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Natur brüllt! XI

Tagesmail vom 01.09.2023

Natur brüllt! XI,

„Sprich aus der Ferne
Heimliche Welt,
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.“ (Clemens Brentano)

Von hier aus hast du die schönste Aussicht: Ibiza, die traumhafte Insel der Welt, wo die Reichsten der Reichen herkommen – um mich zu begrüßen, als gehörte ich zu ihnen.

Nähe und Ferne verschwimmen, als wäre alles eine Einheit und niemand könnte verloren gehen.

„Alles ist freundlich wohlwollend verbunden,
Bietet sich tröstend und trauernd die Hand,
Sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
Alles ist ewig im Innern verwandt.“

Höret die Botschaft, ihr seltsamen Menschen, hier, auf der schönsten aller Inseln ist alles miteinander verwandt. Die Ferne ist es, die uns zusammenbringt, die Aussicht auf das Endlose, die Ferne, die uns nahe bringt, ohne dass wir kollidieren müssten.

Auf Ibiza haben die Reichen das Geheimnis durchschaut: die Aussicht auf die Ferne gibt ihnen das Gefühl der Nähe. Hier – das spüren sie – sind sie angekommen. Hier, weit entfernt von den Dünsten falscher Nähe, sind sie ans Ziel gelangt.

Schaut, welch wundervolle Aussicht in die Ferne – und ihr fühlt euch als Teile der Welt, braucht nichts mehr, was ihr nicht hättet – und spürt dennoch das Glück der Nähe und Ferne.

Aussicht in die Ferne, das ist das Glück der Nähe. Auf Ibiza gibt es niemanden, der euch belästigen könnte.

Die Deutschen sind reiche Menschen. Wohin sie kommen in der Welt: sie sind begeistert über die Aussicht – in die Ferne. Die Nähe, die unerträgliche Nähe, haben sie mit Schaudern verlassen. Sie haben die Ferne gesucht – und die Ferne gefunden.

Auf Nimmerwiedersehen Heimat, die wir nicht länger ertragen. Du kennst weder die Ferne noch eine beglückende Fremde.

„Es funkeln auf mich alle Sterne
Mit glühendem Liebesblick,
Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem, großem Glück.“ (Schöne Fremde, Eichendorff)

Die Reichen haben das Glück gefunden! Ja, wo denn?

Wo du nicht bist, da ist das Glück.

Sie haben ihr Ich verlassen, um als Nicht-Ich das Glück der Ferne zu erahnen.

„Mit seiner Vernunft ist dem Menschen nicht das Vermögen einer Wissenschaft des Wahren, sondern nur das Gefühl und Bewusstsein seiner Unwissenheit desselben: Ahnung des Wahren, gegeben. Ahnung ist ein Gefühl der Anerkennung des Ewigen im Endlichen.“ (Lexikon der Philosophie)

Das war die Stimme der Romantik, nichts für den Rigoristen Kant:

„Ahnung ist eine Aussicht in die Zukunft, für das, was noch nicht gegenwärtig ist. Solche Ahndung ist ein Hirngespinst, denn wie kann man empfinden, was noch nicht ist?“ (Kant)

Die Deutschen verehren Kant, wollen aber mit ihm nichts zu tun haben. Zu streng, zu klar. Auf neudeutsch: zu besserwisserisch, zu dogmatisch, zu zwanghaft.

Wer von seiner Vernunft so überzeugt ist wie der Königsberger, der hat keine Sensibilität für das Vernunftnahe, das allmähliche Nähern der Vernunft mit der gesuchten Wahrheit. Da gibt es nur ein barsches Entweder-Oder, kein Herantasten, Ahnen und Vermuten.

Wie sollen Menschen sich einander nähern, wenn sie rückhaltlos von ihrer Wahrheit überzeugt sind wie dogmatische Vernünftler?

Wie verträgt sich kantische Vernunft mit der Demokratie, dem Revier des endlosen Könnte sein, Könnte aber auch nicht sein? Kann Vernunft Kompromisse schließen? Oder stolziert sie immer nur daher mit dem scharfen Schwert des Ja oder Nein?

Heute steht Demokratie auf des Messers Schneide. Für die einen zu dogmatisch, für die anderen zu geschwätzig. Wie spricht man miteinander in Demokratien?

Gibt es in Volksversammlungen auch sinnvolle Gespräche, voller Empathie für Andersdenkende und dennoch mit einer scharfzüngigen Vernunft als unbestechliche Oberrichterin? Oder genügt hier das formlose Ahnen und Vermuten, dass Streitgespräche unmöglich sind?

Ist die athenische Demokratie nicht zusammengebrochen, weil sie nicht wusste, ob sie nur ahnen – oder aber wissen sollte? Kann man 1000e von Menschen in ein gehaltvolles Streitgespräch verwickeln? Oder haben die antiken Ahnder das Recht des irgendwie Überredens für sich gepachtet?

Rhetorik nannten die Alten die Fähigkeit des irgendwie-Redens, das nur das Ziel hatte, die Mehrheit auf ihre Seite zu bringen.

„Das Ziel der Rhetorik ist: die Zuhörer durch psychologische Wirkungen in Bann zu schlagen und dadurch den Zwecken des Redners gefügig zu machen.“

Einer der größten Rhetoren Athens war Thrasymachos, dessen rhetorische Fähigkeiten ein ganz bestimmtes Ziel hatten: die Macht, die unbedingte Macht in der Polis. Würde Trump den Thrasymachos kennen, hätte er ihn längst zu seinem Gott ernannt.

Alles Reden und Tun der Staatsmänner und Rhetoren sollte nur einen Zweck haben. Sie sollten zeigen, dass

„das Leben des Ungerechten besser sei als das des Gerechten, dass die vollendete Ungerechtigkeit nützlicher sei als die vollendete Gerechtigkeit, dass die traditionelle Gerechtigkeit nichts anderes sei als vollendete Einfalt, die Ungerechtigkeit aber „Wohlberatenheit“ sei.

Das gelte freilich nicht für hergelaufene Beutelschneider, sondern nur für „Männer, die fähig seien, Unrecht im großen Stil zu begehen und Städte und Völker sich zu unterwerfen. Das Leben des Ungerechten sei dem des Gerechten vorzuziehen.“ (Nestle)

Nestle spricht vom Naturrecht der Starken, im Gegensatz zum Naturrecht der Schwachen, dem Recht der Gleichheit, das in den Volksversammlungen hart erarbeitet werden musste.

Nestles Begriffe haben sich nicht durchgesetzt. Wenn vom antiken Naturrecht gesprochen wird, meinen die Professoren zumeist das von Gott gegebene Naturrecht – gemäß ihrem Motto: alles Gute kommt von Oben, der elende Rest von Unten.

Hayeks spontane Ordnung ist nichts anderes als das Naturrecht des Thrasymachos. Vernunft und Gerechtigkeit gibt es nicht, es herrscht der reine Zufall, erwirkt durch den Hayek’schen Gott.

Dahrendorf, ein geschmeidiger Liberaler, kennt keine Hemmungen, auf den starken Mann Athens ein Loblied zu singen: Das Lob des Thrasymachos.

„Dahrendorfs seit dem „Lob des Thrasymachos“ (1966) angedeutete machtbewusste, elitäre politische Perspektive offenbart sich nicht nur in der Diktion. Er hält nach wie vor Ausschau nach den Männern, die Geschichte machen, und vermisst die „Persönlichkeit von Führern“ (S. 142). Obwohl es – nach seiner kulturpessimistischen Diagnose – keine solchen Führer mehr gebe, fühlt er sich in der Gesellschaft ihrer Ersatzleute ganz wohl.“ (hsozkult.de)

Dahrendorf, nicht nur Gelehrter, sondern auch hoher Politiker Europas, tat alles, um Hayeks Neoliberalismus in die aktive Politik der EU-Staaten zu übertragen. War die FDP vorher noch ziemlich links, wurde sie ab Dahrendorfs Höhenflug zur Vertreterin einer hemmungslosen Macht im Dienst der Starken.

Und mit dieser Partei einer hemmungslosen Staatsraison ließen sich inzwischen die Grünen und die SPD ein – und wundern sich täglich, dass sie keine gemeinsame Grundlage einer sinnvollen Politik finden. Von Anfang an flogen die Fetzen und werden solange weiterfliegen, bis Kenner der Vergangenheit die Ursachen des Chaos aufdecken werden. Besser keine Politik als die ewige Zerstrittenheit dieser Streithähne.

In einem solchen Fall dürften die geistesträgen Deutschen nicht mehr geschont werden. Lieber keine Kompromisse und Stopp aller Politik als dieses Schauspiel als Kasperle-Theater – ohne jeden Heiterkeitswert.

Es herrscht ein ungenanntes Gebot in unseren Landen, die Urheber einer öffentlichen Sinnstarre überall zu suchen, nur nicht beim heiligen Volk, das mit allem unzufrieden sein darf, nur nicht mit sich selber.

Demokratie – Herrschaft des Volkes? Nicht bei uns. Das Volk darf wählen, doch dann ist Schluss. Und die Parteien sollen keine Politik vertreten, die sie für richtig halten, sondern eine, mit der sie verschiedene Teile des Volkes für sich gewinnen können.

Jeder Partei wird eine traditionelle Klientel zugeordnet und um die hat sich die Partei zu kümmern. Wo kämen wir hin, wenn die Konservativen sich forciert um Reformen kümmern würden – oder die Linken um die Vorrechte einer vorlauten Industrie?

Dabei dürfen wir nicht übersehen: alle Parteien wissen längst nicht mehr, wofür sie stehen. Was bewahren die Konservativen, was ist links für die Linken, was ist die beste Politik für Klimaschützer?

Die Rhetoren der Superreichen sorgen dafür, dass ihre Lügenkünste die elementarsten Wahrheiten vom Tisch fegen. Einmal werden die Wissenschaften angegriffen, dann die Moralisten unter den aktiven Politikern.

Obwohl es keine amoralische Politik geben kann, – denn jedes Tun ist moralisch, (wenngleich der verschiedensten Auffassung der Moral, über die gestritten werden müsste), ist der Widerstand der Mächtigen gegen eine Politik der moralischen Vernunft ein Erbe des Kampfes der Vernunft. Der Vernunft gegen die Moral eines überragenden Gottes, der immer recht hat.

Über solche Verstrickungen darf überhaupt nicht gestritten werden. Denn der jahrtausendealte Konflikt zwischen Glaube und Vernunft soll längst geschlichtet sein.

Nur diese Amerikaner, bislang die Nummer Eins der Weltpolitik, schwelgen noch in den Rhythmen uralter Erweckungsbewegungen.

Während Hayek den Staat kritisiert, dass er die Wirtschaft gängele, ist es schon seit vielen Jahren umgekehrt:

„Die Kernthese dieses Essays lautet, dass die Volkswirtschaftslehre, aber auch Wirtschafts- und politische Systeme im Allgemeinen, aus finanziellen und politischen Interessen … ihre eigene Version der Wahrheit kultivieren. Diese hat nicht unbedingt etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Niemand trifft eine Schuld, schließlich glauben die meisten Menschen das, was sie glauben möchten. … Das, was mächtigen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Interessen dient oder ihnen zumindest nicht entgegensteht, gilt als die Wahrheit. Niemand hat ein schlechtes Gewissen, und die meisten fühlen sich im Recht. Was sich im wirklichen Leben durchsetzt, ist nicht die Wahrheit, sondern die jeweils herrschende Mode und das finanzielle Eigeninteresse.“ (J. K. Galbraith, Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs)

Galbraith hat im hohen Alter ein mächtiges anti-neoliberales Buch geschrieben. Dass die Verwüster der Weltwirtschaft unschuldig betrügen würden, das ist nicht an den Haaren herbeigezogen, freilich ist es falsch. Denn dieses Motto glaubt nicht mehr an die Verantwortung der Menschheit, die darin besteht, zu wissen, was sie tut.

Vergib ihnen Herr, denn sie wissen nicht, was sie tun: dieser Freibrief eines Erlösers, der die Menschheit für sich gewinnen will, um sie an sich zu binden, ist der Vernunft unwürdig.

Auch wenn wir nicht wissen, was wir tun, haben wir uns zu bemühen, es herauszufinden. Es gibt genügend Vorbilder in der Menschheit, die ihre Vorschläge präsentiert haben, um die Irrtümer der Gattung zu zerlegen.

Mit diesen Philosophen haben sich die Menschen solange herumzuschlagen, bis sie zu wissen glauben, was sie in die Irre geführt hat.

Das können auch Ahnungen sein. Denn bevor die Vernunft weiß, was sie denkt, muss sie sich mit Vermutungen und Ahnungen begnügen – und diese der Vernunft entgegenführen. Ahnungen sind die Kitas der Menschheit, in denen sie solange herumraufen dürfen, bis aus dem Chaos etwas Sinnvolles herauskommt.

Es wäre eine absolute Pflicht, die Geschichte der Wirtschaft auf ihre endlosen Fehlentscheidungen hin zu überprüfen. Das wäre das Ende der Vergangenheitsverleugnung. Wenn wir nicht wissen, was unsere Vorfahren taten, werden wir nie herauskriegen, welche kapitalen Fehler ihnen unterliefen.

Der Neoliberalismus ist eine aggressive Vernunftfeindschaft. Nicht Vernunft soll unsere Handlungen bestimmen, sondern der Zufall unserer blinden Produktangebote. Unsere Ahnungen sollen nicht per Versuch und Irrtum allmählich in Wissen übergehen, sondern im Status des blinden Ahnens verharren.

Hayek beklagt die ständige Überforderung der Vernunft, die sich längst für Gott hält.

Es ist umgekehrt. Wenn die Menschheit sich nicht endlich bemüht, ihre Vernunft einzusetzen und ihre Existenz zu retten, wird sie an ihren pubertierenden Ahnungen zerbrechen.

Wenn die Menschheit nicht endlich ihre Schuldfähigkeit akzeptiert, wird sie an ihren globalen Fehlleistungen ersticken.

Fortsetzung folgt.