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Natur brüllt! XLIX

Tagesmail vom 19.01.2024

Natur brüllt! XLIX,

Weltbürgerkrieg. Rund um den Planeten knirscht und kriselt es. Von Dauerdemonstrationen, die alles lahmlegen – bis zum Einsatz rücksichtsloser Gewalt.

Was wird zerbrechen, was uns eine vielleicht bessere Zukunft bringen?

Werden wir Architekten einer neuen Zeit, die einen friedlichen Äon in einer unbedrohten Natur aufbauen? Oder werden wir die verkohlten und atomverstrahlten Ruinen der alten wegräumen, um dasselbe wüste Leben endlos zu wiederholen?

So ist in jedem Anbeginn
das Ende nicht mehr weit,
Wir kommen her und gehen hin
Und mit uns geht die Zeit.

Welche Zeit? Die ewige Wiederholung der heidnischen Zeit – oder die Heils- und Unheilszeit, an die wir seit Jahrtausenden glauben müssen. Was aber, wenn wir nicht mehr glauben könnten und das Risiko einer ungläubigen Menschheit auf uns nähmen?

Gab es denn je eine Epoche, die ohne Glauben an höhere Gewalten auskam?

Die althebräische Religion war nicht die erste, die rabiat mit der alten Zeit abschloss und eine neue erfand. Diese neue Zeit füllte sie mit einem riesigen Erlösungsroman, der sich wortwörtlich ereignen muss, wie er prophezeit wurde.

Nicht ins Endlose, wie uns die Zukunftserfinder der Gegenwart vorgaukeln, sondern von Anfang bis Ende. Das Ende der Zeit wird ein unerbittliches Gericht für uns sein. Der neue Glaube, der uns inspiriert – oder lähmt? – kennt nur ein Credo:

Wir glauben an den Anfang der Zeit und einen belanglosen Schöpfer,
An eine unbegrenzte Zukunft, die niemand kennt,
Außer den Titanen der KI.

KI ist die zweite Welt, die sich über der alten erheben, diese verkommen lässt und dennoch mit Zuversicht ins Unbegrenzte vorausschauen will.

Auch das ist ein Glaube. Keiner an jenseitige Mächte, aber an selbsterfüllende menschliche Fähigkeiten, die zwar ihrem Genie nur vertrauen, weil sie berauscht sind von ihren bisherigen Erfolgen, – doch wohin die Reise gehen wird: das weiß nur der Wind.

Und dennoch und dennoch schauen sie zuversichtlich ins Endlose. Und das ist die Fortsetzung ihres Credos:

Und wir glauben an unsere phänomenalen Fähigkeiten,
die wundersame Dinge creieren, die unsere bisherigen Potenzen weit übersteigen werden.
Das Vertrauen, das wir in unsere zweite Welt haben,
wird uns die Kraft verleihen, diese zweite in eine allmächtige zu verwandeln.
Der allmächtige Schöpfer, an den wir bislang glaubten, war nur eine Hypothese.

Die Moderne verwandelt die Hypothese in unsere heutige Wirklichkeit, die wir kaum noch verstehen.

Was früher Vater und Sohn genannt wurde, ist heute Mensch und Maschine. Und Gott erniedrigte sich und ward Mensch: und der Mensch erniedrigte sich und ward Maschine – die ihn übertreffen soll.

Und wo bleibt der Heilige Geist?

Seine Gläubigen hat er längst herausgefunden und wird sie demnächst auf die Reise ins Universum schicken.

Dann wird die Menschheit erleben, wer wirklich geglaubt hat –
und wer ungläubig auf der verglühenden Erde als Asche zurückbleiben wird.

Gab es je eine Entzauberung des gläubigen Westens, wie Max Weber behauptete?

Nein, der Zauber der alten Religion wurde längst ersetzt durch den Zauber an neue Maschinen, die nicht auf Hoffnung setzen, sondern auf Verwandlung der Hoffnung in eine alles vernichtende Zukunftskultur.

Geist und Materie fanden sich. Polaritäten und Dualismen vereinigten sich zur potentia infinita der Superintelligenzen – die in Silicon Valley und ähnlichen Brutstätten gezeugt und entbunden werden.

Wo aber begann das Spektakel, das in Deutschland niemand kennt und in Amerika nur die fundamentalistischen Bibelleser?

Es begann in jenen Zeiten, als ungläubige Heiden auf der einen Seite und gläubige Gottesdiener auf der anderen einen unerbittlichen Wettkampf begannen. Den Wettkampf, wie man die beginnende Verwahrlosung der Welt durch chaotischen Reichtum – der die Welt in Erfolgreiche und Versager spaltete – stoppen und in echte Gemeinschaften verwandeln könnte.

Was die Moderne nicht glauben kann und selbst Marx für Irrsinn hielt: der Kapitalismus begann in Hellas. Dort lebten geistesgegenwärtige und welterkennende Menschen, die sich Schiffe bauten, in die Ferne fuhren, um den Reichtum vieler Völker durch Tausch mit eigenen Produkten in die Heimat zu holen.

Der Urtausch veränderte die stille Zeit derer, die mit dem Ewiggleichen zufrieden waren. Nun begann es, sich an allen Ecken und Enden zu bewegen und zu verändern. Der Adel wurde zur Klasse der Reichen, die Bauern zur Klasse der Schuldigen und Abhängigen.

Luxus kam auf und beherrschte diejenigen, die nichts hatten. Selbst die bevorzugten und in sich ruhenden Sippen und Gesellschaften wurden vom Blitz der Veränderung getroffen.

Eigentlich waren die Hellenen längst unterwegs zur Errichtung der Demokratie: da prallten zwei Urbewegungen aufeinander.

„Auf innerpolitischem Gebiet vollzieht sich der Sturz der Adelsherrschaft und die Bildung der Polis, was nicht ohne schwere Kämpfe abgeht. Mit den politischen hängen die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen zusammen. Der Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft führt vielfach zu Verschuldung, ja Versklavung des Kleinbauerntums und damit zur Erhebung gegen den Großgrundbesitz. Neben die Agrarwirtschaft tritt der Seehandel, der das Bürgertum zum Wohlstand führt. Nicht mehr die Abstammung, sondern der Reichtum an mobilem Besitz wird ausschlaggebend für Geltung und Ansehen: „Das Geld, das Geld macht den Mann“, heißt die neue Losung.“ (Nestle)

Das war bereits das Ei im Nest, in welchem die Gesellschaft der Gegenwart heranwuchs.

Eine außerordentliche Erregung bemächtigte sich der Griechen und ihrer mittelmeerischen Nachbarn. Bislang gab es nur in Sport und Faustkampf den Agon, den Antrieb zum Sieg über die Konkurrenten.

Nun ergriff der Agon das gesamte Leben und verwandelte das sich immer gleichbleibende Leben der Ahnen in einen Wettlauf in allen Dingen des Lebens.

Muße, die Ruhe der Denker oder Faulenzer, wurde verachtet. Fleiß, Unruhe und Siegeswillen bemächtigte sich der Menschen: hier wurde die hektische Moderne entbunden, die uns heute noch in den Klauen hat.

Solon hieß der herausragende Denker und Poet, dem es gelang, den rücksichtslosen Klassenkampf der Reichen und Armen in die Fähigkeit des streitenden Zusammenlebens zu mildern.

„Solon war es beschieden, durch seine eine mittlere Linie einhaltende Verfassung sein Volk aus schwerem sozialem Streit zum Frieden zu führen, was nicht ohne ein Heraustreten aus den Vorurteilen und einem Verzicht auf die Privilegien seines adligen Standes möglich war.“ (ebenda)

In jenen Tagen änderte sich die Moral des Volkes, die bis heute die Moral des Kapitalismus verkörpert.

Gewinnsucht wurde zur Auszeichnung eines neuen kapitalistischen Adels, Erfolglosigkeit zum Signum der ökonomischen Versager. Von Gedanken an ein Jenseits war keine Rede, Tod und Grab bedeuteten das Ende des Lebens überhaupt.

Die soziale Explosion in der athenischen Polis blieb den mittelmeerischen Völkern nicht verborgen. Auch bei den Hebräern jenseits des Meeres kamen die Wellen der Erregung an. Zwar waren die Frömmsten der Frommen die Bewohner eines weltabgelegenen bergischen Bezirks, doch ihre Elite nahm Teil an den ökonomischen und kulturellen Veränderungen der großen Kaufmannsrouten entlang des Mittelmeers.

Als die Frommen den Kulturwandel der Heiden bemerkten, mussten auch sie eine angemessene Antwort auf die Ereignisse finden. Sie erfanden den Sündenfall, ein Vergehen der Frau am göttlichen Phallus des Lebens, das mit unaufhebbarer Schuld endete. Nur Gott selbst konnte den Sündern in unerklärlicher Gnade verzeihen. Ohne Gottes Hilfe waren die Menschen verloren.

Auch bei den Heiden war die Frau minderwertig, dennoch war nicht sie die Hauptschuldige des Kulturverfalls. Gegen die „Sünde“ des aufkommenden Kapitalismus kämpften vor allem die Benachteiligten, die Schwachen und Verarmten. Sie kämpften zusammen mit den Freiheits- und Gleichheitsmoralisten, mit rhetorischen und philosophischen Argumenten und mit demokratischen Abstimmungsmethoden.

In Athen begann ein sozialer Kampf um Freiheit und Gleichheit – später kam Gerechtigkeit dazu –, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Die nicht-europäischen Völker, zumeist frühere Opfer des christlichen Imperialismus, trauen dem wirtschaftlichen und technisch überlegenen Westen bis heute nicht zu, dass er meint, was er sagt und sie auf gleicher Augenhöhe respektiert. Heuchelei ist noch der geringste Vorwurf an die blasierten westlichen Völker.

Die Frommen wollten die Sünde des Kapitalismus nicht mit autonomer Vernunft überwinden, sondern im blinden Vertrauen in die Gnade des Herrn.

Das sind die beiden Urstränge des religiösen Westens, die sich bis heute nicht zu einem einzigen Urstrang vereinigen konnten. Die meisten Konflikte der Gegenwart sind wirtschaftlicher Natur. Gäbe es kein Profitdenken, wäre die Natur bis heute fast unverändert.

Das erkennt man vor allem an den Aussagen zur allgemeinen Weltlage und an den Kriegen, die wieder geführt werden.

Netanjahu soll z.B. kein religiöser Hardliner, sondern ein militanter Pessimist sein:

„Benjamin Netanjahu war nie ein konventioneller Ideologe. Seine Absage an eine Zwei-Staaten-Lösung hatte weder etwas mit messianischer Überzeugung noch biblischer Inspiration zu tun. Eher war sie Ausdruck einer pessimistischen Weltsicht.“ (der-Freitag.de)

Von wem aber stammt der Satz: Wir sind Söhne des Lichts …? Die Feinde also müssten dann die Söhne der Hölle sein? Und welche Kriegsstrategie folgt aus solchen Bekenntnissen? Wenn diese keine Religion sein sollen, kann es keine mehr geben.

Was Politiker heute verlautbaren, wird von niemandem mehr ernst genommen. Dass Taten den Gesinnungen folgen, die verborgen bleiben oder ausgesprochen werden können, interessiert heute niemanden. Natürlich können Worte etwas vorheucheln, ungeheuchelt aber bleiben sie die Wiege der Taten.

Bin ich kein Bekenner des Friedens in Gedanken, kann ich ernsthaft keinen anstreben.

Die Heilszeit der Erlöserreligionen folgt stets dem Modus: Unschuldige Schöpfung durch Gott, Sündenfall der Menschen und Erlösung je nach Gehorsam und Glauben. Dann das Ende der Zeiten als Belohnung der Erwählten und Bestrafung der Sünder auf ewige Zeiten.

Generell gilt: „In der Erlösungssehnsucht und dem Heilandsglauben spiegelt sich ja zugleich eine Stimmung wider, die an der Welt, wie sie nun einmal ist, verzweifelt; eine Hoffnungslosigkeit, die jeden Gedanken an durchgreifende Veränderungen auf dem Boden des Bestehenden aussichtslos erscheinen ließ.“ Es musste also um eine grundlegende Veränderung der bösen Realität gehen, nicht nur um Pipifax.

„Daher ist die Katastrophe des Staates, die der Prophet verkündet, für ihn in erster Linie eine Katastrophe der Besitzenden. Er weidet sich förmlich an dem Gedanken, wie die »Vornehmen Israels hungern und seine Prasser vor Durst verschmachten werden, wie die großen und feinen Häuser öde stehen und die Stadt von den Füßen der Armen und den Tritten der Geringen zertreten wird. Es wird eine radikale Ausgleichung aller Unterschiede.«“

„Das Fette und Starke will ich vertilgen. Ich will richten zwischen den Widdern und Böcken.“

Man sieht, das Alte Testament ist noch voller realistischer Veränderung der diesseitigen Welt, während das Neue Testament sich zufrieden gibt mit folgenlosen Bekenntnissen und dem bloßen Tandaradei der Nächstenliebe.

Sahra Wagenknecht beginnt ihre politische Arbeit – wie einst die grünen Schöpfungsbewahrer – mit religiösen Dämpfen in der Kirche. Dann wird es kaum noch auffallen, wenn ihre wirkliche Politik sich in Dämpfen verlieren wird.

Religion und echte Veränderung der kaputten Welt: das passt nicht zusammen.

Grundsatz jeder Veränderung muss die Reihenfolge aus richtigem Denken und richtiger Tat sein – alles auf der Grundlage der Autonomie. Hier scheiden sich rationale Veränderer und überweltliche Beter.

Müssen wir neue Begriffe einführen, um Neues einzuführen?

Der SPIEGEL wirft den Rechten vor: „Tatsächlich geht es ihm und seinen Verbündeten im Augenblick vor allem um eins: den Kampf um Begriffe.“ (SPIEGEL.de)

Den Kampf der Begriffe? In einer lebendigen Demokratie muss ständig gekämpft und gestritten werden. Neue Begriffe müssen eingeführt werden, wenn die alten verschlissen oder falsch geworden sind. Richtige Begriffe werden falsch, wenn sie in falsche Zusammenhänge gepresst werden – dann benötigen wir frische und unverbrauchte. Alte und verschlissene müssen klinisch gereinigt oder durch neue vollständig ersetzt werden. Notwendig bleiben sie, wenn sie das Humane unerschütterlich verteidigen. Neue Begriffe wären dann Vergiftungen des Ganzen.

Die moderne Demokratie ist zum Abfallplatz aller wesentlichen Begriffe geworden – die ständig überprüft und geordnet werden müssten. Sind sie noch intakt, nichts wie raus in den Kampf, sind sie verbogen und verkrümmt: entweder sie reparieren oder sie auf Nimmerwiedersehen im Meer der Begriffe verschwinden lassen.

Als sophistische Volksverführer attackierte Sokrates seine Gegner, die weder aufklären noch zu kritischem Denken führen wollten. Richtig oder falsch, wahr oder unwahr: darüber konnten Sophisten nur lachen. Es scheint, als ob die rhetorischen Begriffsakrobaten heute den Sieg über ernsthafte Demokratiebewahrer errungen hätten. Philosophen hingegen, die um die Wahrheit kämpfen, stehen heute auf verlorenem Posten.

Fazit: a) Noch immer wird der Kampf um eine humane Demokratie mit irdisch-rationalen Begriffen durchgeführt. Das Ziel bleibt: die ganze Menschheit muss selbstbestimmt in Frieden leben können.

b) Den Frommen geht’s nicht um ein sinnvolles Leben auf Erden, sondern um ein imaginäres Phantom kurz vor dem Ende der Welt. Sie wollen zu ewigem Frieden auserwählt werden und ihre Feinde im Höllenpfuhl verschwinden sehen.

Echte soziale Arbeit ist kein Almosengeben an Bedürftige, sondern eine echte Veränderung der irdischen Verhältnisse.

Wie das Evangelium heute bei den reichsten Kapitalisten der Welt – den Amerikanern – angekommen ist, zeigt eine Stelle bei Andrew Carnegie:

„Es wäre besser für die Menschheit, dass die Millionen der Reichen ins Wasser geworfen würden als dass sie ausgegeben werden, die Faulen, die Trunksüchtigen, die Unwürdigen zu unterstützen.“ (Das Evangelium des Reichtums)

Gottlob, auch die Neoliberalen haben ihr Evangelium. Den Himmlischen ist es gelungen, die Irdischen und ihre Natur gnadenlos in den Staub zu treten.

Fortsetzung folgt.