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Natur brüllt! X

Tagesmail vom 28.08.2023

Natur brüllt! X,

Die planetarische Politik entledigt sich ihrer Hüllen. Sie macht sich ehrlich.

Ehrlichkeit ist nicht ungefährlich, auf diplomatisches Säuseln kann sie verzichten. Dafür muss sie mit dem wütenden Einsatz von Waffen rechnen.

Wer schnörkellos zur Sache spricht, ohne Gewehr in der Hand – riskiert Macht- und Bedeutungsverlust, Wohlstandsminderung, vielleicht sogar den Abstieg in eine untere Klasse.

Die Nachkriegszeit war gekennzeichnet durch zwei Wegmarken. Oberste Orientierung war Frieden und Gleichwertigkeit aller Menschen und Nationen. Das waren die obersten Bergspitzen beim Wandern durch die Zeiten.

Verfehlten die Völker diese Markierungen, wurden diese ersetzt durch Drohungen und Waffengeklirr.

Der Kalte Krieg wäre um Haaresbreite zum atomaren Weltkrieg eskaliert. Nur die zufällige Anwesenheit eines sowjetischen Offiziers mit gesundem Menschenverstand im Zentrum der Macht verhinderte das Inferno und wahrte den äußerlichen Frieden.

Das war eine globale Friedenssicherung per Zufall. Die wahren Ursachen der ständigen Kriegsbereitschaft zwischen Ost und West waren damit nicht beseitigt.

Erst Gorbatschow gelang es, den Kalten Krieg in einen dauerhaften warmen Frieden zu verwandeln – durch Auflösung der Sowjetunion und die Entlassung ihrer geknechteten Einzel-Nationen in politische Selbstbestimmung.

Die Welt atmete auf. Einen solchen Zustand hatte sie noch nie erlebt. Die Spaltung in Ost und West war schlagartig überlebt. In Deutschland fiel die Grenze zwischen BRD und DDR.

In spontaner Friedfertigkeit kamen die mächtigsten Politiker der Welt zusammen und legten die Grundlagen für eine wahrhaft friedliche Erdpolitik.

Unerhörtes wurde Realität:

„Ungeachtet all dessen, was uns trennt, leben wir auf demselben Planeten. Europa ist unser gemeinsames Haus. Ein Haus, kein Kriegsschauplatz. Das menschliche Leben ist der kostbarste Wert, der Verzicht auf Gewalt muss zum höchsten Prinzip des Zusammenlebens zwischen Menschen und Völkern, das „Gleichgewicht des Schreckens“ durch ein globales Sicherheitssystem ersetzt werden.

Die erste Herausforderung der neuen Weltpolitik muss sein, den „Frieden auf der Welt zu wahren“. Die Weltgemeinschaft muss auch geschlossen gegen den Terrorismus auftreten, denn er ist durch keinerlei politische oder moralische Argumente zu rechtfertigen.

Die zweite Herausforderung besteht darin, die Armut auf der Welt zu bekämpfen. Die „goldene Milliarde“ der Glücklichen darf sich nicht länger teilnahmslos die Leiden der Hälfte der Weltbevölkerung ansehen, die von ein, zwei Dollar pro Tag lebt, hungert und häufig keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Anlagen hat.

Die dritte Herausforderung ist eine ökologische. Heute ist mit bloßem Auge zu erkennen, dass die Zahl der Naturkatastrophen – der Taifune, Stürme, Überschwemmungen und Dürren – wächst, dass viele Pflanzen- und Tierarten aussterben, das die polaren Eiskappen schmelzen, die Ozeane immer mehr verschmutzt und die Wälder mit zunehmender Geschwindigkeit abgeholzt werden.

Die drei globalen Herausforderungen, die sich der Menschheit stellen, sind eng miteinander verbunden. Ohne Einigkeit in der Welt, ohne ein Ende der Kriege und Konflikte, wird auch die gemeinsame Zusammenarbeit auf anderen Gebieten unmöglich, einschließlich der Bemühungen zur Rettung der Erde.

Ohne Armutsbekämpfung haben auch alle ökologischen Maßnahmen keinen Sinn. Vernachlässigen wir jedoch die Ökologie, dann sind alle Anstrengungen zur Schaffung einer gerechteren Welt zum Scheitern verurteilt. Selbst das Leben auf Erden könnte erlöschen und zu einer vorübergehenden Episode in der Geschichte unseres Universums werden.“

(Michael Gorbatschow, Mein Manifest für die Erde, Jetzt handeln für Frieden, globale Gerechtigkeit und eine ökologische Zukunft)

Dieses eminente Werk erschien im Jahre 2002. Wäre es damals ernst genommen worden, lebten wir heute in einer anderen Welt.

Was ist stattdessen geschehen?

Der Name Gorbatschows ist verschwunden, seine Bücher werden von niemandem gelesen.

Auch die Frage: wie konnte ein Putin das Erbe Gorbatschows antreten und ins exakte Gegenteil verdrehen, wird von niemandem ernsthaft gestellt.

War Gorbi ein Träumer, als er schrieb:

„Im Jahr 1880 sprach Fjodor Dostojewski in einer Rede, die dem Dichter Alexander Puschkin gewidmet war, von dem „weltumspannenden Mitgefühl der russischen Seele“. Mein Buch ist nun das Ergebnis jahrelanger Überlegungen eines Menschen … der die humanen Traditionen der russischen Kultur nie vergaß. Das 21. Jahrhundert muss zu einer Epoche des neuen Denkens für die Menschheit werden – für eine Menschheit, die im tiefsten Innern bereits weiß, dass sie in einer geeinten Welt lebt und dass sie künftigen Generationen gegenüber verantwortlich ist.“

Das Buch setzte sich auch ein für globale Gerechtigkeit. Eine ökologische Zukunft ohne Gerechtigkeit könne es nicht geben.

„Armut allein ist bereits eine schreckliche Form der Gewalt gegen die Menschheit. Wer ohne sauberes Wasser und grundlegende medizinische Versorgung auskommen muss, lebt nicht in Frieden.“

„Die Lebensfähigkeit, Vielfalt und Schönheit der Erde zu schützen, ist eine heilige Pflicht. Wir haben die Wahl: Entweder bilden wir eine globale Partnerschaft, um für die Erde und füreinander zu sorgen oder wir riskieren, uns selbst und die Vielfalt des Lebens zugrunde zu richten. Für das ethische Fundament der entstehenden Weltgemeinschaft brauchen wir dringend eine gemeinsame Vision von Grundwerten. Wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit fordert uns unser gemeinsames Schicksal dazu auf, einen neuen Anfang zu wagen. Das erfordert einen Wandel in unserem Bewusstsein und in unseren Herzen.“

Will irgendjemand behaupten, Gorbatschow sei ein lächerlicher Visionär gewesen, großer Worte fähig, aber unfähig zur geringsten Tat?

Gibt es einen einzigen deutschen Politiker, der sich der universalistischen Wucht der Gorbi-Worte gestellt hätte?

Gibt es eine einzige deutsche Partei, die sich mit der Kühnheit seines Manifests auseinandergesetzt hätte?

Gibt es einen einzigen deutschen Russland-Korrespondenten, der unter „normalen Russen“ die Umfrage gestartet hätte, was sie heute von Gorbatschow halten?

Anfänglich war Putin sehr wohl ein Schüler Gorbatschows. Erst als ihm auffiel, dass der Westen kaum etwas unterließ – vor allem unter den amerikanischen Machtpolitikern der Marke America first –, um den Einfluss Russlands einzudämmen, begann er störrisch zu werden und zurückzukehren zum altrussischen Cäsaropapismus.

Nicht zuletzt Amerikas „New Jesus“ Barack Obama, der mit seinen Visionen in der ganzen Welt herumreiste, um Gorbatschows irdische Utopien in den Schatten zu stellen, ließ nichts anbrennen, um den Moskauer Angeber ins Abseits zu stellen.

Diese Worte bedeuten nicht, Putins schrecklichen Krieg heilig zu sprechen. Eines aber ist, etwas zu verstehen, das andere, es zu scharf zu bewerten.

Für deutsche Ohren ein Hohn.

Gorbi plädierte für Gerechtigkeit. Was geschah im Westen?

„Wenn die Demokratie erhalten bleiben soll, muss sie einsehen, dass sie nicht der Urquell der Gerechtigkeit ist … Wenn das Prinzip der distributiven Gerechtigkeit einmal eingeführt ist, wird es nicht erfüllt sein, bevor nicht die ganze Gesellschaft in Übereinstimmung mit diesem Prinzip organisiert ist. Das würde eine Gesellschaft schaffen, die in allen wesentlichen Belangen das Gegenteil einer freien Gesellschaft wäre – eine Gesellschaft, in der die öffentliche Gewalt entscheidet, was der Einzelne zu tun hat und wie er es tun muss.“ (alle Zitate von Hayek aus „Die Verfassung der Freiheit“)

Gibt es einen einzigen deutschen Politiker, der weiß, was Hayek geschrieben hatte? Und sich mit auseinandersetzte? Und dennoch wurde sein Neoliberalismus zum Kern der deutschen Wirtschaft. Kein SPD-Parvenu namens Schröder wird ein einziges Buch des Österreichers gelesen haben.

Auch für Merkel gab es keine Gerechtigkeit als Ziel ihrer Politik. Streng genommen hatte sie keine Ziele, außer: die Dinge nach Gottes Willen laufen zu lassen.

Im Gegenteil. Als Gorbi beerdigt war, sprach die fromme Frau ausschließlich von Wohlstandsvermehrung und wirtschaftlichem Fortschritt. An die Stelle des Kriegsrechts der Waffen, entschied sie sich für die alte Heuchelei des Westens: die Sieger des Wettbewerbs in Wirtschaft und Fortschritt sollen die Welt beherrschen.

Merkel schwamm mit im Getriebe der sündigen Zeit. Die Aufgabe einer religiösen Politikerin war es nicht, das Himmelreich auf Erden zu errichten (ganz im Geiste des guten Katholiken Hayek), sondern das irdische Reich des Teufels bis ans Ende der Zeit voranzutreiben. Dann erst wird es in alle Stücke zerbrechen, wenn das Reich des Geistes die Herrschaft über alles übernehmen wird.

Christliche Politiker sind zu Mitläufern verdammt, die auf Erden so tun müssen, als ob sie die besten Arbeitnehmer des Teufels wären. Erst im Jenseits werden sie befreit von der Macht des Unheiligen. Solange sie „im Fleische“ sind, bleiben sie Sympathisanten des Unheiligen:

„Das ursprüngliche Christentum steht der Vernunft und dem natürlichen Erkennen mit Geringschätzung und Misstrauen gegenüber. Die natürliche Vernunft und Weisheit ist ein Hemmnis für das Reich Gottes. In seiner Armut und geistigen Knechtsgestalt hat es die Welt überwunden. Das Christentum ist unpolitisch, es ist gleichgültig gegen politische Bildungen. Der Gläubige opfert weder irdischen Machthabern noch Göttern. Er erklärt damit, dass es für ein Höheres gibt als den Staat, nämlich das Reich Gottes, als dessen Bürger er sich schon weiß, ohne sich ihm verpflichtet zu wissen.“

Merkel hat in vollendeter Demutspose der Welt eine christliche Politik vorgeflunkert, die sie als Pflicht ihrem Herrn gegenüber empfand.

„Wahres Leben und wahre Güter bietet die Erde nicht. Erst die Welt, die da kommen soll, wird sie ans Licht bringen. Nur dem Fleische nach sind sie in der Welt heimisch, ihr Geist aber ist hier nicht heimisch; sie leben in der Welt, aber ihr Herz ist droben.“

Die Deutschen verschieben die Inthronisation des Glaubens bis zum Finale der Geschichte: als „die Armen, die viele reich machen, als die, die nichts haben und doch alles haben.“ (alle Zitate in „System der Ethik“ von Friedrich Paulsen)

Fassen wir zusammen: „Jedenfalls hören wir nirgends im Neuen Testament von einer erstrebten Änderung der äußeren Verhältnisse, von dem Versuch einer gerechten Gemeinwirtschaft. Im Gegenteil: „Ihr Sklaven, seid untertan euren Herren!“ (In Vorländer, Geschichte der Sozialistischen Ideen)

Das Hereinlassen vieler Flüchtlinge waren Almosen, keine dauerhafte Politik. Gleichgültig, was sie tun, ihr Tun ist stets irdisches Flunkern – und keine Verbundenheit mit einer irdischen Heimat.

Von all dem will kein Deutscher etwas wissen. Fühlt er, dass etwas christlich ist, muss dies auch so sein. Sein Glauben wurde zur Empfindung des Selbstverständlichen.

Jetzt kommt das Verdienst einer grünen Außenpolitikerin: sie will nicht länger mehr heucheln und fordert ihre Leute auf, das Doppelspiel zwischen sündiger Realität und strenger Aufrichtigkeit zu beenden – zugunsten der Ehrlichkeit.

„Schluss mit der Zurückhaltung: Die deutschen Botschafterinnen und Botschafter sollen öffentlich viel stärker in Erscheinung treten, in sozialen Medien und Interviews. Nicht allen im Auswärtigen Amt gefällt das.“ (SPIEGEL.de)

Der Versuch der Ehrlichkeit ist zu begrüßen, obgleich die Realität nicht gleich durchsichtig werden wird. Es wäre aber schon viel erreicht, wenn die un- heuchlerischen Absichten klar werden würden. Dann wäre, was Friedrich Meinecke Staatsraison genannt hat, glücklich überwunden.

Typisch jedoch, dass Baerbock für ihre neue Einfachheit von den Medien gescholten wird. Heuchelte sie einst, wurde sie niedergemacht, heuchelt sie heute nicht mehr, wird sie ebenfalls gescholten. So objektiv urteilt die objektiv-neutrale Presse.

Auch der SPIEGEL-Korrespondent für China, Bernhard Zand, wagt den schüchternen Vorschlag, der Westen möge sich jener Werte bedienen, die er selbst öffentlich vertritt: erst dann werde er den Kampf mit den neuen Bric-Staaten bestehen.

„Dass ein Bündnis mit China und Russland an der Spitze für viele Länder so attraktiv ist, muss dem Westen zu denken geben. Er sollte sich der Werte besinnen, auf die er sich selbst immer beruft.“ (SPIEGEL.de)

Selbstkritik ist die beste Art einer neuen Weltpolitik. Von dieser Aufrichtigkeit ist Deutschland noch weit entfernt.

Fortsetzung folgt.