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Natur brüllt! L

Tagesmail vom 22.01.2024

Natur brüllt! L,

Wir sind hier, wir sind laut – und dann?

Werden wir kleinlaut, weil nichts geschieht?

Müsste nicht zuerst die saure Veränderungsarbeit beginnen – oder?

Deutsche ändern sich nicht gern, stimmt’s: ihr Schreiber des IST? Wenn in wenigen Wochen noch immer alles stagniert, werdet ihr es – hintergründig händereibend – nicht schon immer gewusst haben?

Wie können Virtuosen des IST den Willen zum SOLLEN beurteilen?

Was müsste denn kommen? Die Veränderung einer schlechten in eine gute Volksherrschaft – müsste das nicht das Ziel jeder Reformarbeit sein?

Das Ziel? Nicht dein Ernst, oh Demonstrant! Wie oft sollen wir Hayek & Popper noch zitieren? Wer das perfekte Ziel auf Erden will, will der nicht unbewusst den Himmel auf Erden holen – und erwischt dabei, ob er will oder nicht, die Hölle? Also, geh mir aus dem Weg mit vollkommenen Zielen.

Eine perfekte Demokratie – wäre das keine Gesellschaft, in der jeder zufrieden und glücklich wäre?

„Denn die Philosophie sagt immer dasselbe, nämlich die Wahrheit, dass es nur ein wirkliches Unglück gibt, schlecht oder ungerecht zu handeln und nur ein wirkliches Glück, gut und gerecht zu handeln. Diese Überzeugung ist nicht nur eine Erkenntnis, sondern auch eine Kraft: der gute Mensch ist besser als der böse, dieser kann jenem keinen wirklichen Schaden zufügen.“ (Nestle)

„Das war für Sokrates unbedingte Wahrheit, die auch ohne jede Rücksicht darauf Gültigkeit besitzt, ob es ein jenseitiges Leben gibt oder nicht. Diese Ethik ruht auf den beiden Pfeilern der Autonomie und Autarkie. Das sind keine göttlichen Gebote, die befolgt werden müssen, das ist eine Lebenshaltung direkt aus der Erfahrung. Diese sichtbare Übereinstimmung von Denken und Handeln, diese Rechtschaffenheit ohne alles Pathos, diese ruhige Sicherheit in allen Lebenslagen, nicht zuletzt die heitere Gelassenheit im Tod: das war es, was bei diesem einzigartigen Mann einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ.“ (ebenda)

Diese Wahrheit, dass „dem guten Menschen weder im Leben noch im Tod irgendein Übel zustoßen kann“, war die tiefste Überzeugung eines wahren Menschenfreundes.

Im Neuen Testament gibt es das Wort Glück nicht. Hier spricht man von Seligkeit: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen.“

Fazit aller Seligpreisungen:

„Seid fröhlich und jubelt; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden.“

Alle Belohnungen für gutes Handeln werden nicht auf Erden, sondern im Himmel „ausgezahlt“.

Das Christentum ist keine Lehre fürs Diesseits, sondern fürs Jenseits. Seligkeit ist das Glück des Himmels. Selbst Hayek glaubt an die Hölle, die keinen Menschen verschonen wird, wenn er sich nicht an die Regeln seines eisenharten Kapitalismus hält.

Glück muss das Ziel jedes Menschen sein, der eine humane Demokratie auf Erden will. Das ist das Einfache, das so schwer ist. Denn wie kann eine Gesellschaft dieses Einfache erreichen, wenn die meisten es für zufällig oder unerreichbar halten?

Glück, Zufriedenheit sollen einfache Ziele des Lebens sein? Würden zufriedene Menschen nicht an Langweile und Trostlosigkeit ersticken – wenn es nichts mehr zu tun gäbe, um das unerreichbare Glück in endloser Arbeit erreichbar zu machen?

Nein, darauf hat sich die Moderne geeinigt: es kann kein erreichbares Ziel auf Erden geben, das die Menschen befrieden könnte. Das Einfache muss komplex, das Glück der Erde im Jenseits, Zufriedenheit muss so lange unzufrieden bleiben, bis die lockenden Ziellinien auf Erden nach Oben abweichen und das Unendliche im Himmel anvisieren.

Den 2000 Jahre währenden Wettbewerb zwischen Jerusalem und Athen hat bis zum heutigen Tag die goldene Stadt auf dem Berge gewonnen.

Endlichkeit mit erreichbaren Zielen ist die Philosophie der Irdischen.

Unendlichkeit mit ziellosen Zielen auf Erden ist der Glaube der Irdischen an das Unbegrenzte ihres Wollens. Nur das Erreichbare wird fade und abstoßend.

Die Technik der Moderne kennt nur eine Zufriedenheit: die Unzufriedenheit des Unendlichen. Jedes Ziel, das sie erreichen, wird die Genies abstoßen und zum nächsten – vorläufigen – Ziel weitertreiben. Ein wahres Genie ruht nie. Es liegt ununterbrochen auf der Lauer, um durch Kreationen sein Leben vorwärts zu treiben.

Paradox könnte man sagen: Genies der Endlosigkeit sind nur zufrieden, wenn sie auf der ewigen Reise ins Grenzenlose unzufrieden blieben.

Was folgt daraus für Reformatoren der Demokratie? Haben sie konkrete Ziele, die sie ansteuern könnten, um alle Unzufriedenen ihrer Polis zufrieden zu stellen?

Das erreichbare Ziel auf Erden könnte man auch nennen: das Schöne, Wahre und Gute. Eine Demokratie, die nicht mehr zu übertreffen wäre, bestünde aus dieser Trias. Kann es eine Demokratie geben, die nicht mehr zu überbieten wäre, weil sie aus dem Schönen, Wahren und Guten bestünde?

„Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt.“
(Bayerische Verfassung, Artikel 131, Absatz 2)

Wäre eine ideale Demokratie nicht eine bayerische? Das würde uns gfreien, denn Bayern sind handfeste und freundliche Menschen – wenn sie nicht gerade der AfD angehören oder Aiwanger heißen.

Doch ernsthaft. Heute kann es nichts Schlimmeres geben als das Gute, Wahre und Schöne. Denn diese perfekte Dreieinigkeit wäre unser Untergang. Die Ablehnung dieser Vollkommenheit begann in der Kunst.

„Jedes Werk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand – durch Katastrophen, die aus dem chaotischen Gebrüll der Instrumente zum Schluss eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik heißt.“ (Kandinsky in „Grundlagen der modernen Kunst“, Werner Hofmann)

Werkschöpfung ist Weltschöpfung – ist primäre Weltvernichtung. Das gilt erst recht für die Politik:

„»Putin«, sagte er, »versteht sehr gut, dass wir unweigerlich verlieren werden, wenn sich die Dinge so entwickeln, wie sie sind. In diesem Wettbewerb sind wir dem Westen für immer unterlegen. Wirtschaftlich und technologisch werden wir ihn nie einholen. Es hat also keinen Sinn, überhaupt zu konkurrieren. Die einzige Chance für uns besteht darin, das Schachbrett auf den Kopf zu stellen, alle Regeln zu brechen. Lasst es Chaos sein. Das Chaos ist unsere einzige Chance.«“ (SPIEGEL.de)

Dieses Erlösungsdenken durch vorgängige Katastrophe ist nicht nur russisch, sondern auch typisch nationalsozialistisch:

„Aus den Trümmern des Liberalismus erhebt sich die steile Pyramide der nationalen Diktatur.“ (Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik)

Rettung durch Zerstörung beruht auf messianischem Erbe. Auch die biblizistischen Trumpianer haben keine Angst vor einem Führer, der alles riskiert, auch den Untergang Europas, wenn er nur an den Erlöser am Ende der Zeiten glaubt.

Das Schöne, Wahre und Gute – oder das Perfekte in der Welt – war das Ziel der perfektionsliebenden Athener. Auf diesem Grund wuchs die unerhörte Schönheit ihrer weltweit bekannten Kunstwerke, die Güte ihrer Philosophien, die Wahrheit ihrer Theorien. Diese Perfektion des Menschlichen war auf Erden erreichbar. Bei den Frommen musste zuerst das Menschliche – und sei es noch so vollendet – zugrunde gehen, damit der Himmel sich seiner erbarmt.

Bei Xenophon bedeutete die Kalokagathie (die Vollendung von Schönheit und Güte): „Wenn das Schöne das Offensichtlichwerden der Vollendung des menschlichen Werkes ist, wenn wiederum das Erreichen des Ziels, der Vollendung des Menschen, sich mit dem Guten deckt, dann müssen Schönheit und Güte übereinkommen.“ (Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike)

Die Kultur eines perfekten Gottes, in Konkurrenz mit der Kultur des perfekten Menschen, kann nie mit dem Sieg des Menschen enden. Solange die Menschen an einen Erlöser glauben, ohne den sie in die Hölle fahren würden, dürfen sie niemals an die perfekte Güte der Erde oder der Natur glauben.

Weshalb sie seit erdenklichen Zeiten nichts anderes tun, als die Vollendung der humanen Welt zu verhindern, um die Notwendigkeit der Erlösung zu demonstrieren.

Wir demonstrieren, um eine bessere, ja vollendete Demokratie zu erbauen? Das geht nicht, ohne uns vom Erlösergott zu trennen, der uns daran hindert, das Vollkommene zu erproben.

Wir brauchen unbedingt das Wahre und Gute, um die schöne Natur zu retten.

Wie weit sind die Deutschen von dieser Erkenntnis entfernt?

Wenn wir uns die Perfektion eines idealen demokratischen Ziels verbieten, verbieten wir uns zugleich die lernende Humanität des Menschen.

Welche Schlüsse zieht die Presse aus dem gestrigen Tag?

Susanne Beyer will entwarnen und rühmt die triste Dauerpräsenz des IST, die von der jetzigen Regierung mühsam gemanagt wird. So schlimm kann keine Regierung sein – wenn sie unsere Lebensgrundlagen verteidigt.

„Das Staatswesen bleibt abstrakt, die Regierung besteht aus identifizierbaren Personen. Die Öffentlichkeit fokussiert sich auf diese handelnden Personen, weil Politik durch sie greifbarer wird. Und diese Personen werden schuldig gesprochen für alles, was schiefläuft. Eine Zugverspätung zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Erfurt Hauptbahnhof? Die Ampel ist schuld. Hier wären wir auch wieder beim Journalismus. Wir Journalisten machen abstrakte Vorgänge gern anhand handelnder Figuren anschaulich.“ (SPIEGEL.de)

Das genaue Gegenteil bei TAGESSPIEGEL – Casdorff. Er kennt das schlimme IST, was daraus werden soll, das fällt ihm nicht ein:

„Und der Kanzler reißt sie nicht raus, nicht die SPD, nicht die Ampel. Sein Malus in Beliebtheit und Zutrauen in seine Führungskompetenz sind beispiellos, die Ablehnung der Ampel ist es nicht minder. Diese Ampel bekommt ihr großes Glück einfach nicht zu fassen. Weil SPD, Grüne und FDP sich und einander nicht in den Griff bekommen. So werden sie ihrer Verantwortung, Schaden vom Land abzuwenden, nicht gerecht.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Das Schöne stellt sich erst ein, wenn wir zuvor das Gute und Wahre nicht zertrümmern. Auch die Griechen hatten eine funktionierende Dreieinigkeit.

Die Natur kann mathematisch so präzis sein, wie sie will,
dem Menschen so wohlgesonnen sein, wie sie kann,
wenn sie nicht vollkommen ist, wie sie könnte
wird sie niemals ein schönes Gesamtkunstwerk aus Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit bilden.

„Er hatte weder Gestalt noch Schöne. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. 3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. 4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.“

Wie immer, ist Gott, der Schöpfer, eine paradoxe Figur: wen er liebt, den züchtigt er, wen er als Erlösersohn benutzt, den macht er hässlich – auf dass der verführerische Schein des Irdischen niemanden auf Abwege führt.

Und doch müssen wir weiterhin rufen: Wir sind hier und wir sind laut. Eine menschliche Demokratie ist unser Werk, das uns kein Gott abnehmen kann.

Fortsetzung folgt.