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Natur brüllt! V

Tagesmail vom 11.08.2023

Natur brüllt! V,

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Im Gegensatz zur Würde der Menschheit, die dabei ist, sich zugrunde zu richten.

Die Menschheit besteht jedoch aus Menschen, weshalb die Würde des Menschen – dennoch antastbar sein muss.

Aus Renommiergründen muss sie als unantastbar gepredigt, aus Interessengründen aber verleugnet werden.

„Die Menschheit, nach der schrecklichen Selbstbestrafung durch zwei Weltkriege, besann sich auf die Reste ihrer Menschlichkeit und tat sich zusammen, um solche Selbstbestrafungen für immer zu verhindern.

WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN – FEST ENTSCHLOSSEN, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, HABEN BESCHLOSSEN, IN UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE ZUSAMMENZUWIRKEN.“

Was ist von der UNO-Charta in den Beziehungen der Völker lebendig geblieben? Fast nichts.

Wer kennt noch die Menschenrechtskonvention? Fast niemand.

Für welche Nation ist sie unantastbar geblieben und dürfte nie verletzt werden? Für keine.

Wo stehen wir? Vor einem Trümmerhaufen.

Wie nennen wir den Abgrund zwischen Ideal und Wirklichkeit?

Die einen sprechen von Realinteressen, unvereinbar mit Idealen.

Die anderen vom Bösen im Menschen, das ihn zur Sünde verdammt und von ihm nie überwunden werden kann.

Die einen streben lebenslang nach Überwindung des garstigen Grabens, die anderen suhlen sich im Schlamm des Bösen.

Immer mehr normale Menschen setzen auf die Normen der UN-Charta, doch die Mächtigen und Reichen setzen auf die Dominanz immer mächtigerer Interesseninstrumente und fortschrittlicher Maschinen und Waffen.

Als der Westen nicht mehr mit christlicher Religion missionierte, sondern mit Menschen- und Völkerrechten der UN-Charta, warfen ihm jene Staaten, die er unter der Maske der Menschenrechte bedrohte und beherrschte, Heuchelei und Bigotterie vor.

Heute sind solche Begriffe vom Erdboden verschwunden. Jeder weiß, dass die Mächtigsten der Welt – die Kapitalisten oder Neoliberalen – mit Hilfe dieses Zwiespalts immer reicher und mächtiger werden.

Viele Menschen des einfachen Volkes wollen diesen Bankerott des Westens verhindern. Solange aber Despoten und Magnaten, ja selbst die meisten unter den gewählten Politikern, das Sagen haben, werden Menschenrechtler der Basis keine Chancen haben.

Es sieht nicht gut aus mit der Menschheit, die lawinenartig von Krisen überschwemmt wird.

Gibt es nur noch ein Mittel: reale Macht gegen reale Macht, um die schädliche – aber oft auch von der Politik akzeptierte – Macht der Tatsachen mit Hilfe von gerechten Gedanken zu minimieren?

Gibt es immer noch die uralte Möglichkeit, mit Hilfe ideeller Argumente die trostlose Wirklichkeit der wirklichen Gewalt und Macht allmählich in humane Verhältnisse zu transformieren?

Für despotische Staaten ist diese Vorstellung abwegig. Demokratische Staaten hingegen schwanken und zermürben sich an der Frage, ob sie die Despotien nur mit despotischen Waffen – oder doch mit der „Macht der Gedanken“ bezwingen wollen.

In Deutschland gibt es keine Politiker, die reine Idealisten wären. Niemand würde solche Phantasten wählen. Diejenigen aber, die zwischen Macht und friedlichen Argumenten hin und her schwanken, werden zumeist gescholten: von Realisten, wenn sie zu blauäugig, von Idealisten, wenn sie zu machtmäßig – man könnte auch machiavellistisch sagen – gepokert haben.

Da normale Politiker, besonders im deutschen Streberland, stets zwischen beiden Polen schwanken – besonders jetzt, wo immer mehr Kriege drohen – kann man sich die Reaktionen der Öffentlichkeit lebhaft vorstellen:

Wenn die grüne Außenministerin zu hart war in ihren ideellen Forderungen, wird sie von Realisten, wenn sie aber zu machtmäßig auftrat, von Idealisten schwer gescholten. Sie kann es machen, wie sie will, sie kann es den gespaltenen Deutschen nicht recht machen.

Was hülfe? Allein die Klärung der Grundfragen: will Deutschland eine internationale Politik des Friedens und der nationalen Gleichwertigkeit betreiben – oder sich immer mehr der Sucht vieler Nationen ins Machtmäßige anschließen?

Das wäre die momentan zu beobachtende Regression zur Macht der Gewalt – oder der Zerfall der Gesellschaft nach rechts. Der wahre Grund des Rückfalls wäre nicht das Aufkommen kleingeistiger Racheparteien, sondern die Rück-Wendung ins Nationalistische und Vordemokratische.

Das Bewusstsein bestimmt das Sein, wer aber bestimmt das Bewusstsein?

Deutschland hasst die Welt der Gedanken. Wer hat schon Lust, sich mit seinen Gedanken herumzuschlagen, bis er weiß, was er will?

Da selbst Intellektuelle nicht mehr daran glauben, dass ein Kampf der Köpfe die Schlachten der Waffen und Maschinen beenden könnte, gibt es nur noch einige Jugendliche, die mit ihren kritischen Gedanken auf die Straße gehen, um – vergessen wir einen Augenblick das Kleben – die Politik der Nation zu beeinflussen. Man muss schon sehr glaubensstark sein, um die Chancen der Jugend als gut einzuschätzen.

Ist Deutschland noch immer gedankenreich und tatenarm, wie Hölderlin dichtete?

Keineswegs. Wir sind gedanken- und tatenarm geworden. Wir haben keine Denker und keine Täter. Überhaupt niemanden, der beides zugleich wäre.

Nicht als platonischer Zwangsbeglücker, sondern als selbstkritischer Wanderer auf dem Weg nach einem idealen Ziel, wenngleich stets im Bewusstsein, nur peu a peu im Kriechgang der „Stückwerkstechnologie“ voranzukommen.

Zwar warnt Popper vor einem unbewusst zur Gewalttat neigenden Kurs:

„Von besonderer Gefahr ist der Glaube an eine politische Utopie“ – um sich aber kurz danach eminent zu widersprechen:

„Eine Gestaltung unserer sozialen Umwelt mit dem Ziel des Friedens und der Gewaltlosigkeit ist nicht nur ein Traum. Sie ist eine mögliche und, vom biologischen Standpunkt aus, offenbar eine notwendige Zielsetzung für die Menschheit.“ (Alle Menschen sind Philosophen)

Schließlich darf man nicht vergessen: die Menschheit hat schon eine Menge auf dem Weg ins Gute gelernt.

A) Die Demokratie, B) die, wenn auch nur theoretische, Akzeptanz der Menschen- und Völkerrechte, der Beitritt zur UNO, C) die immer demokratischere Erziehung ihrer Jugend, die im Kontakt mit der Welt sich den ehemaligen Siegermächten des Westens immer weniger unterlegen fühlt, D) die kenntnisreiche Handhabung der KI, mit der sie sich immer gleichberechtigter fühlt mit den Genies des Westens.

Vor über 100 Jahren war Deutschland das Reich der Philosophen, die sich stritten um ein klares Pro oder Contra zur jeweiligen Staatsmacht.

Den Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit oder die Notwendigkeit realer Machtpolitik – trotz aller Konflikte mit humanen Idealen – nannten sie: Staatsraison, die Vernünftigkeit eines starken Staates, der sich im Wettbewerb der Nationen nicht einfach machtlos unterkriegen lässt.

Der Historiker Friedrich Meinecke hat diesem Thema ein ganzes Buch gewidmet: Die Idee der Staatsraison.

Er unterschied zwischen der Problemlösung der Antike und derjenigen des christlichen Abendlands.

„Das Sündertum der Antike war noch ein naives Sündertum und noch nicht erschreckt und beunruhigt durch die Kluft zwischen Himmel und Hölle, die das Christentum aufriss. Dies dualistische Weltbild des dogmatischen Christentums hat tief nachgewirkt auf die Zeiten eines undogmatisch werdenden Christentums und hat dem Probleme der Staatsraison eine so schwer empfundene Tragik gegeben, das es in der Antike nicht gehabt hat.“

Die Kluft zwischen realer und idealer Moral kann bei Heiden nicht so fulminant sein wie bei den Zweiweltengläubigen der Christen, deren Glaube an Gott auch ganz selbstverständlich den Glauben an den Teufel, Gottes Widersacher, mit einbezog.

Galt denn bei den siegreichen Christen die Formel Entweder-Oder?? Nein, galt auch hier nicht. Selbst der Teufel hat zweierlei Funktionen: den Widersacher – oder den Knecht Gottes zu spielen.

Als Knecht hat er die Politik Gottes zu unterstützen, das Böse wird sein Mittel, das Gute zu fördern. Nur wenn er als Widersacher auftritt, ist jedes Tun in seinem Gehorsam nicht zu vergeben.

„Thomas stellt die Sünde nicht so sehr in Gegensatz zur Liebe als vielmehr in deren Kontext. Sünde erweist sich sogar letzten Endes als ein Vollzug der Gottesliebe.“

In der Spätzeit des Mittelalters beginnt Machiavellis Staatsraison, die gerade in Deutschland einen überwältigenden Erfolg haben sollte. Sein Grundprinzip könnte man so formulieren:

„Ein Mensch nämlich, der es sich in allen Lagen zum Beruf machen wollte, gut zu sein, muss zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind. Darum ist es notwendig für einen Fürsten, der sich behaupten will, zu lernen, auch nicht gut zu sein und davon je nach der necessita (der Notwenigkeit) Gebrauch zu machen oder nicht.“

Hier beginnt die abendländische Tradition der Sünde, die bei Goethes Mephisto – noch nicht – enden wird: Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Schon bei Francis Bacon ist Wissen als Macht, die Absicht, mit Technik den Garten Eden wiederherzustellen, eine böse Tat, die als gute anerkannt werden will. Bei Mandeville sind private Laster öffentliche Tugenden. Übernommen werden sie von Adam Smith: nur, wer am besten für sich da ist, ist auch besten für andere da: die Tugendlehre des beginnenden Kapitalismus, der sich zugleich ethisch wie mechanisch perfekt fühlen durfte.

Für biedere Deutsche war das mehr eine List denn eine Tugend. Was Adam Smith fürs Geld, war Machiavelli für die Politik.

„An der allgemeinen Geltung von Religion, Moral und Recht hielt ja Machiavelli unbedingt fest. Selbst in dem bösartigsten Kapitel des Principe, dem 18., das den Vertragsbruch rechtfertigt und aussprach, dass der Fürst ….“oft gezwungen sei, gegen Treue, gegen Barmherzigkeit, gegen Menschlichkeit, gegen Religion zu handeln. Zugleich betonte er, dass der Fürste, wenn er es könne, sich nicht vom Wege des Guten entfernen solle, sondern nur verstehen müsse, in Zwangslagen auch auf das Böse einzugehen. Sehr schlimm war sein berüchtigter Rat, das der Fürst alle die guten moralischen Eigenschaften der Treue, Redlichkeit nicht notwendig zu haben brauche, wohl aber sie zu haben immer scheinen müsse. Er legitimierte damit den heuchlerischen Bösewicht auf dem Throne.“

Wir erinnern uns an eine deutsche Kanzlerin, die Weltmeisterin war im Darstellen guter Politik, während sie genau genommen dieselbe böse Politik betrieb wie andere. Auf die Show kam es eben an. Einmal die Flüchtlinge reinlassen, ansonsten sie den Fluten überlassen wie andere.

„Bei den Heiden hieß es:

„Euripides ließ in seinen Phönissen den Eteokles sprechen: „Wenn man denn Unrecht tun muss, so ist es schön, es zu tun um der Herrschaft willen; sonst aber muss man sittlich handeln.“

Selbst Sokrates, bekannt für sein Motto: Besser Unrecht erleiden denn Unrecht tun, hatte kein Problem, als einfacher Soldat in den Krieg zu ziehen. War das etwa ein unbeirrbarer Pazifismus?

Hätte Gandhi sich von jedem Straßenräuber potentiell erschlagen lassen, wie hätte er seine Volksbewegung zustande bringen können?

Neulich erlebten wir die deutsche Wiederauferstehung des studentischen Pazifismus. Jeder kann entscheiden, für sich ein Pazifist zu sein. Doch was ist mit Kindern und Angehörigen, die ebenfalls bedroht wären? Wär das nicht ein Pazifismus à la Mandeville: ein Laster wird zur Tugend, wenn man nur an seinen eigenen Vorteil denkt?

Adam Smith hat das private Laster zur öffentlichen Tugend erklärt. Ob auch das nur Etikettenschwindel war, um den neuen Kapitalismus zu fördern?

Wo wollen wir hin? Das Christentum ist kein „Manichäismus“, wo es nur das eindeutige Gute oder Böse gibt. Es ist eine Antinomie: Gott kann für das Gute und das Böse stehen, nicht anders als der Teufel. Etwas Eindeutiges gibt es nicht.

Wer etwas tut, kann eine Tugend vollbringen – wenn er es im Gehorsam Gottes tut. Tut er es nur für sich, ist er ein Bösewicht. Wer etwas im Namen Gottes tut, handelt heilig. Wer nicht, ist ein Teufel, auch wenn er die frömmsten Werke täte.

Diese verheerende Moral als willkürliche Verquickung von gut und böse hat das Abendland erobert und ist bis ins Dritte Reich gedrungen. In Himmlers Posener Rede vor seinen Schlächtern im KZ betont er: sie seien immer gut und redlich gewesen, wenn sie den Willen des Führers vollbracht hätten. Diese entsetzliche Selbstreinigung im Namen eines göttlichen Wesens will heute kein Deutscher mehr wahrhaben. Tugend und Untugend waren nicht mehr eindeutig zu definieren, sondern hingen ab von dem Willen eines Übermenschen.

Das sind längst nicht alle Aspekte des Themas. Wir müssen lernen, unsere Tugend und Untugend wieder einfach und scharf abgrenzbar zu definieren.

Ein Tun, das dem Fortschritt dient, an sich aber schrecklich ist (Oppenheimer), darf niemals mehr durch angeblich andere Vorteile rechtfertigt werden. Was gestern Gottes Wille war, ist heute Musks Vorteil? Automatisch gut und gerecht? Never!

Kein Mensch ist so perfekt, dass sein Egoismus immer perfekt wäre. Dennoch hat Adam Smith diesen moralisch-eitlen Kapitalismus zur Tugendlehre des Westens gekürt. Unter diesem Weißwascherprinzip hat sich der Kapitalismus zur Heilslehre des Abendlands entwickelt.

Und ist immer schuldlos, selbst wenn man in seinem Namen eine Unmenge an Menschen tötet. Hat der Massenmord an Indigenen nicht den großen Sieg der Abendländer in aller Welt beschert?

Marxens Zukunftsidylle hatte eine feministische Bedeutung:

„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Das ist der Kern des Marxismus. Das aber ist genau das, was jede gesunde Mutter sowieso an ihren Kindern praktiziert, bis sie vom Vater „aufgeklärt“ wird, dass der richtige Grundsatz heißen müsse: „Soviel Liebe, wie du verdienst, soviel Belohnung, wie du geleistet hast.“

Diese feministischen Grundsätze, in Politik verwandelt, würden die Welt auf den Kopf stellen. Der Geist der Liebe oder des Hasses bestimmt das Sein. Liebe im Namen der Philanthropie, wie sie etwa in der UN-Charta formuliert ist.

Wie weit ist unser Weg bis dorthin?

Fortsetzung folgt.