall. Die Erde wird zur Mülldeponie, wenige Auserwählte machen sich auf den Weg ins Universum, um die Geschichte der Gattung von vorne zu beginnen?

Wie oft ist dieser Wiederbeginn der Menschheitsgeschichte schon geschehen? Obgleich alle längst sehen könnten, dass uns eine Menschheitskatastrophe erwartet, wenn wir uns nicht grundsätzlich ändern, geschieht nichts. Alle trotteln lustlos im selben Rhythmus weiter.

Religionen, die ihre Gläubigen am meisten ermahnen, sich täglich zu erneuern, sind am unbeweglichsten. Menschen, die sich aus eigener Kraft verändern, wären für sie die abscheulichsten.

Sie brauchen in ihren Krankenstationen – Kathedralen, Tempeln, Moscheen und Synagogen – nur unheilbare und aussichtslose Fälle, denen sie den Balsam ihrer himmlischen Erlösung einflößen können.

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse interessieren diese nicht, ihre moralischen – pardon: wertegeleiteten – Überzeugungen gehen ihnen nur noch auf den Wecker.

Ist die Erde zu arm und unfruchtbar, um Milliarden Menschen zu ernähren? Oder sind die Menschen zu gierig und unersättlich, um von dieser Erde versorgt zu werden?

Es sind die einfachsten Fragen der Welt, die von den Menschen debattiert werden müssten. Dennoch gibt es nur wenige, die sich dieser Aufgabe widmen.

Ist das ein Zeichen, dass die Menschen sich längst aufgegeben haben? Wollen sie sich gar nicht mehr retten? Haben sie die Schnauze voll von Todes- und Lebensfragen – die sie zum Selbstschutz für unbeantwortbar ausgeben?

Schwatzen und Palavern sind sichere Zeichen des kollektiven Suizids geworden?

Wenn Jugendliche sich auf der Straße festkleben, um vor Klima-Gefahren zu warnen, werden sie von den Mächtigen lächerlich gemacht. Ah schaut mal, da sitzen die neunmalklugen Verschwörer der nächsten Generation, um sich wichtig zu machen.

Wenn aber Erwachsene auf endlosen Traktorkolonnen die Straßen besetzen, wachen nervöse Schreiber plötzlich auf und sehen Zeichen eines tieferen Aufruhrs. Was vermuten sie, welche Verschwörer ahnen sie?

Von Kriegen wollen wir gar nicht reden, wo wütende Nachbarn nichts lieber tun, als ihre Feinde von der Landkarte zu tilgen. Dort geht’s um das Ende der Geschichte, die von Lieblingen eines Gottes als Sieger beendet werden will.

Blicken wir zurück auf die Weisen der Vorzeit, deren Namen heute kein Zuckerberg mehr kennen will:

„Was heißt denn reich? Nichts weiter als ein Wort!
Wer klug, lässt sich am Nötigsten genügen.
Die Güter sind kein Eigentum der Menschen,
Besitz der Götter nur, den wir verwalten
Und den zurück sie holen, wann sie wollen.“ (Euripides)

Für „Götter“ könnten wir auch „Natur“ einsetzen.

Wir – keine Besitzer und Eroberer der Natur – sind nur blasse Verwalter?

Wir – nur eine vorübergehende Gattung der Evolution, die dasselbe Schicksal ereilen wird wie die Dinosaurier?

Da schreiben kluge Menschen endlose Bücher und Dokumente, nur um alles in der Tiefe des Meeres zu versenken? Wofür schreiben wir eigentlich noch – wenn morgen die Große Flut über uns kommt und die Vulkane aller Welt über uns ausbrechen?

Könnten wir das Elend der Welt nicht auf einen Schlag beseitigen, wenn wir den Reichtum der Welt auf alle Menschen verteilten, sodass sie ihres Lebens endlich froh werden?

Glauben die Satten wirklich, glücklicher zu sein als die Hungernden und Durstigen, wenn sie bewegungslos auf ihren Goldschätzen verharren?

Natürlich vergaßen sie, was sie nie wussten – und was in den Anfängen des Reichtumssammelns galt:

„Hier lag in Wirklichkeit die Sache so, dass die Fürsorge für andere sich zugleich dem eigenen Wohle förderlich erwies. Es verband sich mit der Sicherheit des Eigentums ein Gebrauch desselben, der es gewissermaßen zum Eigentum aller Bürger machte, die einer Unterstützung bedurften, sodass es niemand gab, der so arm gewesen wäre, um den Staat durch Betteln beschämen zu müssen. In der richtigen Einsicht, dass die Not auch die Ursache der sittlichen Missstände ist, hoffte man durch die Beseitigung dieser „Wurzel der Übel“ auch der letzteren Herr zu werden. Daher war auch der Areopag in dieser Zeit eine Art Arbeitsamt, das jeden Bürger zu einer seinen Verhältnissen entsprechenden Tätigkeit anhielt und daher Arbeitslosigkeit und ihre Folgen: Not und Laster mit Erfolg bekämpfen konnte.“ (Pöhlmann; Geschichte der sozialen Frage, Bd. !)

Wer könnte solche Sätze heute laut sagen: „…dass die Not auch die Ursache der sittlichen Missstände ist“? Heute darf niemand seine Verbrechen mit seiner Not erklären.

Ursachen erforschen gilt heute als Unschuldserklärung. War Breivik ein Opfer des glücklichen Norwegen? War Hitler ein Opfer des in sich ruhenden Waldviertels? Ist Hammas das Opfer völkerverbrechender Besatzungsmächte?

Überhaupt, was sollen diese Anleihen in Athen? Begann denn der Kapitalismus etwa im Lande der Philosophen?

Hier muss mit einem schrecklichen Irrtum aufgeräumt werden: dass der Kapitalismus nur ein Produkt der Moderne sein kann. Was früher geschah, wäre nur provisorisches Tändeln gewesen.

Für Marx war die Entwicklung des Kapitalismus eine lineare Entwicklung der materiellen Heilszeit, die in der Frühzeit begann und sich durch die Zeiten zum Siege des Proletariats hindurchzog. Erst am eschatologischen Ende der Zeiten werden die Proleten ihre wahre Freiheit erlangen.

Pöhlmanns akribische Beschreibung der Alten, auch in wirtschaftlicher Hinsicht, bezeugt das genaue Gegenteil. Abgesehen von technischen Komplexitäten wie Hedgefonds, Börsen, gibt es heute nichts, was es nicht schon früher gab.

Hier begegnen wir einem absurden Fehler der Althistoriker, die sich dem Denkverbot Marxens nicht entziehen konnten und Hellas ökonomisch abschrieben.

Pöhlmanns Empörung über die Fehlleistung seiner Fachkollegen war grenzenlos:

„Die Geschichtsauffassung der modernen Sozialdemokratie, die nicht zugeben will, dass die heutige proletarische Bewegung irgendeine Parallele in der Vergangenheit gehabt habe, wird auch hier gründlich zuschanden. Der antike Proletarier soll allezeit etwas ganz anderes gewesen sein als der moderne, um sich zu diesem zu verhalten, wie der lästige schmarotzende Bummler zu dem unentbehrlichen Arbeiter, auf dem die ganze Kultur beruht. (Kautsky, Thomas More) Die hart arbeitenden attischen Tagelöhner, Feldarbeiter, Teilpächter, Parzellenbesitzer – Schmarotzer! Und das nennt sich Wissenschaft!“ (Ebenda)

Der Stolz der Moderne wäre hiermit eine Selbstlüge. Was bei Adam Smith geschah, war nur das Komplexe und Hochgeschäumte dessen, was die alten Griechen erfanden und viele Jahrzehnte durchexerzierten.

Freilich: Komplexität ist eine geniale Gabe der Modernen, die sich mit aller Kraft beweisen wollten, wie sehr sie den Alten überlegen waren. Das begann bereits mit dem Streit der Modernen mit den Alten in Frankreich, in dem die Franzosen den alten Tragödien und Komödiendichtern in allen Dingen überlegen sein wollten.

Später waren es ausgerechnet die hellenophilen deutschen Klassiker, die sich von Sokrates abnabelten. Goethe wollte ein Stück über Sokrates schreiben: warum gelang es ihm nicht?

Komplexität wurde zum Glaubensartikel der Modernen. Je komplexer der Begriffsdschungel, je gelungener das Genietheater. Allerdings nur nach dem Geschmack der oberen Stände, das Volk wurde nie ein Fan der Supergescheiten aus Weimar.

Die Ökonomie der Gegenwart verstehen nicht mal ihre Erfinder. Weshalb sie auch nie die Abstürze derselben prognostizieren konnten. Doch ist das Debakel geschehen, wissen sie nachträglich genau, was geschehen ist – und wo sie wieder versagen werden. Warum? Weil Ökonomie nun mal keine Naturwissenschaft ist.

Schon bei Homer begann der landübergreifende Handel, sowie die profitgierigen Geschäfte der adligen Großverdiener. Vor diesem „Sündenfall“ hingegen herrschte – nach Platon – die Sittenreinheit der Unverdorbenen.

„Der Besitz bedeutet noch nicht die die Ausschließung der anderen von den Gütern der Erde, es gab auch noch keine Rivalität, keinen wirtschaftlichen Daseinskampf unter den Menschen. In ihrer einfachen Hirtenexistenz ahnten sie noch nichts von den sittlichen Verheerungen der Erwerbsgier und des Konkurrenzkampfes, wie sie mit der Entwicklung der Erwerbsgier und des Konkurrenzkampfes, wie sie mit der Entwicklung städtischer Kultur Hand in Hand gehen. Daher empfanden sie nur Liebe und Wohlwollen füreinander. Sie kannten eben weder den Mangel der Armut, welcher die Menschen notgedrungen in einen feindlichen Gegensatz zueinander bringt, noch auch den Reichtum. Eine solche Gemeinschaft aber möchte sich wohl der größten Sittenreinheit erfreuen; denn hier erzeugt sich kein Frevel und kein Unrecht, keine Scheelsucht und kein Neid. Es ist ein Zustand seliger Unschuld, der wohl hinter der Zivilisation späterer Zeiten zurückstand, aber diesen in Bezug auf grundlegende soziale Tugenden, sittliche Selbstbeschränkung und Gerechtigkeitssinn weit übertraf und die Schattenseiten: Krieg, innerer Zwist, Rechtshändel, vollkommen fremd waren.“ (ebenda)

Mag das eine überzeichnete Idylle sein, so war sie dennoch nicht falsch. Als der Kapitalismus in Hellas begann, gab es klare Gründe für seine Entstehung, die mit der Ausdehnung der wirtschaftlichen Beziehungen in andere Länder begann – und heute mit der Ausdehnung in den Weltraum so schnell nicht enden soll. Endlosigkeit ist die Phantasmagorie der Umwandlung der Heilsgeschichte in moderne Naturausbeutung.

Was dann beginnt, wurde von Poseidonios so beschrieben:

„Die Habsucht hat die brüderliche Bande zerrissen, welch die Menschen ursprünglich vereinigte, solange sie unverdorben dem Gesetze der Natur folgten. Aber dieser Abfall hat ihnen keinen Gewinn gebracht. Denn sie (die Erwerbsgier) ist selbst für die, welche sie am meisten bereicherte, nur eine Quelle der Armut geworden. Man hörte auf, alles zu besitzen, als man ein Eigentum begehrte.“ (ebenda)

Das waren nur Ausschnitte der Gesamtentwicklung, die bis heute zum Gesamtelend der menschlichen Krisen führte.

Halten wir fest. Nicht nur der Kapitalismus begann in der Antike, sondern auch die ihn bekämpfende Demokratie. Heute gilt der Kapitalismus als fulminante Erfindung der naturwissenschaftlichen Moderne – und Demokratie als idealer Nährboden, um jenen ins Grenzenlose hochzuzüchten.

Universelle Ethik galt damals als bestes Mittel, um der rasch um sich greifenden Geldgier politischen Widerstand zu leisten. Heute ist Moral ein widerwärtiges Produkt zur Bekämpfung der eitlen Siegerposen über Natur und Mensch.

In den Worten Pöhlmanns: „Während die wirtschaftliche und soziale Entwicklung auf eine Verschärfung des Gegensatzes von arm und reich, auf die Zunahme der Ungleichheit und Unfreiheit hindrängte, ist die politische Entwicklung beherrscht von den Ideen der Freiheit und Gleichheit. Und diese Ideen waren hier noch weit radikaler verwirklicht als in irgendeinem demokratischen Gemeinwesen der Neuzeit. Selbst das „freie“ Amerika hat sich bisher noch nicht zu der Höhe der Demokratisierung erhoben, wie sie Athen schon im 5. Jahrhundert erreicht hatte. Damit tut sich ein tiefer, klaffender Widerspruch vor uns auf, wie er bis dahin in der Geschichte der Menschheit noch nicht erlebt ward.“

Und die ruhmbegierige Gegenwart erlaubt sich, diese Unterlegenheit zur Antike zu ignorieren.

Es wäre an der Zeit, dass Kinder in der Schule diese Detailentwicklung penibel lernen könnten. Stattdessen werden sie heute nur mit Schlagworten abgefertigt.

Was müssten wir auf der Stelle tun? Die Hochkomplexen und Stinkreichen ihres menschheitsverderbenden Reichtums entbinden – und die ursprüngliche Gemeinschaft der Menschen erneut herstellen. Wenn wir die Ursachen unserer planetarischen Krisen nicht erkennen, werden wir kein einziges Problem lösen.

Diese zu erkennen, wäre Pflicht Nummer eins aller Gegenwartsdiagnostiker. Die Zeit drängt.

Fortsetzung folgt.