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Natur brüllt! XLVI

Tagesmail vom 08.01.2024

Natur brüllt! XLVI,

„Menschen fragen ständig einander, was sie tun müssen, während die einzig wirklich wichtige Frage ist, was sie sein müssen.“ (Josef Weizenbaum, Computerpionier)

Kaum vorstellbar, dass die Unterscheidung von Tun und Sein heute verstanden wird. Wer nichts tut, den gibt es nicht – das ist das Credo der Gegenwart.

„Das Leben langfristig auf die Zukunft zu verschieben und die Gegenwart nur zu erdulden ist kein überzeugender Lebensentwurf. Schon gar nicht, wenn in dieser Zukunft weiter alles relativ trist aussieht. Müsste die Aufgabenstellung nicht eher lauten, einen erfüllenden Beruf zu finden, der genügend Einkommen für ein angenehmes Leben generiert? Auch wenn dieser Beruf erst mal weniger Geld bringt als jener, den ich als Frugalist nur ertrage, um möglichst bald nicht mehr arbeiten zu müssen.“ (SPIEGEL.de)

Wie ertrüge es ein Mensch, auf Kosten anderer sein Leben zu verbringen, das niemandem etwas nützte und allen nur zur Last fiele?

Seitdem die mönchische Formel „bete und arbeite“ zum göttlichen Gebot erhoben wurde, ist die Epoche der heidnischen Muße vorbei.

Arbeit als göttliches Gebot ist eine Erfindung der Religion. Seinem Weib gelang es, den Mann zu verführen und sich an einem heiligen Baum zu vergreifen: mühselige Arbeit als lebenslange Strafe war die Folge.

Die Europäer erfanden die Maschine, um sich von der Mühe der Arbeit zu befreien. Immer neue Maschinen überschwemmten das christliche Abendland, um das Leben der Männer zu erleichtern: der Gedanke des Fortschritts als allmähliche Erleichterung des arbeitsamen Lebens war geboren.

Doch der versprochene Preis des Fortschritts war ein Trug. Je mehr Maschinen den Alltag dominierten, je mehr Arbeit gab es.

So verschärfte sich der Illusionismus des Fortschritts mit jeder Generation neuer Maschinen: Wir schaffen es nicht mehr, klagen die Männer, wir brauchen neue Maschinen. Kaum sind die erfunden, erhöht sich das Pensum der Fronarbeit, heißt es erneut: wir brauchen neue Maschinen, um uns das Leben zu erleichtern.

Das wurde zur standardisierten Formel der Fortschrittsgenies. Wir erfinden ununterbrochen neue Maschinen – doch was deren Vorteile sind, wissen wir selbst nicht; das herauszukriegen, ist euer Problem, ihr Mühseligen und Beladenen.

Die Technik wurde zum Weib, das den Mann mit immer raffinierteren Methoden zu neuen Arbeitsweisen verführte. Im Original hieß das so:

Gott hat gesagt: esset nicht von den Früchten des Baumes mitten im Garten, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet. Das war die Stimme des ursprünglich immer gleichen Lebens, das sich nie verändern durfte.

Da kam die Stimme des Bösen, die dagegen hielt: „Mitnichten werdet ihr sterben, sondern Gott weiß, sobald ihr davon esset, euch die Augen aufgehen werden und ihr wie Gott sein und wissen werdet, was gut und böse ist.“ Das Böse wurde zum Motivator des Fortschritts oder des zukünftig Guten.

Also machten sie sich an die Produktion des ersten Fortschritts, um gottgleich zu werden – und sie aßen.

Das Ergebnis war niederschmetternd. Ihnen gingen die Augen auf – zuvor müssen sie wohl ziemlich blind gewesen sein – und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren. Und sie hefteten sich Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.

Ihrer Nacktheit und ihrer Lust mussten sie sich schämen – im Gegensatz zu den Griechen, die Nacktheit im Gymnasium vorschrieben, um ihren Leib in Schönheit zu stählen und zum Tempel der Lust zu sensibilisieren.

Diese Lust diente ihnen sogar zum pädagogischen Eros zwischen einem reifen Mann und einem lernbegierigen Jugendlichen. Fleischliche Lust war nicht notwendig, um aus den Beiden ein unverbrüchliches Freundschaftspaar zu schmieden.

Das erotische Fleisch sollte vor allem der Erkenntnislust dienen. Von Gewalt und Vergewaltigung – wie die christliche Gegenwart es heute sieht – konnte keine Rede sein. Sokrates, der philosophische Erotiker, war fleischlich abstinent, geistig über alle Maßen erotisch.

Der pädagogische Eros vollbrachte Wunderwerke in Athen: hier wurde die Demokratie erfunden, die vollendete Architektur und Philosophie und Literatur, ohne die Europa ein religiöser Sumpf geworden wäre.

Was waren die Folgen des Sündenfalls? Jene Feindschaft zwischen Mensch und Natur, die noch heute das Leben der Menschheit vergiftet. Besonders die Frau musste leiden: „Ich will dir viel Beschwerden machen in deiner Schwangerschaft, mit Schmerzen sollst du Kinder gebären. Nach deinem Mann wirst du verlangen, er aber soll dein Herr sein.“

Die Lust des Mannes sollte die Lust der Frau dominieren. Hat sich daran bis heute etwas geändert?

Und zum Mann sprach der Herr: „Und zum Mann sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen –, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. 18 Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. 19 Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“

Wundert man sich noch über die Probleme heutiger Bauern, die gegen die Regierung pöbeln, weil niemand ihre Probleme mit der ramponierten Natur versteht?

Mit Hilfe des technischen Fortschritts wollen sie ihre Arbeit in der Natur vereinfachen und stets fruchtbarer machen. Doch die giftigen BASF-Produkte verderben ihren Boden. Da capo al fine.

Summa: „Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und nehme auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! 23 Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war. 24 Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.“

Es ist jener Gott selbst, an den sie glauben, der das Tor zum Himmelreich (oder zur perfekten Erde) mit seinen Gehilfen versperrt.

In Athen gab es endlose Kämpfe zwischen den Gruppen und Parteien, was gut und böse sei, was der Gesellschaft diene und schade. Im verlassenen Paradies war die Kenntnis des Guten und Bösen der hinterlassene Giftmüll böser Geschöpfe. Doch wie hätte man ein gutes Leben versuchen können, wenn die Kenntnis des Guten eine Sünde sein soll?

Dass die Kenntnis des Guten und Bösen eine Sünde sein soll, hat Nachwirkungen bis heute. Als der moderne Kapitalismus erfunden wurde, wollte er vom Unterschied von gut und böse nichts wissen. Alle ökonomischen Gesetze, die er fand, waren natürlich und daher gut. Den Ökonomen böse Regeln vorzuwerfen, die der Mehrheit schaden und der Minderheit nützen: das ist bis heute Klimbim für sie.

Doch zu dieser Eliminierung der Moral musste es erstmal kommen:

„Nach wenigen Jahrhunderten stellte der neue Kapitalist die grundlegende christliche Ethik in Frage: das grenzenlose Selbstbewusstsein der Ökonomen hatte keinen Platz für Barmherzigkeit oder Liebe im alten Sinn. Das kapitalistische Wertschema verwandelte tatsächlich fünf der sieben Todsünden des Christentums – Stolz, Neid, Geiz. Habsucht und Wollust – in positive soziale Tugenden und sah in ihnen den notwendigen Antrieb aller Wirtschaftstätigkeiten; während die Haupttugenden, von Liebe und Bescheidenheit angefangen, als schlecht fürs Geschäft“ abgelehnt wurden, soweit sie nicht dazu beitrugen, die Arbeiterklasse gefügiger und willfähriger in der Hinnahme kaltblütiger Ausbeutung zu machen.“ (Mumford, Mythos der Maschine)

Unbelastet von Tugenden und Untugenden startete die Ökonomie siegreich in die Eroberung der Welt – im Stil einer amoralisch-objektiven Naturwissenschaft, die nur erkennt, was vorhanden ist – ohne die Last eines sentimental-moralischen Seinsollens.

Die Naturwissenschaften in Europa waren reine Tatsachenfeststeller – ohne moralische Bewertungen. Alles war gut, weil es ist. Mehr brauchte man nicht, um die Welt zu überrumpeln.

Doch mit der Bewertung des Seienden mit Gut und Böse – was ihren christlichen Gewissen entsprach – mischten sich die kühlen Wissenschaftler ins heiße Gedränge der Politik.

Bewusstseinslos verwandelten sie ab jetzt Feststellungssätze mit Bewertungssätzen. Nicht, wie Natur ist, sondern wie sie angeblich für den Menschen am besten sein sollte und ihm nützte, war das Ziel ihrer Forschungen. Nicht wie Atome funktionieren, sondern wie man sie zu einer fürchterlichen Atomwaffe zusammenbauen konnte, war ihre dringendste Frage.

Kein Zufall, dass just ein Atomphysiker einen uralten chinesischen Weisen zitierte, der vor den Gefahren des Maschinengebrauchs für den Menschen gewarnt hatte.

„Als der Weise einem alten Bäuerlein begegnete, das mit seinen Armen Wasser aus dem Graben holte, sagte er: „Er mühte sich aufs äußerste ab und brachte doch wenig zusammen. Da erzählte ihm der Weise von einer neuen Maschine, mit der mit wenig Mühe viel erreicht werden kann. Da stieg dem Alten der Ärger ins Gesicht und er sagte lachend: wenn einer Maschinen benutzt, so betreibt er alle seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt der bekommt ein Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren. Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiss in den Regungen seines Geistes. Ungewissheit in den Regungen seines Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren Sinn nicht verträgt. Nicht, dass ich solche Dinge nicht kenne, ich schäme mich, sie anzuwenden.“ (Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik)

Diese Erkenntnis hielt Heisenberg nicht davon ab, aus Konkurrenzgründen mit dem amerikanischen Atomprojekt auf der Schwäbischen Alb selbst ein Bombenprojekt einzurichten – erfolglos.

Hat Heisenberg nach dem Krieg die Konsequenzen aus seiner Forschungsarbeit gezogen und seine Untersuchungen aufgegeben, um die Gefahren dieser Forschung auszuschließen? Natürlich nicht. Im englischen Gefangenenlager erfuhren die Deutschen eines Tages von der Explosion der ersten Atombombe – und schauten sich vielsagend an. Konsequenzen gab es bis heute nicht. Im Gegenteil, jede Nation, die es sich zutraut, versucht alles Mögliche, um dem gefährlichen Club beizutreten.

Hat sich bis zum heutigen Tag etwas verändert im Rausch des technischen Fortschritts? Benoit Schillings ist Forschungschef im Google-Konzern. Schaut, wie lässig und vergnügt er da steht, um seine Fortschrittsprojekte zu erläutern.

„Ich habe ein Herz für verrückte Ideen. Für Ideen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als falsch herausstellen. Diese Haltung ist bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern viel seltener, als man denkt. Für uns wird eine Idee erst interessant, wenn sie das Leben von Hunderten von Millionen Menschen verbessern kann. Und radikal sollte sie sein, gegen die Intuition laufen. Ein Großteil der Zeit sind wir also damit beschäftigt, unsere eigenen Ideen zu zerstören. Ich möchte einen Computer entwickeln, der so effizient arbeitet wie das menschliche Gehirn. Denn das kommt mit ungefähr 20 Watt aus. Vergleichen Sie das mit dem hohen Leistungsbedarf eines Großrechners – das ist peinlich.“ (SPIEGEL.de)

Es muss immer schwieriger und verrückter aussehen, um Menschheitsbeglücker anzulocken. Das Mittelmaß überlassen die Genies den mittleren Talenten. Sie selbst bevorzugen „falsifizierende Experimente“, um illusionär scheinende Versprechungen zu machen. Je harmloser oder unwahrscheinlicher sie daherkommen, je gewaltiger wird ihr Erfolg, den sie mit Bestimmtheit erreichen werden.

Wissen und Forschen ist Tun, kein müßiges Herumlungern. Der moderne Kapitalismus beherrscht die globale Welt. An ihr kann man erkennen, wie sehr der chinesische Alte Recht hatte, als er sagte: „Wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz“.

Genau so ist es gekommen: nicht nur Schulen und Betriebe wurden zu Maschinen, die ganze Gesellschaft funktioniert wie eine fauchende und dampfende Riesenlok, bei der alles mit allem zusammengehört. Schulen verfallen, Krankenhäuser verkommen, Straßen zerfallen, Wohnungen werden knapp, Regierungen werden immer unfähiger, die Gesamtstimmung regrediert ins Religiöse und Totalitäre … usw.

Das Leben in unserer Gesellschaft wird zum wilden Tremolo. Ruhe und Erfüllung wurden Systemgegner der Gesellschaft.

Der neueste Vernichtungstraum von Silicon Valley bestätigt die Selbstmörderabsichten der KI-Titanen – hier erläutert von Christian Stöcker:

„Der Begründer der neuen Silicon-Valley-Ideologie, die reiche und mächtige Fans hat, findet, die Zukunft kommt auch ohne Menschen aus. Zu den Sternen reist dann die KI.“ (SPIEGEL.de)

Was hingegen wäre ein Leben in Muße?

„Aus Sicht der Fortschrittsideologie ist Müßiggang ein Laster. Die Rettung der Menschheit ist mit ungeheuer viel Arbeit verbunden. Sie ist nie erledigt, denn sobald eine Stufe erreicht ist, richtet sich der Blick auf die nächste. Das Schlimmste am Fortschrittsstreben ist aber nicht, dass es eine Illusion ist, sondern dass es kein Ende kennt.“ (John Gray, Von Menschen und anderen Tieren)

Einwand: ohne erfülltes Ende bleibt alles eine Illusion.

Fortsetzung folgt.