Kategorien
Tagesmail

Natur brüllt! VIII

Tagesmail vom 21.08.2023

Natur brüllt! VIII,

Einladung zum Ruhetag, zum weltweiten Tag der Stille.

Machen wir’s wie der Vater aller Dinge:

„Du wirkest immer und ruhest immer.“

Äh, wie bitte? Du wirkest und ruhest gleichzeitig?

Indem Du ruhst, wirkst Du und indem Du wirkst, ruhest Du?

Ist das etwas, was wir jemals verstehen werden?

Davon träumen wir: indem wir wirken und die Welt verändern, ruhen wir – und im Ruhen sind wir unermüdlich tätig! Müsste das nicht himmlisch sein?

Wach auf. Du redest im Fieber – oder von Wundern.

Unterbrich mich nicht. Ich muss weiterreden:

„So also steht es. Die Dinge, die Du gemacht hast, sehen wir, weil sie sind, sie sind aber, weil Du sie siehst. Von Dir soll man`s erbitten, in Dir es suchen, bei Dir darum anklopfen: so, ja so wird man empfangen, so, ja so wird man finden, so wird aufgetan werden.“

Mehr als 1000 Jahre später in Frankreich:

„Ich denke, also bin ich.“

Welch ein Absturz, von Deiner Schöpferkraft zur eingebildeten Schöpferkraft des Menschen.

„Und indem ich erkannte, dass diese Wahrheit: „ich denke, also bin ich“ so fest und sicher ist als die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, dass ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne.“

Was geschieht hier? Die Pole des Abendlandes stellen sich gegenüber. Auf der einen Seite der Kirchenvater Augustin, der alles Sein und Werden durch das Sehen des Schöpfers garantiert sieht, auf der anderen der Anfänger der Moderne, der das unerschütterliche Fundament des Daseins im Denken des Menschen sieht.

Der Fromme heißt Augustin, der Selbstdenker Descartes.

Schauen wir von außen: Augustin gehört zu den christlichen Urvätern des Abendlands, Descartes zu den Denkern der Moderne, die wieder an das antike Philosophieren anschließen.

„Griechische Weltbejahung und christliche Weltüberwindung, Kultur und Erlösung bezeichnen die beiden Lebenswege, welche bisher die abendländische Menschheit eingeschlagen hat. Die beiden Wege, die der Mensch überhaupt gehen kann. Man muss sich einmal diesen Gegensatz in seiner vollen Schärfe klar machen, sonst wird man auch die Vermittlungen nicht verstehen können.“ (Friedrich Paulsen, System der Ethik, 1906)

Was haben diese Polaritäten und Vermittlungen mit unserer Gegenwart zu tun?

Sie gehören zu den „Kompromissen“ eines deutschen Kabinetts, das an ihnen verzweifelt, weil die Regierenden nicht wissen wollen, wie tief sie in der Vergangenheit vergraben sind.

Und dass sie ihren Gedankenkram nicht klären können, wenn sie nicht die gesamte – bewusst-geschriebene – Geschichte sich in Erinnerung rufen, um zu verstehen, dass sie ihre Kompromisse nie entwirren können, wenn sie die Kalamitäten unserer Geschichte nicht rekonstruieren.

„Die Bekehrung der Alten Welt zum Christentum ist die tiefste Revolution, welche die europäische Menschheit erlebt hat. Es ist die vollständige Umkehrung der gesamten Lebensanschauung, die „Umwertung aller Werte“, um mit Nietzsche zu reden. Ich versuche zunächst, den Gegensatz so scharf als möglich zu fassen, die christliche Selbstverleugnung in ihrer herben Größe der griechischen Lehre von der Selbsterhaltung gegenüberzustellen.“ (ebenda)

Was ist denn nun der große Unterschied zwischen Hellenen und Christen?

Descartes knüpft an das Selbstdenken der Antike an: Ich denke, also bin ich. Dass und wie ich lebe, hängt ab von meinen eigenen Gedanken, die zum eigenen Tun werden sollen.

Bei Augustin ist alles fremdbestimmt. Nur weil das Sein von Gott gesehen wird, kann es weiter existieren. Alles Irdische ist passiv und hängt ab vom allesbelebenden Blick eines allmächtigen Vaters – der allerdings auch schrecklich sein kann, denn wer ihn ignoriert, dem geht’s schlecht.

Bei Descartes ist alles selbstbestimmt. Wer sein Denken verkümmern lässt, verkommt in den Verwirrungen der Offenbarer – im Kampf gegen die Selbstdenker.

Im Kabinett gibt es, nehmet alles in allem, zwei Fraktionen: die erste schaut bewusst-unbewusst immer nach hinten und orientiert sich an den Rezepten der Fremddenker. Die zweite orientiert sich überall, lernt von allen Menschen und will dennoch das letzte Wort für sich behalten. Auf keinen Fall will sie unmündig bleiben.

„Was das Grundprinzip der Lebensgestaltung anlangt, das die neue Religion eingeführt hat, so steht es in schroffstem Widerspruch zu dem Lebensprinzip des klassischen Altertums. Dieses setzt, wie wir sahen, die Aufgabe des Lebens in die vollkommene Ausbildung der natürlichen Kräfte und Anlagen des Menschen und ihre allseitige Betätigung in diesem zeitlichen Leben.

Das Christentum hingegen setzt mit klarem Bewusstsein das Gegenteil als Lebensziel: nicht Vollendung, sondern Abtötung des natürlichen Lebens und seiner Triebe, damit dem „neuen Menschen“ Raum werde.“ (ebenda)

Die alte Welt will ihr Leben autonom gestalten – ohne von Offenbarungen und himmlischen Besserwissereien bevormundet zu werden.

Wer selbständig denkt, dem sind Götter gleichgültig. Er prüft ihre Aussagen genauso wie die aller Menschen. Das war der Weg des Sokrates, dessen Aussage: ich gehorche Gott mehr als allen Menschen, von den Christen übernommen wurde. Bei Sokrates aber war es kein Kniefall vor einem höheren Wesen, sondern Inbegriff seiner eigenen Vernunft.

Die Christen haben Europa nicht besiegt, weil sie vernünftiger und klüger waren als die Heiden, sondern weil sie sich dumm stellten und in ihrer Niedrigkeit alles von Gott erwarten mussten. Jeder Sieg über die Heiden war ein Sieg ihres Gottes, nicht der ihrer überlegenen Vernunft.

„Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft. 19 Denn es steht geschrieben: »Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.« 20 Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? 21 Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die da glauben.“

Die gesamte philosophische Ethik der Selbstdenker wird von den Offenbarungsempfängern ad acta gelegt. Das betrifft nicht nur die private Moral, sondern vor allem die politische Ethik.

„Dem Griechen und Römer war die politische Tätigkeit die höchste und wichtigste Betätigung des Mannes. … Das Christentum dagegen ist unpolitisch, es ist gleichgültig gegen die politischen Bildungen.“

Hier erkennen wir die uralten historischen Gründe der heutigen Moralfeindschaft und des Neoliberalismus. Beide hassen die Führungskraft der Vernunft und verlassen sich auf Zeit und Zufall, sie sprechen von spontaner Ordnung, der man angeblich vertrauen muss.

Die heutige Moralfeindschaft ist Feindschaft gegen die „Angeber-Vernunft“ der Heiden, die Neoliberalen verlassen sich auf – nicht anders als der Darwinismus – die Führungskraft höherer Schicksalsmächte, die kein Mensch bezwingen kann.

Wir sind zurückgefallen in jene Epochen, in denen hellenische Selbstbestimmung mit christlicher Fremdbestimmung im Clinch lagen. Nur mit dem kleinen Unterschied: damals wussten alle von der Unvereinbarkeit der beiden Welten. Heute glauben sie, alle Konflikte eingestampft zu haben.

Diese Konflikte, heute ins Unbewusste zurückgedrängt, waren unlösbar und sind es noch immer. Weshalb die Konfliktpartner von Kompromissen sprechen und nicht von echter Lösung der Probleme.

Von hier stammt das Generalrezept des Koalitionsgerangels, um möglichst viele Vorteile für die eigene Partei herauszuholen; nicht, wer die besten Argumente hat, um die Begriffe zu klären, sondern nur, wer am besten schachern und die anderen übers Ohr hauen kann, der soll als Sieger das Feld verlassen.

Das ist auch der Grund, warum im politischen Streit immer weniger klare politische Begriffe eine Rolle spielen, sondern nur die Quantität modischer Begriffe (zumeist aus Amerika) wie woke oder canceln.

Begriffe wie links und rechts sind historische Zufallsbegriffe, je nachdem, wo die Parteien in den ersten Parlamentssitzungen ihre Sitzplätze hatten.

All das sagt heute nichts mehr, dennoch halten alle gedankenarmen Ideologen an den Bestimmungen von gestern fest.

Rückwärts gerichtete Parteien wie die konservativen müssten klar benennen, welcher früheren Epoche sie sich noch heute am meisten verpflichtet fühlen. Zumeist geht es um die Tradition der Priesterherrschaften, weshalb Konservative vor allem christliche Parteien sind, die der modernen Entwicklung zumeist ablehnender gegenüber stehen.

Mit einem Körnchen Salz gilt das auch noch heute. Rückwärts gerichtete Parteien mögen das Vergangene, vorwärts gerichtete Reformparteien wollen mehr umkrempeln.

Reaktionsparteien wie die AfD haben kein klares Programm, sie stänkern instinktiv gegen alles vorwärts Treibende.

Bei linken Parteien ist es noch schwieriger, das Vorwärts und Rückwärts zu unterscheiden. Einst waren Marxisten die Zukunftsstürmer, heute haben sie die Fehler des Marxismus entdeckt und müssten jenseits von Marx eine klare Strategie gegen Neoliberalismus und blinde Zukunftshoffnung anbieten.

Die Linke zerfällt, weil sie den einen zu lasch, den anderen zu zerrissen geworden ist.

Die Liberalen schwanken zwischen der Lauheit der Mittelschichten und der Brutalität der Superreichen.

Grundsätzliche Erörterungen über den Zustand der Gegenwart, den Sinn von Worten wie Klimabekämpfung, Gerechtigkeit etc. gibt es nicht. Strenge Disputationen suchst du vergeblich. Schnell wechselnde Sophistik hat die redliche Politik ersetzt.

„Wenn die Worte nicht stimmen, dann ist das Gesagte nicht das Gemeinte. Wenn das, was gesagt wird, nicht stimmt, dann stimmen die Werke nicht. Gedeihen die Werke nicht, so verderben Sitten und Künste. Darum achte man darauf, daß die Worte stimmen. Das ist das Wichtigste von allem.“ (Konfuzius)

Diese Probleme betreffen die ganze Welt, weshalb es ein weltumspannendes Debattierklima geben müsste, das allen die Schärfe der Disputationskraft verleiht.

Der moderne Mensch will alles andere als von staatlichen Beamten beobachtet werden und ist dennoch nirgendwo eifriger an der Arbeit als am Zurüsten immer vollkommenerer Überwachungsnetze.

Fortschritt ist zum Synonym einer immer perfekter werdenden Digitalmaschinerie geworden. Gäbe es keine biederen Beamten, die das Walten biederer Hilfsprogramme überwachten, lebten wir längst in perfekten Überwachungssystemen.

„KI-Firmen sollen nicht alle öffentlichen Daten in ihre Systeme einspeisen, fordert Ulrich Kelber. Pläne der Bundesregierung für die Nutzung von Patientendaten sieht der Bundesdatenschutzbeauftragte kritisch.“ (SPIEGEL.de)

Das ist die Crux des Fortschritts.

Globale Ruhe- und Nachdenktage sind verpönt, die Ökonomisierung im Dienst des Wettbewerbs und der Profitrekorde ist zur Religion geworden.

Wohin will die Welt mit dem Zukunftskompass in der Hand? Will sie das rationale Ziel eines vitalen Daseins auf Erden – oder aber atemlos dem Untergang entgegen eilen?

Fortsetzung folgt.