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Natur brüllt! XLV

Tagesmail vom 05.01.2024

Natur brüllt! XLV,

„In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

Denkt Sascha Lobo an Deutschland, könnte man vermuten, dass er fromm ist: er sieht in ein riesiges Meer von Ängsten. Es ist die German Angst, die das Leben der Deutschen täglich vergiftet.

Greifen wir einige Ängste heraus:

„Kalter Krieg. Ölkrise. Waldsterben. Atomangst. Ozonloch. »Überfremdungsangst«. Antiamerikanismus. Feminismusangst. Dioxinangst. Aids. Rinderwahnsinn. Tschernobyl. Computerangst und »gläserner Bürger«. Angst vor künstlicher Intelligenz. Und immer, immer, immer: Abstiegsangst, Wandelangst, Angst vor der Angst. Deutschland, du bangst und krankst an Angst. Angstkrank, das wirkt so oft als selbsterfüllende Prophezeiung.“ (SPIEGEL.de)

Sind die Deutschen ängstlicher als andere Nationen? Liegt etwa die ganze Welt in Ängsten – wie der johanneische Christus verkündet? Zugleich mit der tröstlichen Verheißung: Seid getrost, ich habe die Welt überwunden?

Doch dieser Trost gilt nicht für alle: Christentum – wie Judentum und Islam – sind keine universalen Religionen, sondern wählen und verwerfen:

„Nicht für die Welt bitte ich, sondern für die, welche du mir gegeben hast, denn sie sind dein und alles, was mein ist, das ist dein.“

Das soll ein Trost sein, um die Ängste der Welt zu überwinden?

Sind die Deutschen etwa weniger fromm, weil sie so übermäßig in Ängsten liegen?

Welche Nationen des Westens sind denn am gläubigsten, um ein unbeschwertes Leben zu führen? Die Mächtigen oder die Ohnmächtigen, die vom Schutz der Mächtigen abhängig sind?

Vor kurzem fühlten sich die Deutschen noch am sichersten, weil sie sich des Schutzes ihrer Befreier sicher sein konnten. Doch war diese Sicherheit nicht durch blinde Bewunderung Amerikas erkauft?

Allmählich weicht diese Bewunderung und das Wesen Amerikas wird immer gründlicher beargwöhnt.

Dabbelju Bush konnte die Welt noch dreist belügen oder politische Parolen verkünden, denen er das blanke Gegenteil folgen ließ. Keine Reaktion in Old Germany.

Erst jetzt, wo ein Trump am Horizont erscheint und die ganze Welt auf den Kopf zu stellen droht, China den ganzen Westen zu überwachen und ökonomisch zu beherrschen begehrt, wird’s ungemütlich in der Mitte des alten Europa.

Hatten die Nationalsozialisten Angst vor der Welt, weshalb sie die Völker mit Krieg und Verderben überziehen mussten, um ihre Angst prophylaktisch zu überwinden?

Hundert Jahre vor dem Entsetzen des Dritten Reichs dichtete Heinrich Heine:

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.

Nein, es ist nicht die Angst Heines vor einem möglichen Untergang seines Heimatlandes.

Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land!
Mit seinen Eichen, seinen Linden
Werd ich es immer wiederfinden.

Von einem kerngesunden Land kann heute keine Rede mehr sein. Nicht nur Eichen und Linden sind immer weniger zu finden.

Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.

Mutter und Vaterland scheinen nicht mehr zusammenzupassen. Doch Heine scheint schon an ein künftiges Europa zu denken:

Gottlob! durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.

Als Europa sich nach dem zweiten Weltkrieg zusammenschloss, wurde es zur Hoffnung vieler Länder in der Welt, die den alten Kontinent ob seiner Versöhnungsfähigkeit bewunderten.

Inzwischen hat sich die EU mächtig erweitert, musste dabei aber viele Federn lassen. Dennoch wäre es übertrieben, die Vereinigung der Länder als gescheitert anzusehen. Täglich kämpfen sie schwer um Verständigung, die Völker Europas.

Ist Sascha Lobos Rat zur Investition in Fortschritt eben das, was die Verunsicherten bräuchten, um einem neuen Morgen entgegenzugehen? Zweifel sind angebracht.

Herr Psychiater, ich habe Angstzustände, was kann ich dagegen tun?

Ganz einfach, Sie Angsthase. Investieren sie ihr Hab und Gut – und Sie werden wieder ruhig schlafen können.

Doch was, wenn den Menschen das nötige Kleingeld fehlt, um die Wirtschaft zu beleben? Der ökonomisch Bornierte bleibt seinen Ängsten ausgeliefert. Sind die Reichsten nicht unsere Mutigsten? Kapitalismus ist nicht nur ein materielles, sondern ein psychisches Therapeutikum: Kapitalismus macht angstfrei.

Wer erfand den Fortschritt und welchen Sinn hat er? Fortschritt ist die Eigenschaft einer unendlichen Zeit. Doch die Zeit der meisten Völker war ein kreisförmiger Vorgang, der stets das Gleiche brachte.

Erst die „lineare Begradigung“ der Zeit durch das eschatologische Denken der Erlöserreligionen schuf die Voraussetzung, um in das zirkuläre Einerlei Bewegung zu bringen.

Rasende Bewegung! Das wurde zum Elixier der westlichen Heilsgeschichte. Wie oft hatte der Heiland sein Kommen prophezeit, wie oft sein Versprechen gebrochen. Ergo mussten die Gläubigen selbst die Bewegungen zum Ende anfeuern.

„Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen: man wird der früheren Dinge nicht mehr gedenken.“

Der früheren Dinge nicht mehr gedenken: das wurde zur Leidenschaft der modernen Vergangenheitsbewältigung. Vergangenheit ist zur abstoßenden Zeit geworden, an die niemand erinnert werden will.

Gedenket nicht mehr des Vergangenen. Die Zeit ist endgültig zur Laufbahn des Heiligen geworden, die zum vorbestimmten Ende alles Seienden rast: zum Neuen.

Dies alles wurde zum Fundus des Fortschritts – mit dem die gläubigen Völker sich den Lichtkranz des Sieges über die Ungläubigen erwerben wollten.

Freilich nicht zum Nennwert einer unveränderten Religion. Sondern dadurch, dass man die passiven Urbegriffe des Heiligen in aktive Begriffe eigenen Tuns durch Wissenschaft und Technik verwandelte. Tue, was du glaubst und erheb dich von deinen betenden Knien!

Doch wie übersetzt man Heiliges in Weltliches? Da hatten die christianisierten Völker Glück gehabt: für das Weltliche hatten die Griechen und Römer vorgesorgt. Ihre Philosophie und Wissenschaft sorgten für jene Anregungen, die Himmlisches in Irdisches transformieren konnten.

„Die Fortschrittsidee war erst möglich geworden, als die Idee der Vorsehung eines allmächtigen Schöpfers, der immer und überall in das Natur- und Weltgeschehen eingreifen kann, und die Autorität des hellenischen Geistes, der Lösungen für alle Wissensfragen zu bieten schien, die Geister nicht mehr beherrschte. Die galileische Wendung von der Betrachtung zur Aktivität, von der Theorie zur Empirie, die durch ihre aggressive Einstellung zu der Natur die technische Überwelt möglich machte, bahnte auch jene Verschiebung der irdischen Perspektive ins Kosmische an, die sich uns heute durch ihre Konsequenzen als menschheitliches Verhängnis enthüllt. Der „archimedische“ Standpunkt außerhalb unserer Erde, den Galilei durch seine Einführung kosmischer Maße und universaler Gesetze der Wissenschaft eingewöhnte bis zur Illusion, auch der Erdenmensch sei ein Wesen des Weltraums, hat das gefährliche Missverhältnis der Wissenschaftswelt zur Sozial- und Naturwelt des Menschen herbeigeführt, dessen augenfälligstes Gleichnis die Fernraketen und Kernwaffen auf dieser Erde sind. Diese Erdentfremdung, die mit der Entdeckung des Mondes als „Erde“ begann, läuft daher heute in eine universale Bedrohung des Menschen durch jene kosmischen Kräfte aus, die er auf Erden entband. Auch Kepler war ein Begründer der neuen Wissenschaft, deren Methode er wie Galilei von allen theologischen und philosophischen Bindungen löste, indem er die Sternkunde der Überprüfung durch den mathematisch-exakten Versuch unterwarf.“ (Friedrich Wagner, Die Wissenschaft und die Gefährdete Welt)

In Kürze: der Mensch ist für die Erde geschaffen, aber nicht für das Jenseits. Die Griechen schufen die intellektuellen Werkzeuge, um die gesamte Natur zu entdecken, lehnten es aber entschieden ab, mit ihren Erkenntnissen in den Kosmos einzudringen, um ihn zu beschädigen. Sie begnügten sich damit, endliche Lebewesen einer begrenzten Erde zu sein.

Mathematik war für Platon die reinste aller Wissenschaften. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, mathematische Erkenntnisse zur imperialen Ausbeutung der Erde zu missbrauchen.

Der Fortschritt der Moderne, die den Alten in allen Dingen überlegen sein wollte, wäre für den genialen Schüler des Sokrates ein kosmisches Verbrechen gewesen. Der antike Mensch wusste, dass er ein endliches Wesen war und ein begrenztes, aber würdiges Leben führen konnte. Symbol des Endlichen war der Augenblick, der nunc stans, das Angekommen-sein.

„Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“ Goethe war prädestiniert, das Endliche und Begrenzte des klassischen Menschen auf den Punkt zu bringen. Was bedeutet das Begrenzte?

„In der Natur des Fausts liegt das Streben nach Erkenntnis, die Suche nach Wissen und auch die damit verbundene Unrast und Unzufriedenheit.“ (Zitate)

Warum sind Zufriedenheit, Ruhe und Erfülltsein dem modernen Menschen verboten? Weil er seine Bestimmung als endliches Wesen in den Staub treten müsste. Lieber will er auf der Suche nach dem Unendlichen zugrunde gehen denn als endliches Wesen sich seines Lebens freuen. Fortschritt ist die Religion der immer Unzufriedenen – also das passende Medikament für Angst-Freiheit?

Wer hingegen ein Leben in untätiger Muße vorzieht, muss zufrieden sein mit sich selbst: er wird ein Selbst-zufriedener. Neu-Gierde auf die fremde Welt ist für ihn verboten. Das Neue und das Fremde sind die einzig zugelassenen Objekte des modernen Lernens und Erkennens.

Die Hetze nach dem Endlosen soll den Menschen von seiner ewigen Unzufriedenheit ablenken. Das Sein zur Angst ist das Sein zur Unvollkommenheit, die sich zur Gottähnlichkeit hochschwindelt.

Ebenso ist mathematische Fähigkeit keineswegs die Voraussetzung, um die unbegrenzte Naturzerstörung des Menschen zu erkennen – wie der Vordenker der Pisa-Tests pathetisch verkündet:

„Warum sollten 15-Jährige das wissen, wenn die allermeisten Menschen nach der Schule eh nie wieder mit solchen Aufgaben konfrontiert werden?

Rechnen müssen das im späteren Leben wahrscheinlich wirklich wenige. Aber es geht ja auch darum, das Konzept Exponentialfunktion zu begreifen. Wer das nicht versteht, wird auch den Klimawandel nicht verstehen oder die Entwicklung einer Pandemie.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Moderne Wissenschaft will stets ins Endlose. Stillstand wäre Untergang für sie. Das Simple und Einfache des menschlichen Lebens muss sie nicht verstehen. Schon gar nicht das Politische, das dem Menschen ein zufriedenes Leben verschaffen könnte.

ZEIT: Wenn die Stringtheorie die Theorie von allem ist, kann sie dann den Nahostkonflikt lösen?
Witten: Leider nicht. Menschen sind komplizierter als Physik. Ich versuche lieber, die Quantentheorie zu verstehen als die Menschen.“ (ZEIT.de)

Der Superkluge ist unfähig, sich um die wichtigsten Probleme seiner Mitmenschen zu kümmern. Lieber verschwindet er in der Dunkelheit seines Genies, als sich mit den Sorgen des Tages zu beschäftigen.

Fortschritt war für Francis Bacon der kühne und unbegrenzte Versuch, nicht nur die Griechen zu übertreffen, sondern auch die Sündentheorie der Christen. Der Mensch ist in der Lage, das Böse als Strafe für den Sündenfall zu überwinden und das vollkommene Paradies zurückzuerobern.

Wer das bezweifelt, ist „aus kränklichem Sinn für Besonnenheit oder für falsch verstandenes Maßhalten. Verwegen könnte er auf unendlichen Fortschritt drängen oder diese immer weiter treiben.“

Wer hingegen durch endloses Forschen das Paradies zurückerobert, überwindet Gottes Allmacht und erhebt den Menschen über den Schöpfer hinaus.

Fortschritt sollte den Menschen befähigen, sich über die von Gott gesetzten Grenzen hinwegzusetzen. Stattdessen ist er dabei, sich allen irdischen Glücks zu entledigen und sich und die Natur kollektiv ins Unglück zu stürzen.

Allerhöchste Zeit für die erdrettende Einsicht:

Wer das Endliche verschmäht, um sich sinnlos dem Unendlichen zu widmen, wird auf dem Schrotthaufen des Kosmos – enden.

Fortsetzung folgt.