Kategorien
Tagesmail

Natur brüllt! XIII

Tagesmail vom 08.09.2023

Natur brüllt! XIII,

„Und durch den Klimawandel fühlen wir uns offenbar immer noch nicht akut und direkt bedroht. Dabei fühle ich mich persönlich sehr akut und sehr direkt bedroht. Die Auswirkungen sind schon heute erschreckend, aber wenn es bei den bisherigen Plänen bleibt, landen wir bei etwa 2,4 Grad, also der doppelten Erwärmung im Vergleich zu heute. Das ist eine Welt, in der möchte ich nicht leben, und an die können wir uns auch nicht anpassen. Wenn wir rational handeln würden, müssten wir jetzt herumlaufen wie aufgeschreckte Hühner und überlegen, was machen wir jetzt? Aber das tun wir nicht, und das ist es, was ich auch bei den Klimakonferenzen nicht mehr aushalte.“ (Sueddeutsche.de)

Hat der Brandartikel irgendetwas aufgerührt?
Ist Bewegung in die Bevölkerung gekommen?
Sind wir aufgewacht?
Nichts von alledem.

Ungerührt setzt alles seinen Hallodristil fort – der hierzulande visionärer Fortschritt genannt wird.

Wird technologischer Fortschritt auf seine Naturverträglichkeit überprüft?

Natürlich nicht, kein Mensch denkt daran, der Vernunft der Menschheit ein Gremium anzubieten, das dem Motto folgt:

Alles prüfet, das Beste behaltet, das Schädliche schaltet aus.

Stattdessen denken die technischen Genies: schon immer gab es miserable Folgen unserer Creationen. Ergo müssen wir noch findiger werden, um die Schäden unserer Erfindungskraft mit noch genialeren Methoden auszuschalten.

Nur Gutes gibt es in den Händen der Menschheit nicht. Wir erfinden Schreckliches, um die Folgen des Bösen mit noch genialeren Methoden zu beseitigen. Auf dieses schlechter- und bessermachen können wir nicht verzichten. Es ist der Motor der menschlichen Entwicklung.

Das menschliche Schicksal ist kein Herausreißen des Bösen und Gedeihenlassen des Guten. Wir sind und bleiben Mischwesen – und brauchen keine harmlose Spielwiese, auf der wir herumtoben können.

Den Teufel merkt das Völkchen nicht – selbst wenn er sie am Kragen hätt. Am meisten trifft das auf die Deutschen zu, die ohne bösen Zeitvertreib keine Lust auf das Sein auf Erden haben. Sie fiebern geradezu nach dem Bösen, damit sie vorher und nachher tiefsinnige Bücher schreiben können. Denn sie wollen etwas zu erklären haben. Sie wollen die Rätsel der Geschichte lösen.

Gäbe es Rätsel, wenn alles durchsichtig und vorhersehbar wäre?

Die Wahl der besten Wirtschaftsordnung ist ebenfalls ein Griff in die Spielzeugkiste. Das wird natürlich von keinem strengen Rechner zugegeben. Welcher Ökonom wäre heute in der Lage, dem folgenden Satz zuzustimmen:

„Der Markt wird im Neoliberalismus als ein einzigartiger Freiheitsraum gedacht, in dem Wissens- und Entdeckungsprozesse stattfinden. Er ist laut Hayek ein von spontaner Ordnung geleitetes Entdeckungsverfahren, ein Geschicklichkeits- und Glücksspiel.“ (Nordmann, Der lange Marsch zum Neoliberalismus)

Die Formulierung „spontane Ordnung“ von Hayek ist in Wirklichkeit eine spontane Unordnung, mit der der Wiener den Eindruck eines Ordnungsliebenden erwecken und den Eindruck eines liederlichen Zufallsliebenden vermeiden kann.

Ökonomen treten seriös auf, sie spielen stets die Entsetzten, wenn die globale Wirtschaftsordnung mit Krachen entgleist – obwohl sie doch so sorgfältig alles gerechnet haben.

Folgendes Teilergebnis ist immer sicher: dass die Doofen und Kleinen das Nachsehen haben. Doch spannend wird’s erst in den höheren Rängen. Welche Spitzenmänner müssen absteigen, welche Mittelmäßigen schießen nach oben?

Woraus wir entnehmen, das ökonomische Glücksspiel ist nur aufschlussreich für die EIN-Prozent direkt unter dem Himmel. Die Völker sind nur Randbedingungen zum Schachern der Geldmassen, um den Oberspielern die notwendigen Spannungen zu liefern.

Glücksspiele haben einen Sinn. Sie sorgen für das – Heilige.

„Die Begriffe Glück und Los liegen für den menschlichen Geist stets nahe bei der Sphäre des Heiligen. Bei einer Menge von Völkern bilden Würfelspiele einen Teil der religiösen Handlungen. In dem altindischen Wort dyutam gehen die Bedeutungen Streit und Würfelspiel ineinander über. Sogar die Welt denkt man sich als ein Würfelspiel, das SIVA mit seiner Gemahlin spielt. Das Spielen der Götter auf einem Spielbrett kennt auch die germanische Mythologie. Als die Welt geordnet war, versammelten sich die Götter zum Würfelspielen.“ (Huizinga. Homo ludens)

Wir sehen, der kapitalistische Urtausch in der Heiligen Schrift – Mensch gibt Gott seine Seele, damit Gott ihn mit Seligkeit belohnt – ist auf keinen Fall der erste Urtausch der Geschichte.

Schon lange vor Abraham existierten andere Völker, die sich dem heiligen Tausch durch Glücksspiele den Götter näherten. Die biblischen Schriftsteller haben die Anfänge nur zu riesigen Heilszeiten erweitert, die alle Zeiten und Völker umfassten – bis ans Ende der Welt.

Das heilige Glücksspiel der Juden-Christen wurde von Marx zum Opium des Volks erklärt, gleichzeitig deklarierte er das Spiel um die Moneten als traditionelle Heilszeit – aber mit wirtschaftlichen Begriffen.

Bertrand Russell hat das Schema präzis aufgeschrieben, das in Variation auch für das Dritte Reich gilt.

„Jahwe – Dialektischer Materialismus
Der Messias – Marx
Die Auserwählten – Das Proletariat
Die Kirche – Die Kommunistische Partei
Die Wiederkunft – Die Revolution
Die Hölle – Die Bestrafung der Kapitalisten
Das 1000-jährige Reich – Der Kommunistische Staat.

Ein ähnliches Vokabular ließe sich für die Nazis aufstellen, ihre Begriffe sind jedoch viel ausgesprochener alttestamentarisch und weniger christlich als die marxistischen, ihr Messias gleicht mehr den Makkabäern als Christus.“ (Philosophie des Abendlandes)

Über den letzten Satz könnte man streiten. Im Prinzip aber sind jüdische und christliche Endzeitvorstellungen ziemlich deckungsgleich. Sowohl Biblizisten in Amerika als Ultra-Orthodoxe in Israel ahnen, dass das Reich Gottes, mit ihnen als Gesamtgewinner, nahe herbeigekommen sein könnte.

Überall empfinden die Gläubigen, mit der Menschheit geht es bergab. Wenn Gott nicht eingreift, ist es um den homo sapiens geschehen. Ein neues Kapital muss beginnen.

Alle drei Erlöserreligionen, Muslime inbegriffen, wittern ihre baldige Erhöhung über die Menschheit, wenn ihr Erlöser kommen wird.

Das goldene Jerusalem wird zum Zentrum der Wiederkunft ihres Herrn für die Meisten. Slavoj Žižek hat einen interessanten Artikel zu diesem Thema aus Jerusalem veröffentlicht:

„Laut einer Recherche des Nachrichten-Teams von Channel 13 in Israel wird künftigen israelischen Armeeoffizieren an der staatlich finanzierten militärischen Vorbereitungsakademie Bnei David von Rabbinern das Folgende vermittelt: Es ging beim Holocaust nicht darum, die Juden zu töten. Unsinn. Und dass er systematisch und ideologisch erfolgte, macht ihn moralischer als willkürlichen Mord. Der Humanismus, die weltliche Kultur – das ist der Holocaust. Der wahre Holocaust ist der Pluralismus. Die Nazi-Logik war in sich schlüssig. Hitler sagte, dass eine bestimmte Gruppe innerhalb der Gesellschaft die Ursache allen Übels in der Welt sei und daher ausgerottet werden müsse. … Gott verkündet seit Jahren lauthals, dass die Diaspora vorbei ist, doch die Juden gehorchen nicht. Das ist ihre Krankheit, die der Holocaust heilen muss. … Hitler war absolut rechtschaffen. Natürlich hatte er Recht mit jedem Wort, das er sagte. Seine Ideologie war korrekt. … [D]er einzige Fehler [der Nazis] bestand darin, wer auf welcher Seite stand.“ (derFreitag.de)

Hitler war – wie Judas, der Verräter – kein Bösewicht, sondern nur ein Werkzeug Gottes, das tun musste, was der Herr von ihm verlangte.

Wenn Hitler und die Despoten des Alten Testaments, die die Israeliten in die Gefangenschaft führten oder gar massenhaft abschlachteten, Werkzeuge Gottes waren und keine Schuld trugen am Schicksal der Kinder Gottes, waren dann die Deutschen nicht wie ihr Führer: unschuldig am verhängnisvollen Geschick der Juden?

Solch eine Frage kann nur jemand stellen, der die Menschen als Spielzeuge einer höheren Macht versteht und nicht als Opfer schuldfähiger autonomer Menschen. Was die Deutschen verübten, war ihre eigene Schuld und keine Tat schuldloser Marionetten.

Von all diesen biblischen „Märchen“ wollen die Deutschen nichts mehr wissen, weshalb sie die apokalyptischen Deutungen der Zeit ablehnen. Da diese Mythen noch durchweg die Gegenwart bestimmen, ist es immer noch sinnvoll, die Wirkung der Offenbarung Johannes auf die Gegenwartspolitik unter die Lupe zu nehmen.

Bestimmen uns noch immer die Glaubenserzählungen eines Heiligen Buches – übersetzt in profane Politik? Oder fühlen wir uns frei, weil es keine Last der Vergangenheit geben kann?

Moderne Ideologen halten nichts davon, die Gegenwart mit der Erinnerung an eine fromme Vergangenheit erarbeiten zu wollen. Seltsamerweise sind Historiker die Ersten, die die Mär von der nichtigen Vergangenheit propagieren. In jedem Augenblick könnten wir vorne beginnen.

Aus dieser Perspektive wird der Mensch zum erinnerungslosen Wesen. Wer immer von vorne beginnt, hat keine Vergleichsmöglichkeiten mit dem Früheren. Er kann nicht verstehen, was ein Mensch alles in sich haben kann, um seinen Spuren und denen seiner Vorfahren zu folgen.

Der sokratische Dialog als Erinnerung an das Vergangene wäre ausgeschlossen. Der Mensch wäre nur eine sinnlose Reihenfolge zerrissener Augenblicke.

„Gedenket nicht des Früheren, und über die Dinge der Vorzeit sinnet nicht nach!“

Das ist eine trostlose Verpflichtung zu einem bewusstlosen Leben. Seltsamerweise sollen die Gläubigen dennoch zurückblicken, um die Heilstaten Jesu auf Golgatha zu bewahren. Geschichte schrumpft zusammen auf eine erfundene Mär. Und wozu?

Um den Glauben an das Neue umso fester zu beherzigen. Vergangenheitslose Zukunft: das ist die Religion von Silicon Valley.

Warum sind die Deutschen so unfähig, ihre Gegenwart zu erneuern? Warum quasseln sie und tun nichts? Der Verdacht kommt auf, sie müssen jede Hilfe ablehnen.

Eine eiserne Last liegt auf ihren Schultern: wie es kommen wird, so müssen wir es akzeptieren. Jeder Mensch muss seine Last tragen, sie abwerfen zu wollen, wäre widergöttlich.

Zwar lehnen sie ihre Schuld am Verschleiß der Natur ab – und scheinen dennoch an dieser Last als gerechte Strafe für ihre Schuld festzuhalten. In kleinen Dingen erkennt man ihre Mechanismen: bei Katastrophen beginnen sie, die Rettungskräfte anzugreifen, als ob diese frevlerisch die Schuldigen von ihrer Schuld befreien wollten.

Aus demselben Grund verachten sie die Aktivisten, die sie an ihre Pflichten der Menschheitsrettung erinnern wollen. Deren harmlose Gesetzesübertretungen sind für sie schlimmer als das mögliche Ende aller Zivilisation.

Gabor Steingart verurteilt die SPIEGEL-Schreiber, weil sie immer mehr zu Aktivisten und ihre Objektivität verraten würden. Es ist umgekehrt. Wer seine Tagespflichten vergisst, verrät die Objektivität der Menschheitsrettung. Will er zuschauen, wie seine Familie von Wassermassen davon getrieben wird? Das ist eine Vorstellung von Unabhängigkeit und objektiver Erkenntnis, die alles zunichte macht, was Humanität fordert.

Die Medien scheinen nicht zu wissen, dass sie die moralfreie Ökonomie kopieren. Diese glaubt, eine echte Wissenschaft zu sein, je mehr sie jedem Werturteil aus dem Wege geht. Das war im 19. Jahrhundert der schreckliche Sieg einer falsch verstandenen Naturwissenschaft über eine falsch verstandene Geisteswissenschaft. Das Erkennen von kausalen Naturgesetzen ist moralfrei, nicht aber die Überlegung, wie diese Erkenntnisse praktisch verwendet werden sollen.

Wir leben von moralischen Werten. Wer sie negiert, negiert das volle und satte Leben.

Seit 1000en von Jahren spielen die Völker Glücksspiele, um ihre Rivalen in den Schatten zu stellen. Glücksspiele wurden zu Religionen, die ihren Auserwählten zum Endsieg verhelfen sollten.

Das wirklich glückliche Leben wurde zur Langeweile erniedrigt, in der man nichts anders tun kann als das Leben in lustlosem Einerlei zu verbringen. Glück wurde denunziert zur ewigen Glücksspielaufregung: wer wird gewinnen?

Sind Kinder unfähig, durch spannungsfreies Spielen ihre Tage in Glückstage zu verwandeln? Schaut eure Kinder an, von denen ihr lernen könnt. Wenn ihr nicht werdet wie sie, bleibt ihr glücklose Zeitgenossen, die um das Sein würfeln müssen.

Wir, wir allein sind es, die sich ändern müssen. Was wir nur äußerlich ändern, wird nichts ändern.

Unsere Schulkinder werden gedrillt zu Zukunftsmaschinen einer inhumanen Gesellschaft. Was sie wirklich lernen könnten, um ein erfülltes Leben zu erleben, wird ihnen vorenthalten.

„Schülerin: »Wieso lernen wir, wie wir quadratische Gleichungen mit der PQ-Formel lösen, aber nicht, wie wir in einer zwei, drei oder vier Grad wärmeren Welt leben können? Mathematische Gleichungen lösen, kein Problem, aber die Klimakrise … Wäre es nicht viel sinnvoller, wenn uns die Schule auf das Leben vorbereitet, das wir auch tatsächlich leben werden? Wir lernen so viel Theorie, und die hat oft so wenig mit unserem Alltag und unseren Erfahrungen zu tun. Aber wie werden wir zum Beispiel im Unterricht auf die Klimakrise vorbereitet? Die Antwort ist einfach und doch erschreckend: gar nicht.«“ (SPIEGEL.de)

Jetzt – oder es wird für alles zu spät sein.

Fortsetzung folgt.